Democracia Real Ya! Die verlorene Generation empört sich [Nachdenkseiten]
Europa steht ein heißer Sommer bevor. Aus Protest gegen die Sparmaßnahmen der Regierung und die verheerende sozioökonomische Lage begehrt Spaniens Jugend auf.
Seit dem 15. Mai demonstrieren (http://www.spanishrevolution.eu/records/) in über 50 spanischen Städten hunderttausende Menschen auf den zentralen Plätzen.
Madrids Puerta del Sol (http://periodismohumano.com/sociedad/en-directo-desde-acampadasol-en-madrid.html) wird dabei immer mehr zum europäischen Pendant des Tahir-Platzes in Kairo tausende meist junge Menschen campieren friedlich und werden von einer breiten Welle der Solidarität getragen.
In dieser Woche ist die "Democracia Real Ya!" (Echte Demokratie jetzt!) das Thema Nummer Eins in den sozialen Netzwerken, während die klassischen Medien es weitestgehend ignorieren und totschweigen. Sollte die Solidarisierungswelle anhalten, könnte dies der Funke sein, um europaweite Sozial- und Demokratieproteste auszulösen. Von Jens Berger Spaniens Jugend fühlt sich ihrer Zukunft beraubt. In keinem anderen Land ist die Jugendarbeitslosigkeit höher. Nach offiziellen Zahlen finden 40% aller jungen Spanier keine Arbeitsstelle. Diejenigen, die in Lohn und Brot stehen, sind meist in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig, die hierzulande mit dem Begriff "Generation Praktikum" umschrieben werden und von deren Bezahlung man sich kein menschenwürdiges Leben leisten, geschweige denn für die Zukunft planen oder gar eine Familie gründen kann. Die sozioökonomische Situation der spanischen Jugend war schon vor der Finanz- und Wirtschaftskrise katastrophal, die Krise hat sie noch weiter verschlimmert und vor allem jede Hoffnung auf Besserung schwinden lassen. Die konkreten Folgen dieser Missstände sind jedoch keinesfalls auf die junge Generation beschränkt. Da das spanische Sozialsystem zu den schlechtesten Europas zählt, müssen die Eltern der verlorenen Generation im Regelfall ihre erwachsenen Kinder dauerhaft unterstützen. So ist es in Spanien vollkommen normal, dass junge Erwachsene dauerhaft bei ihren Eltern wohnen, da sie sich trotz Vollzeitstelle noch nicht einmal eine Wohnung leisten können. Diese Probleme sind nicht neu und die Spanier haben sich in einer Mischung aus Apathie und Angst vor Veränderung mit ihnen arrangiert. Dies ist auch eine Folge der Franco-Ära. Die relativ junge Demokratie gilt vor allem vielen älteren Spaniern immer noch als fragil Kritik an ihr, so die Befürchtung, die regelmäßig durch Politiker der beiden großen Parteien genährt wird, stärke letztlich nur die faschistischen und anti-republikanischen Kräfte. Durch die dramatischen Folgen der Krise gerät diese Drohkulisse jedoch in den Hintergrund. Spanien wurde von der Finanz- und Wirtschaftskrise wie kaum ein anderes Land getroffen. 2,4 Millionen Spanier verloren zwischen 2007 und 2009 ihren Job, die offizielle Arbeitslosigkeit stieg um elf Prozentpunkte auf 21,3% beide Werte sind mit Abstand die höchsten in der EU. Dies hatte zur Folge, dass auch viele Spanier der Elterngeneration plötzlich ihren Job verloren, die Unterstützung ihrer Kinder einstellen mussten und sich in vielen Fällen die Hypotheken für ihr Haus oder ihre Wohnung nicht mehr leisten konnten. Das neoliberale spanische Modell ist gescheitert, die Mittelschicht bricht auf breiter Front weg und die Politik vermag es nicht, eine glaubwürdige Alternative zu bieten. Spanien ist durch ein Zweiparteiensystem gekennzeichnet, in dem sich die "sozialistische" PSOE und die "konservative" PP nur in Nuancen unterscheiden und voll und ganz hinter den neoliberalen Dogmen stehen, deren politische Umsetzung zu den prekären Verhältnissen geführt haben. Spanien steckt in der tiefsten Krise seiner jüngeren Geschichte und die Politik hat nur eine Antwort: die Dosierung der gescheiterten Rezeptur zu erhöhen. Spanien leidet nicht nur unter einer Wirtschaftskrise, sondern auch unter einer tiefen Krise der Demokratie und des Vertrauens in die Institutionen. Es ist daher auch keinesfalls überraschend, dass der Protest gegen dieses System nicht aus dem System selbst, sondern spontan und unorganisiert aus dem Netz kommt. Formal ist "Democracia Real Ya!" zwar ein loses Bündnis aus mehr als 200 Gruppierungen; seine Mobilisierungskraft kommt aber aus den sozialen Netzwerken. Die Proteste wurden und werden über Facebook, Twitter und Blogs organisiert, koordiniert und kommuniziert. Zum ersten Mal in der Geschichte des Netzes kann man mit Fug und Recht von einer "Facebook-Protestbewegung" sprechen, der es gelang, ihr Mobilisierungspotential auch auf die Straße zu bringen. "Democracia Real Ya!" ist zwar eine spanische Bewegung, ihre Kritik trifft jedoch mit Abstrichen genauso gut auf ganz Europa zu. Zu den Forderungen gehört nicht nur der Anspruch auf Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen, sondern auch der Anspruch auf politische Teilhabe, eine Reform des Wirtschaftssystems, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und vor allem die Forderung nach einer Zukunftsperspektive. In all diesen Punkten haben nicht nur die etablierten Parteien, sondern auch große Teile der gesellschaftlichen Kräfte europaweit auf ganzer Linie versagt. "Democracia Real Ya!" betrifft somit ganz Europa und erreicht dies durch das Netz auch.
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen