Donnerstag, 30. Dezember 2010

#Kapitalismus, #Marktwirtschaft und #Staat (Nachdenkseiten)

 
 


Kapitalismus, Marktwirtschaft und Staat

Ein anregender Beitrag von Dr. Hans Bleibinhaus, München.

Er ist Diplom-Volkswirt und hat vielerlei Erfahrungen als Mitarbeiter der Stadt München gesammelt.

Albrecht Müller


 


Kapitalismus


Das besondere am kapitalistischen System ist seine eindeutige und rechenbare Zielsetzung: die Maximierung des Gewinns in einer bestimmten Periode.

Je nach Geschäftsgrundlage ist diese mal länger, mal kürzer: Geschäfte und Gewinne, die umfangreiche Investitionen, etwa den Bau von Fabriken, zur Voraussetzung haben, werden in der Regel langfristig geplant. Wertpapierspekulationen sind oft Tages-, ja Minutengeschäfte.
Diese eindeutige und in Rechengrößen ausdrückbare Zielsetzung ist ein großer Vorteil gegenüber anderen Wirtschaftssystemen, in deren vergleichsweise komplexen Zielsetzungen ethische und soziale Wertungen, in Sonderheit Vorstellungen von einem "Allgemeinwohl" enthalten sind.
Entscheidend ist, dass im Kapitalismus neben der Gewinnmaximierung kein anderes, auch nicht als Nebenziel gilt.

Das ist kein Widerspruch zu der Tatsache, dass Kapitalisten als Personen alle möglichen guten oder schlechten Eigenschaften aufweisen können: Ihre persönliche Variante von Gewinnmaximierung hat nichts mit dem System an sich zu tun.
Dies zeigt sich vor allem dann, wenn es darum geht, den Rahmen der Gewinnmaximierung in der Auseinandersetzung mit Gewerkschaften, Konkurrenten, Kunden und dem Staat zu erweitern.

Da wird auch der frömmste Kapitalist einen niedrigeren Lohnsatz einem höheren vorziehen und weniger Konkurrenz, weniger kritische Kunden und geringe Steuerlasten mehr schätzen als das jeweilige Gegenteil.
Die Tendenz des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist eindeutig: Die dem Maximalgewinn Grenzen setzenden Gegenkräfte werden nicht einfach hingenommen, sondern in aller Regel auf rationale Weise, d.h. mit verhältnismäßigen Mitteln bedrängt, bekämpft und aus dem Weg geräumt. Kommt der Kapitalist mit Glacéhandschuhen zurecht, erübrigen sich gröbere Methoden.


Humanistische und sozialethische Normen sind systemfremde Begriffe:
In Demokratien mit gefestigter Rechtsstaatlichkeit werden Tarife vereinbart, wo nicht, werden Gewerkschafter schon mal erschossen.
Die Konkurrenz wird je nach Lage der Dinge durch Innovationen in Technik, Organisation und Marketing bekämpft oder vermittels gröberer Maßnahmen bis hin zu Korruption und Gewalt drangsaliert, bis sie auf der Strecke bleibt oder aufgesogen werden kann.
Die Kunden werden so lange mit allerlei Vorspiegelungen und Versprechen geködert, bis eine entsprechend starke Marktstellung erreicht ist und dann nach allen Regeln der Kunst ausgeplündert.
Der Staatsmacht wird durch Lobbyismus, Parteien- und Abgeordnetenfinanzierung, Medienkampagnen und Korruption so lange zugesetzt, bis sie vollkommen von Kapitalinteressen durchdrungen ist und die Gesetzgebung ausschließlich nach deren Interessen erfolgt.

In einer funktionierenden Demokratie, mit einer souveränen, dem Allgemeinwohl dienenden Staatsmacht und annähernd gleichrangigen Gegenkräften auf der Seite der Gewerkschaften, der Konkurrenten und der Konsumenten ist der Kapitalismus darauf angewiesen, seine Produktivkräfte im wesentlichen nur mit Hilfe ständiger Erneuerungen und Verbesserungen zu entwickeln und kann unter diesen Umständen wie kein anderes Wirtschaftsystem ungeahntes, auch nachhaltiges Wachstum und breit gestreuten Wohlstand hervorbringen.
Ein deregulierter Kapitalismus hingegen entwickelt eine ebenso ungeahnte Zerstörungskraft und führt über menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse, Lohndumping, Steuerverweigerung und Umweltzerstörung zu einem politischen Regime, das "zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung" alle Mittel einsetzt, um die Bevölkerung ruhig zu stellen.

Beispiele hierfür gibt es nicht nur in der Vergangenheit und nicht nur in so genannten Drittländern mehr als genug: autoritäre Präsidialregime, Einparteienregierungen, Militärdiktaturen und Faschismus. Ihr Ende ist stets die wirtschaftliche Katastrophe – häufig erst nach Krieg oder Bürgerkrieg
Gelingt es dem globalisierten Kapital, seine eigenen Regeln der Ausbeutung von Mensch und Natur weltweit durchzusetzen, ist die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer menschlichen Zivilgesellschaft nicht mehr aufzuhalten.

 

Marktwirtschaft


Eine funktionierende Marktwirtschaft ist ein geradezu geniales System der Steuerung der Produktion, Verwendung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen.
In der Theorie sorgt eine Vielzahl von annähernd gleichstarken Anbietern, dass man prinzipiell nur durch Neuerungen und Verbesserungen des Angebots auf Dauer Gewinn erzielen kann. Auf der Gegenseite gibt es so viele Nachfrager annähernd gleicher Kaufkraft, dass keiner seinen Kunden oder Lieferanten erpressen kann. Der Zustand vollständiger Information aller Marktteilnehmer sorgt dafür, dass niemand irrtümlich handelt oder übervorteilt werden kann.
Das Problem ist leider, dass selbst dann, wenn die Welt nur aus gutwilligen und fairen Partnern bestehen würde, dieser Idealzustand niemals erreicht werden kann.

Es handelt sich um ein rein theoretisches Modell, tauglich allerdings für Feststellungen über den Grad der Abweichungen einer real existierenden Marktwirtschaft vom Idealfall und für Hinweise zu ihrer ständigen Verbesserung.
Die Aufrechterhaltung eines optimalen Zustandes der Marktwirtschaft ist Aufgabe des Staates. Gesetze sind notwendig, um den Drang des Kapitals nach marktbeherrschenden Stellungen, nach Lohndumping, nach Verbrauchertäuschung, Steuerhinterziehung und hemmungsloser Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in Grenzen zu halten.
Der erste Theoretiker der Marktwirtschaft, Adam Smith, hat bereits 1776 erkannt und beschrieben, dass es keine größeren Gegner des marktwirtschaftlichen Systems gibt, als die Unternehmer. "Leute aus demselben Gewerbe", schreibt er, "treffen selten zusammen – und sei es zum Frohsinn und zur Erholung – ohne dass die Unterhaltung mit einem Komplott gegen die Allgemeinheit oder mit einem Plan zur Erhöhung der Preise endet."
Je mehr sich ein Staat auf moralische Appelle, freiwillige "compliance"-Regeln verlässt und auf Selbstbeschränkung und Selbstregulierung hinausredet, um so mehr wird offenbar, wie abhängig er bereits vom Kapital ist.

 

Staat


Dem Kapitalismus soziale Schranken zu setzen und eine funktionierende Marktwirtschaft zu sichern, ist Aufgabe des Staates. Nicht etwa ein linker Ökonom, sondern der erzliberale Alexander Rüstow fordert "einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört."
Ein solcher Staat soll dafür sorgen, dass Gewinnmaximierung im Rahmen rechtsstaatlicher und sozialverträglicher Grenzen möglich ist und die Funktionsfähigkeit der Märkte soweit als irgend möglich gewährleistet oder durch staatliche Organisationen (z.B. des Gesundheitswesens, des Bildungssystems, der Arbeitslosigkeits- und Altersvorsorge usw.) substituiert wird.
Lenin hat darüber gelacht, und wie Karl Marx den bürgerlich-demokratischen Staat als dazu unfähig, weil schieres Werkzeug der Kapitalisten angesehen und den Weg der Revolution gewählt. (Das Ergebnis ist bekannt, wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass auch eine ursprünglich kommunistische, autoritäre Staatsmacht in der Lage ist, für eine phänomenale ökonomische und soziale Entwicklung zu sorgen.)

