Globale Soziale Rechte und Lebensformen
Zwei Perspektiven auf eine komplizierte Beziehung
Eine ganze Reihe von Fragen, die sich für emanzipatorische Politik ohnehin stellen, werden unter der Überschrift Globale Soziale Rechte neu aufgegriffen und - mit Glück - pointiert noch einmal zugespitzt. Glücklich in diesem Sinne sind wir als Redaktion Fantômas, über den vor einigen Monaten erschienenen Beitrag von Iris Nowak in der ak. (1).
Denn der greift ein Thema auf, das Linke normalerweise gerne auch mal hintanstellen: Was wären im Vergleich zu den alltäglich wie medial vorherrschenden Idealbildern eines fleißig-flexiblen und zweigeschlechtlich fixierten Konsumentendaseins praktikable alternative Formen eines "guten Lebens"? In welchem Verhältnis stünden solche Alternativen zur Forderung nach Globalen Sozialen Rechten? Genauer:
Wie könnten letztere so gefasst werden, dass sie nicht einmal mehr dem vermeintlich "Privaten" im linken Begriffssortiment die Rolle des Ladenhüters zuweisen? Glück aber ist bekanntlich nicht dasselbe wie Harmonie, was wir hier in zwei Schritten bekräftigen: erstens mit dem gleich folgenden Beitrag, der die von Iris Nowak gestellten Fragen aufgreift, um auf sie eine eigene Antwort zu geben und zweitens, indem Iris ihrerseits auf diese Antwort antwortet.
Ein Gespräch in zwei Monologen also. Alles klar? Na denn.
Das Gute Leben ist unverfügbar
Von Stefanie Graefe
Iris, in deinem ak-Beitrag problematisierst du den Zusammenhang von Globalen Sozialen Rechten (GSR) mit der Frage, "wer wen liebt und was diese Liebe bedeutet [...], wer mit wem zusammenwohnen möchte und wie man Kinder am besten aufzieht" - kurz: die Frage nach dem Zusammenhang von einer Politik der Rechte mit einer "Politik der Lebensformen". Dieser Zusammenhang wird, so deine Kritik, in der aktuellen Diskussion um GSR vernachlässigt. Dabei sei da, wo von Rechten die Rede ist, immer auch normative Setzungen im Spiel. Wo allerdings "hierzu keine explizite Auseinandersetzung stattfindet, werden hegemoniale Vorstellungen gestärkt." So trage beispielsweise das Schweigen über Geschlechterverhältnisse seit jeher dazu bei, deren hierarchische Struktur zu stabilisieren. Die in bürgerlichen Gesellschaften konstitutive Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben werde so einmal mehr reproduziert. Das verschärfe sich noch vor dem Hintergrund einer neoliberalen Freiheitsideologie, die eine Vielfalt an Lebensformen nicht nur zulässt, sondern sogar propagiert - jedenfalls solange sich diese marktförmig verwerten lassen: "Jedes Verständnis von sozialen Rechten, das das Verhältnis zwischen öffentlich und privat (à) nicht als explizit politische Frage thematisiert", falle hinter den neoliberalen Freiheitsbegriff zurück. Denn: "Lebenswerte demokratisch gestaltete Lebensformen sind keine selbstverständliche Folge von Rechten innerhalb der Lohnarbeit oder dem Recht auf Grundeinkommen." Du forderst deshalb eine "Verknüpfung von einer Politik der Lebensformen mit gesellschaftlichen Produktions- und Gestaltungsprozessen" und damit auch eine Überarbeitung des Konzeptes der GSR. Dieses sollte die Einsichten und Erfahrungen derer in den Vordergrund stellen, "die alltägliche Bedürfnisbefriedigung heute in prekären Verhältnissen bereits organisieren und absichern."
Ich halte die Frage, die du in deinem Beitrag aufwirfst, für ausgesprochen zentral und deine Überlegungen dazu für sehr anregend. Sie fordern uns dazu auf, den Blick zu öffnen auf das,was auch in emanzipatorischen Konzepten immer noch und immer wieder aus dem Blickfeld fällt, obwohl und gerade weil es für jede Vorstellung einer "anderen Gesellschaft" grundlegend ist: die Organisation des alltäglichen sozialen Lebens und die darin implizierten Machtverhältnisse. Ich bin also absolut mit direiner Meinung, dass eine Diskussion dieses Zusammenhangseinen auch für das Projekt der GSR neuralgischen Punkt berührt. Letztlich stellst du mit deiner Kritik ja nicht mehr und nicht weniger als den emanzipatorischen Gehalt dieses Projektes in Frage. Doch auch wenn ich davon ausgehe, dass die von dir gestellten Fragen tatsächlich zentral sind, komme ich bei dem Versuch, sie zu beantworten, doch zu anderen Schlussfolgerungen als du.
