Samstag, 28. Mai 2011

Andreas Exner: Kämpfe um Land #Gut #eben im #post-fossilen #Zeitalter* [Grundrisse - Heft 38]

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Andreas Exner: Kämpfe um Land


Gut leben im post-fossilen Zeitalter
*

Wer erinnert sich noch an die gute alte Zeit der hohen und
sicheren wirtschaftlichen Wachstumsraten, eines beständigen Ausbaus von
Sozialleistungen, des freien Hochschulzugangs? Wer hat noch die Zeit im
Gedächtnis, als man sich um einen Arbeitsplatz keine Sorgen machen musste, und
wenn man doch keinen hatte, so jedenfalls nicht wegen des Arbeitsamts. „Stempeln
gehen“, das war nicht mehr als ein kurzer Besuch ohne Folgen.

„Schon zehn Tage Glück“

Und wer erinnert sich noch an 1968, als viele eine
Gesellschaft kritisierten, die genau dies bereit hielt: sichere Arbeitsplätze,
Sozialleistungen, Wirtschaftswachstum – und doch so viel Unglück produzierte.
Oder gerade deshalb. „Arbeitet nie“, „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ und
„Verbietet das verbieten“, so lauteten die Parolen der Studierenden in
Frankreich. Sie wollten eine Welt gewinnen, für sich und alle anderen, anstatt
in einem Büro der Produktionsmaschinerie unter konsumistischer Narkose noch vor
der Zeit zu enden. „Schon zehn Tage Glück“, schrieb jemand an die Mauer der
besetzten Sorbonne.

Arbeiter*innen erkannten im Funken, der 1968 an den Pariser
Universitäten aufglühte, ihre eigene Leidenschaft für ein Leben, das so viel
besser sein konnte. Etwa bei Renault: „Als Arbeiter sollten wir selbst danach
streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. … Die Verwaltung der
Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf
demokratischem Weg sichergestellt werden.“ Selbst eine Gruppe, die selten durch
Rebellionen auffällt, proklamierte: „Wir Fußballer, Angehörige verschiedener
Clubs der Pariser Region, haben beschlossen, heute den Sitz der französischen
Fußballföderation zu besetzen. … Um den 600.000 französischen Fußballern und
ihren Millionen Freunden das zurückzugeben, was ihnen gehört: Den Fußball, den
die Bonzen ihnen abgenommen haben, um ihren eigennützigen Interessen als
Profitschöpfer des Sports zu dienen…“[1]

Ganz Italien war die 1970er Jahre über in Aufruhr, die USA
erlebten einen Exodus ihrer Jugend: nach Indien, in die Kommunen, in Experimente
mit Musik und neuen Lebensweisen. Dieser ungeheure Aufbruch, diese Bewegung in
eine frische Zukunft zerbrach mit einem Schlag Ende der 1970er Jahre. Die
eiserne Faust des Staates sperrte jene, die der Lebensdurst am stärksten
antrieb, ins Gefängnis, anderswo, in Chile etwa, hatte sie schon früher Tod und
Verderben über die Erneuerung gebracht, die am Horizont erblüht war. Als die
US-amerikanische Zentralbank 1979 die Leitzinsen mit einem Schlag erhöhte, um
die prekär gewordene Machtposition der USA zu sichern, schnellten auch die
Arbeitslosenzahlen empor. Die Gewerkschaften scheuten sich im Verlauf der 1970er
Jahre immer weniger, für die Belange der Lohnabhängigen einzutreten. Die
Angriffe von Reagan und Thatcher zerbrachen sie und damit einen Damm gegen die
neoliberale Flutwelle. Seither geht’s bergab, jedenfalls was den Zugang der
breiten Mehrheit zu den Gütern und Diensten der Gesellschaft angeht.

Die Hoffnung, die in „zehn Tagen Glück“ gewachsen war,
wurde von einer Gesellschaft zermalmt, die nichts zulässt als Profit: Geldmachen
um des Geldmachens, Kaufen um des Kaufens willen. Vor diesem Gebot verblasst
jede menschliche Sehnsucht: nach Liebe, Freiheit, Ungezwungenheit. Unsere
Gegenwart ist stattdessen von Schrecknissen beschlagnahmt. Wie ein Fluch lastet
der Lauf der Dinge, die wir machen, auf uns. Wir hasten von Anpassung zu
Anpassung: an den Klimawandel, die Krise der Finanz, den Arbeitsmarkt, an das
stumme Bewusstsein all der Todesgefahren, denen unsere so genannte Zivilisation
uns aussetzt. Und es ist nie genug.