Wenn jedoch – im Gegensatz und als Widerlegung der pessimistischen Einschätzung von Marx und Lenin – der Staat in einer freiheitlichen und sozialen Demokratie seinen ökonomischen Aufgaben gerecht werden will, muss er unabhängig und bereit sein, rational im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln.
Er muss entscheiden können, wie – grosso modo – das wirtschaftliche Ergebnis zustande kommen und zwischen Investition und Konsumtion aufgeteilt werden soll. Das eine wirkt sofort auf Wachstum und Ressourcenverbrauch und das andere auf dem Umweg über steigende Kaufkraft.

Man nennt das makroökonomische Steuerung.
Die fortwährende Kampagne der Unternehmer, Löhne, Steuern und Abgaben ausschließlich als Produktionskosten zu sehen und ihre Einkommen, d.h. Nachfrage generierende Wirkung zu ignorieren, ist kurzsichtig und führt zu wirtschaftlichen Krisen, ausgelöst durch ein Missverhältnis zwischen den vorhandenen Produktionskapazitäten und der wirksamen, mit hinreichend Kaufkraft ausgestatten Nachfrage des Staates und der privaten Haushalte.

Über kurze Phasen hinweg kann der Außenhandel über die Schwächen der Binnennachfrage hinweg helfen. Eine Wirtschaftspolitik zur dauerhaften Erringung der "Exportweltmeisterschaft" durch Kostensenkungen im Bereich der Löhne und Steuern freut zwar nicht nur die Exportindustrie, sondern alle davon profitierenden Unternehmen, führt jedoch durch die wachsende Verarmung privater Haushalte und des Staates auch ohne Spekulations- und Bankencrash zwangsläufig zur Krise des gesamten Systems.

Die Situation in Deutschland ist seit der "Agenda 2010" der Regierung Schröder und erst recht seit dem Antritt der schwarz-gelben Regierung gekennzeichnet durch eine nahezu grenzenlose Willfährigkeit gegenüber kurzsichtigen Kapitalinteressen und deren Kostensenkungs- und Deregulierungskampagnen.

Nationalstaat und Europäische Union schieben sich wechselseitig die Verantwortung für die "Alternativlosigkeit" einer solchen Wirtschaftspolitik zu: Auf der einen Seite wird behauptet, nationale Regelungen seien wirkungslos, auf der anderen Seite kann man sich leider nur im Grundsatz, nie aber im Detail einigen.

Da hier wie dort die Kapitalinteressen dominieren, ist es keine Übertreibung, hierin ein abgekartetes Spiel zu sehen.
Weder die Gewerkschaften noch die politische Linke haben es bisher vermocht, den positiven Wirtschaftseffekt höherer Löhne und angemessener Steuern überzeugend darzustellen. Der dominierende rechte Flügel innerhalb der SPD hat eine solche Diskussion gar nicht erst aufkommen lassen.
Das Heil des kapitalistischen Deutschland wird unverändert darin gesehen, den Exportüberschuss auf Kosten einer zunehmenden Verarmung privater Haushalte und steigender Staatsverschuldung in immer größere Höhen zu treiben.
Den Gipfel des ökonomischen Irrsinns und der sozialen Unmoral stellt derzeit das so genannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz dar, womit Steuergeschenke durch höhere Staatsschulden kompensiert werden.
Ein Ausweg ist vorläufig nicht abzusehen.


Der Kapitalismus dominiert. Die Hörigen der Finanzwirtschaft, der Konzerne und Verbände haben in allen Parlamenten die Mehrheit.

 

P.S. Die Zitate von Adam Smith und Alexander Rüstow finden sich bei:
Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Berlin 1976, Band. I, S. 168
Alexander Rüstow in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 187, S. 69

Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

Mittwoch, 29. Dezember 2010

--->>> Schlecht geht es dem Land oder #Von der #Entmenschlichung #durch #die #Ökonomie <<<---


global news 2249 26-12-10:

Schlecht geht es dem Land oder

Von der Entmenschlichung durch die Ökonomie

(auch ein Rückblick über 60 Jahre)

(jjahnke.net)

http://www.jjahnke.net/rundbr80.html#2249


Die Menschheit hat nun eine viele Jahrtausende alte Zivilisations- und Organisationsgeschichte hinter sich, die nur und erst in den letzten zweihundert Jahren immer mehr unter das Diktat der Ökonomie und ökonomischen Effizienz gestellt wurde, und das auch noch unterschiedlich von Land zu Land und von Zeit zu Zeit.