Norm ist nicht gleich Norm
Dass in jeder Artikulation von Recht implizite Normsetzungen über ein "gutes" oder gar "lebenswertes" Leben enthalten sind, ist richtig. So enthält beispielsweise das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit die Vorstellung, dass es nicht wünschenswert sein kann, dass Menschen gefoltert werden - bzw. noch weitergehend die Vorstellung, dass ein unverletzter Körperzustand subjektiv und objektiv wünschenswerter ist als ein gewaltsam verletzter. Gleichzeitig aber sagt das Menschenrecht auf Unversehrtheit nichts darüber aus, was der durch das Recht vor Folter geschützte Mensch mit seiner Unversehrtheit nun tut oder lässt. Es schreibt ihm gerade nicht vor, wie er mit seinem Körper, seinen Empfindungen, seinem Selbstbild (also all dem, was im Akt der Folter zum Objekt der Gewalt wird) anstellen soll. Die Norm der Unversehrtheit präskribiert insofern kein "gutes Leben", sondern eine Bedingung dafür, dass Menschen ihr Leben nach ihren je eigenen Vorstellungen gestalten können.
Selbstverständlich ist in jeder Artikulation von Recht Normativität im Spiel. Doch das allein besagt noch nicht viel. Es kommt darauf an, die Normativität genauer zu bestimmen: Ist sie präskriptiv (schreibt sie uns vor, was sein soll)? Oder deskriptiv (beschreibt sie, welche Bedingungen notwendig sind, um eine freie Entfaltung von Lebensformen überhaupt erst möglich zu machen)? Natürlich ist die Unterscheidung zwischen präskriptiv und deskriptiv im Konkreten niemals einfach. Das heißt aber nicht, dass sie falsch wäre.
Emanzipatorische Rechtskonzepte wie das der GSR sind notwendig deskriptiv: Sie stellen fest, welche Bedingungen Menschen an der freien Entfaltung ihrer selbst als Einzelne wie als Menge der Vielen hindern (etwa, wenn Menschen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit der Zugang zu Rechten und Ressourcen verbaut ist oder wenn Menschen durch Prekarisierung soziale Teilhabe unmöglich wird). Präskriptiv sollten sie jedoch so wenig wie möglich sein (etwa in dem Sinne, dass sie festlegen, was eine Person mit der globalen Bewegungsfreiheit am besten anstellt). Warum? Weil jede positive Bestimmung des "richtigen Lebens" oder der "guten Lebensführung" notwendig die Ausschließung der - wie auch immer definierten - weniger richtigen Lebensformen einschließt. Darauf verweist sprachlich übrigens kaum ein Begriff so eindeutig wie der des "lebenswerten Lebens" - nicht zufällig dient er seit mehr als hundert Jahren u.a. für die Legitimation staatlicher Euthanasie in ihren verschiedenen historischen Erscheinungsformen.
Eine Schließung von Möglichkeiten aber kann nicht Sinn und Zweck einer emanzipatorischen Konzeption von Rechten sein. Die Frage lautet daher nicht: Wie können wir GSR so artikulieren, dass sie besonders "lebenswerte Lebensformen" schützen, fördern oder propagieren? Sondern: Welche Bedingungen sind es eigentlich, die Menschen aller Geschlechter und Herkünfte am ehesten in die Lage versetzen, ihre Lebensformen selbstbestimmt zu gestalten und zu verändern?