Musik und Müll

Das Festival in Woodstock 1968 gerann zum Symbol für den
unbändigen Drang nach Glück, nach weit mehr als lediglich zehn Tagen. Dieser
Drang war kraftvoll, euphorisch, wie der Einbruch der Sonne in die Dunkelheit
eines Verließes. Und doch trug dieser Drang seinen eigenen Hemmschuh in sich.
Das dreitägige Fest der Musik war eines der ersten, das hätte Profit ziehen
sollen aus der überreichen Kultur der Hippies, die Geld häufig für eine ziemlich
verrückte Idee und freies Wohnen, Essen und Genießen für selbstverständlich
hielten. Woodstock, von drei jungen Leuten organisiert, die eigentlich Bares
sehen wollten, wurde von der Menge, die nicht akzeptierte, für „ihr Fest“
plötzlich zahlen zu sollen, gestürmt und daher wider Willen gratis.

Doch auch das Leben der Hippies selbst war von einem
Widerspruch durchzogen. Am Ende der drei Tage Love and Happiness stand nämlich
die Tristesse eines ungeheuren Müllplatzes. Zu den Klängen eines Gitarristen,
der einen unsagbar traurigen Blues intonierte, waren Berge von Decken, Kleidung,
Hausrat und Verpackungen zu sehen, zurückgelassen von den Konzertbesucher*innen,
die eben noch nackt und im Schlamm, in Zelten im Wald und beim Liebemachen auf
der Wiese wie ein neuer Stamm von Kindern Gottes angemutet hatten. Doch waren
sie mit Autos angereist, die Erdöl brauchten, lebten von den Produkten und
Freiräumen einer Gesellschaft, die auf fossile Ressourcen angewiesen war. Eine
innovative Wirtschaftsweise, die wirklich neue Wege aufgezeigt hätte, scheiterte
schon am ersten Winter in den Landkommunen des US-amerikanischen Westens und an
den Schlagstöcken der Polizei.

Oberirdische Verwerfung, unterirdische Erschöpfung

1971, drei Jahre nach dem Aufbruch des Pariser Mai, vier
Jahre nach dem „Summer of Love“ an der West Coast, war ein bedeutsames Jahr.
Häufig erkennen Zeitgenoss*innen nicht sofort die Tragweite eines Ereignisses.
Manchmal sogar erst Jahrzehnte später. Die Bewegung, die 1968 ihren Anfang nahm
und die nur der Neoliberalismus einfangen und bremsen konnte, ist weit
bedeutsamer als gemeinhin angenommen. Fast zeitgleich zu den Verschiebungen im
gesellschaftlichen Gefüge der Hierarchien und Normen ereignete sich jedoch auch
unterirdisch eine Veränderung, die weniger bekannt ist: Die USA erreichten Peak
Oil, den Höhepunkt der Ölförderung auf ihrem Territorium. Sie sind seither zu
wachsender militärischer Intervention gezwungen um ihre wichtigste Ressource,
Erdöl, zu sichern. Damit setzte auch der Verfall ihres Status als Supermacht
ein, den die zunehmenden weltwirtschaftlichen Probleme, die bereits 1973 in die
Auflösung der bis dahin geltenden relativ stabilen Weltwirtschaftsordnung
mündeten, nur verstärkten, ebenso wie der Krieg gegen Vietnam.

Der globale Peak Oil wurde höchstwahrscheinlich 2008
erreicht. Anders als die USA Anfang der 1970er Jahre hat die Wachstumswirtschaft
nun keinen neuen Riesenquellhahn mehr parat. Während die Lebensqualität seit
dieser Zeit, wie alternative Wohlstandsindikatoren illustrieren, selbst im
globalen Norden nicht mehr gestiegen, teilweise sogar gesunken ist, wuchs der
Warenkonsum ungeheuer. Die kapitalistische Wirtschaftsweise, deren Profitjagd,
von der Konkurrenz erzwungen, letztlich alles bestimmt, was in der Gesellschaft
geschieht oder nicht geschieht, kann damit nicht umgehen.

Seit den 1980er Jahren wurden Sozialleistungen abgebaut,
die Reallöhne gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil
eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, wie die 68er*innen sie
angezielt hatten, für immer ausgelöscht werden sollte. Deshalb erinnern wir uns
der guten alten Zeit wie an einen längst vergangenen Traum. Und noch stärker
verschüttet ist die Erinnerung an die 68er*innen selbst, die etwas anderes
wollten als einen sicheren Job, nämlich ihr Leben gemeinsam selbst in die Hand
nehmen. Unfassbar.