Dabei wurde ökonomische Effizienz zunehmend und einseitig im Sinne der Profitabilität privaten Eigentums und der Geringschätzung staatlicher Leistungen definiert.

Die "efficient market hypothesis", also die Annahme einer allein durch den Markt automatisch entstehenden maximalen Effizienz menschlicher Gesellschaft galt fortan als ein Grundgesetz der Gesellschaft.

Es unterstellt fälschlich, daß alle Marktteilnehmer eine perfekte Kenntnis aller gegenwärtigen und künftigen ökonomischen Fakten haben und daher immer die effizientesten Entscheidungen treffen können - eine spätestens durch die derzeitige schwere globale Krise widerlegte Annahme. Die Annahme ist ebenso falsch wie die Annahme der Planer im Sowjetkommunismus, alle gegenwärtigen und künftigen menschlichen Bedürfnisse zu kennen und planen zu können.

Gegen diese Unterstellung hatte sich schon vor der Krise Joseph Stiglitz gewandt, der 2001 den Nobelpreis in Ökonomie für seine Arbeit an Märkten mit asymetrischer Information bekommen hatte. Nach Stiglitz funktionieren Märkte nur unter außergewöhnlichen Umständen effizient.

Die USA hatten die längste Zeit ein viel strikteres Verhältnis zur Ökonomie menschlichen Lebens als das alte Europa. Das ökonomische Diktat verschärfte sich seit den 60er Jahren immer weiter und trieb auf der einen Seite sagenhaften Reichtum und auf der anderen bitterste Armut hoch.

Verdiente 1968 typischerweise der Chef von General Motors sechsundsechzigmal so viel wie ein durchschnittlicher Arbeiter im Unternehmen, so verdient heute der Chef des Einzelhandelskonzerns MalMart neunhundertmal so viel wie seine durchschnittlichen Angestellten.

Die Familie des WalMart-Gründers kommt auf ein Vermögen, das dem von 120 Millionen Amerikanern zusammengenommen oder 40 % der Bevölkerung der USA entspricht. Im Verlaufe dieser Entwicklung expandierte der Finanzsektor immer weiter und übernahm die Führung der Volkswirtschaft.

In Europa stellte sich Großbritannien an die amerikanische Seite und seit 20 Jahren in Asien vor allem China. Das kontinentale Europa ging dann seit den 70er Jahren und vor allem seit dem Ende des Kommunismus sowjetischer Prägung auf den gleichen Trip, die Lebensqualität zunehmend einseitig von der Ökonomie und angeblichen ökonomischen Effizienz bestimmen zu lassen.

Für die Europäische Union schlug mit der Lissabon Agenda das neue ökonomiebestimmte Zeitalter. Selbst klassische sozialdemokratische Positionen, die Wert auf sozialen Ausgleich und die Rolle des Staates gelegt hatten, wurden unter New Labour in Großbritannien, Schröders SPD in Deutschland und entsprechende Entwicklungen anderswo aufgegeben und sind trotz der Krise bisher nicht wiederbelebt worden.

Die erfolgreiche Phase sozialen Ausgleichs, die von 1945 bis in die 70er Jahre gedauert hatte und der in Deutschland das Wirtschaftswunder mit der Sozialen Marktwirtschaft oder in Frankreich "Les Trentes Glorieuses" entsprungen waren, ging zu Ende. Hierzu ein neues und sehr empfehlenswertes Buch von Tony Judt, "Ill fares the land" oder "Schlecht geht es dem Land":

"Ill faires the land, to hastening ills a prey,
Where wealth accumulates, and men decay."

"Schlecht geht es dem Land, eine Beute für beschleunigte Übel,
Wo sich Reichtum ansammelt, und Menschen verrotten."