Recht ist nicht gleich Bedürfnis
Eine der im Konzept der GSR in diesem Sinne artikulierten basics ist das Recht auf bedingungslose Existenzsicherung aller Menschen in allen Lebensphasen. Solange z.B. Frauen mit kleinen Kindern zuhause bleiben, weil das Geld für die Familie sonst nicht reicht, solange sind sie in der Wahl ihrer Lebensführung absolut nicht frei. Das Recht auf unbeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung und Gesundheitsversorgung schließt deshalb notwendig auch das Recht auf garantierte und gesellschaftlich organisierte Kinderbetreuung und Pflege ein. Nicht erst die Durchsetzung, schon die gesellschaftliche Anerkennung dieser Rechte würde bereits einiges in Bewegung bringen, auch in Bezug auf die hegemonialen Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit, Männlichkeit, aber auch Schönheit, Gesundheit, Attraktivität. Die allgemeine Anerkenntnis der Tatsache, dass eine umfassende Existenzsicherung unabhängig vom Erwerbseinkommen ein Recht ist, das allen Menschen ausnahmslos zusteht (also auch allen Kindern, Alten, Versehrten), wäre - gemessen an den derzeitigen Realitäten - ein enormer emanzipatorischer Fortschritt. Selbstverständlich wird dann im Konkreten darum gerungen werden müssen, was "umfassend" genau bedeutet. Das vorab bis ins Letzte auszuformulieren, kann nicht Aufgabe einer Konzeption sozialer Rechte sein. Die hat vielmehr die Aufgabe, einen gesellschaftlichen Bewusstseinsraum zu öffnen, in dem die dann möglichen politischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung möglichst Vieler geführt werden können.
Kein Recht der Welt kann garantieren, dass sich die Subjekte dieses Rechts dann in einem wie auch immer definierten Sinn für "alternativere" Lebensformen entscheiden. Kein Kollektiv kann darüber entscheiden, was die ihm zugehörigen Individuen glücklich macht. Anders als du, Iris, glaube ich, dass zwischen Rechten und Bedürfnissen deshalb bei allen Querverbindungen eine unhintergehbare qualitative Differenz vorliegt, die - glücklicherweise! - nicht qua Verknüpfung des einen mit dem anderen behoben werden kann und sollte. Es gibt kein Recht darauf, dass mein Bedürfnis nach Liebe befriedigt wird. Wohl aber eines darauf, dass meine Existenz nicht davon abhängt, in dieser oder jener Form der Lebensgemeinschaft zu leben. Genau darin liegt aus meiner Sicht der Gewinn des Projektes GSR: dass es den Fokus darauf, "was gut und richtig ist" verschiebt zum Fokus darauf, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit alle für sich und gemeinsam tatsächlich ihr jeweiliges Glück suchen, finden, verlieren und wieder neu suchen können. Was den Neoliberalismus und die von ihm propagierte Freiheit angeht, brauchen die GSR aus meiner Sicht übrigens keine Sorge zu haben, nicht "auf Augenhöhe" zu sein. Freiheit im Neoliberalismus zeigt sich nur vordergründig als Vielfalt, tatsächlich ist sie ausgesprochen eindimensional konzipiert: Frei ist, was und wer sich verwerten lässt. Die Forderung nach bedingungsloser Existenzsicherung, nicht, weil der Markt dann besser funktioniert oder weil der "soziale Frieden" ansonsten bedroht ist, sondern schlicht und einfach, weil wir Menschen sind und uns dieses Recht unabhängig vom aktuellen Stand der Konjunktur unzweifelhaft zusteht, stellt genau diese einzige Kernaussage des neoliberalen Programms vom Kopf auf die Füße. Sie zielt zudem keineswegs bloß auf den Bereich der Lohnarbeit oder der Öffentlichkeit, sondern stellt ganz im Gegenteil diese Aufteilung in Erwerbs- und Reproduktionssphäre in Frage. Es handelt sich deshalb um eine sehr viel radikalere Infragestellung des neoliberalen Freiheitsbegriffs als jede allgemeine Anrufung alternativer Lebensformen - die ist als solche nämlich in der Tat äußerst kompatibel mit dem neoliberalen Individualisierungsmythos.
Politik ist nicht gleich "gutes Leben"
Wenn ich auf der Differenz zwischen Recht und Bedürfnis und damit letztlich auch auf der zwischen Politik und gutem Leben bestehe - heißt das, dass ich doch einen Raum des Privaten denke, der vom Politischen zu trennen wäre? Aus meiner Sicht ist die Frage so nicht richtig gestellt. Die Teilung zwischen privat und politisch im uns bekannten Sinne ist gesellschaftlich hervorgebracht und damit wie so vieles historisch kontingent, und das heißt, dass sie umstritten, hinterfragbar und veränderbar ist. Allein dass sie das ist, zeigt schon ihren eminent politischen Charakter. Die Aussage "das Private ist politisch" ist deshalb ebenso offenkundig richtig wie die Tatsache, dass Schimmel weiß sind.