Seit 2008 werden Sozialleistungen abgebaut, Reallöhne
gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil eine Alternative
zur kapitalistischen Wirtschaftsweise unumgänglich geworden ist. Sie soll
verhindert werden oder in eine Fortführung der Herrschaft von Menschen über
Menschen unter anderen Vorzeichen umgebogen, und das um buchstäblich jeden
Preis. Denn das Kapital braucht Erdöl, Erdgas, Kohle – oder Atomkraft – mit den
erneuerbaren Energien hat es seine Schwierigkeiten: ihr Aufkommen schwankt, sie
sind nicht leicht zu speichern und zudem teuer. Daher kommt der Zwang zum
Wachstum, der den Kapitalismus auszeichnet, erst voll zur Geltung, sofern es
billige Energieträger gibt, die in ständig erweitertem Ausmaß nachgeliefert
werden. Nach Peak Oil wird Energie teurer und schließlich knapp: es ist nicht
genug für alle Konsumansprüche da. Vor allem nicht für den Konsumanspruch des
Kapitals, das für weiteres Wachstum auch mehr Energie benötigt.

Woodstock in Ägypten

Nachdem der „unterirdische Wald“ des Erdöls, das ja über
lange Zeiträume eingefangenes Sonnenlicht darstellt, von dem wir eine historisch
extrem kurze Zeit lang zehren, indem wir es verbrennen, quasi zur Hälfte
abgeholzt worden ist, kommt nun der „oberirdische Wald“ an die Reihe, und zwar
wortwörtlich. Die Landfläche wird erneut entscheidend. Man braucht wieder
Biomasse, jetzt allerdings nicht vorrangig um Häuser zu beheizen, sondern um
Millionen und Abermillionen von Autotanks zu befüllen, die das Leben in den
wachsenden Städten dieser Erde zum tödlichen Parcours, zumindest aber zu einem
lärmenden Stressinferno machen und ganze Landschaften mit ziellosen
Asphaltgeraden zerstückeln. Eine auch nur annähernd vollständige Deckung des
Bedarfs dieser Flotte mit biogenen Kraftstoffen ist unmöglich. Allerdings hält
das die Staaten und Wirtschaftslobbyisten des globalen Nordens nicht davon ab,
Mais, Zuckerrohr, Palmöl oder Soja für den Tank der reichen Konsument*innen
statt für den Teller der wachsenden Zahl an Hungernden vorzusehen.

Kämpfe um Land setzen ein, wenn sich die Grenzen der
systematischen Maßlosigkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise hart bemerkbar
machen. So hart, dass die Luxusansprüche der einen, mit gutem Gewissen weiter
Auto zu fahren, den Klimawandel zu bremsen und dennoch zu prosperieren, sich
ökologisch zu präsentieren und gleichzeitig Profite zu machen, die
Überlebensansprüche der anderen durchstreichen. Sie bekommen von einem Tag auf
den nächsten nichts Essbares mehr in den Magen. Dabei ist „Land“ im Doppelsinn
zu verstehen: einerseits als handgreifliche Fläche, andererseits als die
Früchte, die ihr entsprießen und die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
vom Markt oder vom Staat verteilt werden. Denn um die Früchte und deren
Verteilung geht es. Sie ist in einer Klassengesellschaft umkämpft.

Menschen, die lange hungern, wehren sich kaum noch.
Menschen, die wenigstens einigermaßen ausreichende Nahrung gewohnt sind jedoch
revoltieren, wenn der Preis ihrer Existenz, also das, was sie für Nahrungsmittel
zahlen müssen, mit einem Mal in den Himmel ungeahnter Vermögenszuwächse schießt,
während sie sich dem Abgrund des Hungers gegenübersehen. Die Unruhen in der
arabischen Welt sind nicht zuletzt dem Anstieg der Lebenshaltungskosten in den
letzten Jahren geschuldet. Steigende Energiepreise brachten nicht nur das
Kapital und sein Wachstum in Bedrängnis, sondern schlugen sich auch auf die
Kosten der modernen Landwirtschaft, die Energie fossiler Herkunft in großem Maß
verschlingt. Schon seit Längerem war in Ägypten der Widerstand gegen die
Ausbeutung in den Betrieben und die Repression des Staates angewachsen,
allerdings brachten die steigenden Nahrungsmittelpreise das Fass zum Überlaufen.

Die Revolte kondensierte am Tahrir-Platz. Die
Kommentator*innen waren ratlos. Man sprach von Machtvakuum. Man zeigte sich
erstaunt über die Fähigkeit der Ägypter*innen, sich selbst zu organisieren. Eine
Journalistin auf Al Jazeera rotierte um die Führer, die es nicht mehr gab und
die Führer, die westliche Führer gerne hätten. Ja, wo waren sie, die Führer?
Neben Machtvakuum war Woodstock das zweite Wort, das auf Al Jazeera die Runde
machte. Jemand twitterte: die Leute am Tahrir-Platz helfen einander, jemand
bringt Brot und verteilt es, eine unglaubliche Atmosphäre der Verbundenheit, es
ist Woodstock in Ägypten.