Wohl aber gehe ich davon aus, dass es Dimensionen des Menschlichen gibt, die sich einer Verrechtlichung sperren. Dimensionen, die nicht exakt definierbar und folglich auch auf keine imaginäre Privatsphäre reduzierbar sind. Keiner sozialen Instanz gegenüber möchte ich begründungspflichtig sein, warum und wie ich jemanden liebe oder mit wem ich wohne. Kein Kollektiv kann für mich entscheiden, ob ich meine demenzkranke Mutter zu Hause pflege oder in öffentliche Pflege gebe. Damit behaupte ich nicht, meine eigenen diesbezüglichen Entscheidungen wären "ganz privat" oder gar "unpolitisch". Sie sind von gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Entscheidungen beeinflusst, sie haben ihrerseits (allerdings im Ausmaß weit weniger) politische Effekte. Es handelt sich trotzdem um Entscheidungen, die mich in meiner existenziellen Singularität betreffen und sind insofern in letzter Instanz für jedes Kollektiv unverfügbar.
Die unscharfe Wendung "existenzielle Singularität" reflektiert nicht, dass es diesen Bereich des Unverfügbaren nicht gibt, sondern bestätigt ganz im Gegenteil seine Existenz. Das heißt: Gerade weil ich ihn nicht exakt definieren kann, gerade deshalb kann und darf er nicht normativ festgeschrieben werden. Denn dadurch würde er als das, was er ist, ausgelöscht.
Und: Dieser "Bereich des Unverfügbaren" ist nichts, was die einen mehr und die anderen weniger (die Frauen mehr als die Männer, die Prekären mehr als die Abgesicherten, die MigrantInnen mehr als die Sesshaften) "haben". Er ist Teil jeder menschlichen Existenz. Was es aber gibt, sind vielfältige Machtverhältnisse, die diesen Bereich strukturieren und die einen mehr in der Sorge um ihn binden (und darin zugleich gesellschaftlich abwerten) als die anderen. Soziale Rechte zu fordern, heißt, die Reichweite dieser äußerst wirksamen Machtstrukturen im Bereich des vermeintlich Privaten weitestmöglich begrenzen zu wollen; etwa, indem der Zugang zu tragfähigen öffentlichen Strukturen der Versorgung, Erziehung und Pflege als Grundrecht aller und jeder/s Einzelnen "normiert" wird - nicht aber, den einen mehr Definitionsmacht als den anderen zuzuweisen.
Entwirft man GSR als paradoxerweise ebenso utopische (gemessen an den realen Verhältnissen) wie der Struktur nach "bescheidene" Artikulation emanzipatorischer Politik, also als radikale Mindeststandards gesellschaftlicher Gerechtigkeit, dann betont dieser Entwurf - und das ist aus meiner Sicht sein größter Gewinn - die im Begriff des Unverfügbaren nur besonders deutlich sichtbar werdende Aporie (ohne fälschlicherweise zu behaupten, sie ließe sich auflösen): Leben ist letztlich nicht normierbar - und eben dies muss normativ bejaht werden. Aus einer solchen Perspektive erscheint das "gute Leben" als veränderliches Schema, als Umriss am Horizont, aber es sperrt sich jeder exakten Kategorisierung und damit erst recht einer (der Struktur nach) positiven binären Entscheidung. Folglich präskribieren GSR kein "lebenswertes Leben", sondern artikulieren die Bedingungen dafür, dass Menschen ihr alltägliches Leben möglichst selbstbestimmt gestalten und - in welcher Form auch immer - zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung machen. Eine solche Konzeption von GSR kommt also der Aufforderung gerade nicht nach, die Konzeption der Rechte mit der Politik der Lebensform zu verknüpfen, sondern hält beide Dimensionen emanzipatorischer Praxis auf Augenhöhe in einer Art solidarischen Distanz zueinander.
Stefanie Graefe ist Redakteurin von Fantômas. Zuletzt erschien von ihr: "Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe", Frankfurt/Main 2007 (Campus).
Anmerkung:
1) Iris Nowak: Recht auf Bedürfnisbefriedigung - durch wen? Globale soziale Rechte und alternative Lebensformen, ak 524, http://www.akweb.de/ak_s/ak524/10.htm
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