Westliche Medien waren rasch bei der Hand mit einer
Deutung: es gehe um Demokratie. Davon war freilich in den Aussagen der
Revoltierenden selbst nichts zu hören. Sie wollten vom Staat in Ruhe gelassen
werden, keine Gebühren mehr für Bildung zahlen, endlich ein gutes
Gesundheitswesen. Demokratie? Darum ging es, in dem Sinn jedenfalls, dass
Menschen ihre Stimme bei einer Wahl abgeben, sicher nicht. Es war der Drang nach
Freiheit, der sich äußerte. Auch das ägyptische Woodstock freilich ist von einem
Widerspruch geprägt. Wie schon die 68er*innen vor ihnen orientieren sie sich an
den trügerischen Verheißungen des fossilen Zeitalters. Auch eine demokratische
Regierung wird Ölquellen nicht mehr zum Sprudeln bringen. Ägypten, welch Zufall,
erreichte seinen Peak Oil 1995. Noch in den 1960er Jahren Selbstversorger bei
Nahrungsmitteln, muss es inzwischen nicht nur Öl, sondern auch Nahrung
importieren. Die Armut wuchs und ebenso der Schuldenstand.

Wie kommt man nach Woodstock ohne Auto?

Die Unruhe in Ägypten, selbst durch den Umsturz in Tunesien
angefacht, hat weitere Revolten in anderen arabischen Ländern ausgelöst. Zwar
ist der Ausgang der jüngsten Welle der Rebellion noch ungewiss. Eines jedoch ist
klar: Wenn Erdöl knapp wird, Energie und Nahrungsmittel sich verteuern, kommen
die Regime im Mittleren Osten in Bedrängnis. Was wenigen klar ist: dies gilt
auch für allfällige demokratische Nachfolgeregierungen. Damit müssen früher oder
später auch die USA und die EU erneut durch die Macht des Faktischen erkennen:
sie befinden sich in einer Sackgasse fossiler Außenabhängigkeit.

Der Ruf nach Befreiung ertönt wieder lauter. Er muss erst
noch die ihm entsprechenden Instrumente, Melodien finden um sich orchestrierend
auszudehnen. Der undifferenzierte Schrei der Vielen, der Zorn gegen ein Leben,
das unterdrückt und in Angst und Sorge gestürzt wird, das so viele Potenziale
unrealisiert verkommen lässt und der sich in den Revolten ausdrückt, öffnet erst
einmal einen Raum für etwas Neues. Dieses Neue entsteht schon dort, wo die
Vielen sich versammeln, am Tahrir-Platz etwa, der wie ein großes Gemeingut
wirkte, ein Raum wechselseitiger Unterstützung, aufgebaut in Solidarität gegen
die Herrschenden. Ebenso in den vielen feinen Kanälen des alltäglichen Lebens
und der Lösung seiner Probleme in einer Situation, wo die Ordnung der Herrschaft
in Unordnung gerät und sich daher eine andere Ordnung der Solidarität
herausbilden kann.

Die Kämpfe um Land werden nicht nur in Ägypten, sondern
ebenso im Widerstand gegen die globale Landnahme fühlbar, die 2008 eingesetzt
hat um Nahrung und Bio-Energie für den Norden und die Schwellenländer, aber auch
den Mittleren Osten, zu sichern. Auch dort geht es um Gemeingüter an Land, die
etwa in Afrika noch große Flächen einnehmen und in Gemeinschaft verteidigt
werden. Und auch dort entstehen vorderhand einmal Fragen, die erst Antworten
finden müssen. – Stell Dir vor, es gibt Woodstock und keine Autos fahren
dorthin.

E-Mail: andreas.exner@aon.at


*) Dieser Text ist ein Auszug aus der Einleitung von
„Kämpfe um Land. Gutes Leben im post-fossilen Zeitalter“ (hg. von A. Exner, P.
Fleissner, L. Kranzl und W. Zittel). Der Band wird im Herbst 2011 in der Edition
kritik & utopie beim Wiener mandelbaum verlag erscheinen. Er basiert auf einem
Forschungsprojekt des Österreichischen


Klima- und Energiefonds (KLIEN), dessen Berichte auf
www.umweltbuero-


klagenfurt.at/sos einsehbar sind.

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