(Oliver Goldsmith, 1770)

Das deutsche Wirtschaftswunder der Sozialen Marktwirtschaft und sein Ende zeigen sich deutlich in der Entwicklung der Bruttoinvestitionen, die von rund 28 % der deutschen Wirtschaftsleistung auf nur noch weniger als 17 % zurückgefallen sind (Abb. 14988). Hier wird dokumentiert, wie die deutsche Industrie zunehmend Investitionen im Inland durch meist spekulative Finanzinvestitionen im Ausland ersetzt hat. Gleichzeitig ging seit den 80er Jahren der bis dahin steigende Anteil der Arbeitnehmereinkommen an der Wirtschaftsleistung von 57 % auf weniger als 51 % zurück (Abb. 14989). Seit 1970 stieg die Arbeitslosenquote steil an, wobei der leichte Rückgang seit 2005 vor allem auf statistischen Tricks und dem Aufbau eines wuchernden und unsicheren Niedriglohnsektors beruhte (Abb. 04197); dabei stieg die Arbeitsproduktivität seit den 90er Jahren immer stärker - Ergebnis von mehr Automaten und stärkeren Arbeitsdrucks (Abb. 14990). Die ökonomische Effizienz diktierte das Leben immer mehr.




Der Staatsapparat wurde seit 1995 immer weiter abgebaut und allein die Beamtenzahl von 1.7 Millionen auf nur noch 1,2 Millionen zusammengestrichen (Abb. 14991), die Wertschöpfung des Staates als Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung auf nur noch 13 % gedrückt, viel niedriger als in Vergleichsländern (Abb. 15615, 15616).


Da sind wir nun heute, und die eigentlich augenöffnende Krise ist noch längst nicht zu Ende. Ist diese Entwicklung hin zum Diktat der Ökonomie unwiderruflich, auch nachdem das theoretische Fundament eines alleffizienten Marktes zerbrochen ist?

Muß eine dreißig Jahre unter tausenden von Jahren andauernde, die Kultur und Menschlichkeit verdrängende Verirrung nun auch unendlich die Zukunft der Menschheit bestimmen? Wohl kaum!

 






Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

Wen pflegt Rösler? (...) weiteren Beleg dafür liefern, #welche #Klientel die #FDP #pflegt [Nachdenkseiten]


Wen pflegt Rösler?

(Nachdenkseiten)
http://www.nachdenkseiten.de/?p=7846

Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) kündigte unlängst an, eine privat finanzierte, kapitalgedeckte Zusatzversicherung als Ergänzung zur bestehenden Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen.

Damit sollte der im Koalitionsvertrag festgehaltene "Ausbau der gesetzlich finanzierten Bereichs Gesundheits- und Pflegeleistungen und einer Verbesserung der wettbewerblichen Strukturen" umgesetzt werden. Neuerdings rudert Rösler plötzlich wieder ein Stück weit zurück. Von einer privaten Zusatzversicherung ist augenblicklich nicht mehr die Rede, hingegen von einer gesetzlichen Neuregelung des Pflege-TÜVs zu Jahresbeginn.

Das derzeitige Pflegesystem ist in der Tat äußerst marode und liegt weitgehend im Verborgenen. Wer einen Blick hinter die Kulissen wirft, muss erkennen, dass zwar eine Reform bezüglich Qualität und Transparenz dringend erforderlich ist, nicht jedoch eine private Zusatzversicherung.

Von Christine Wicht

Mit der Einführung einer privaten Pflegezusatzversicherung würde die schwarz-gelbe Koalition der Versicherungsbranche – wie bei der Riester-Rente – einen weiteren lukrativen Markt verschaffen und dem Bürger einen weiteren Beleg dafür liefern, welche Klientel die FDP pflegt. Die Finanzierung der Pflege müsse langfristig gesichert werden, forderte noch vor einigen Wochen Gesundheitsminister Rösler, deshalb sei es nötig, umzudenken und neue Wege einzuschlagen. "Die jungen Menschen müssen heute anfangen, an morgen zu denken und finanziell vorzusorgen", so Rösler.

Es ist genug Geld in der Pflegeversicherung
Laut Aussagen des Bundesministeriums für Gesundheit, BMG (Stand: Januar 2009) sind in Deutschland rund 70 Millionen Menschen in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert. Rund 9 Millionen Menschen haben eine private Pflegeversicherung. Rund 2,1 Millionen Menschen beziehen Leistungen der Pflegeversicherung, davon werden 1,46 Millionen Menschen ambulant gepflegt und rund 0,71 Millionen Menschen stationär (Quelle: vdk). Über 60 Millionen Menschen zahlen ihren Beitrag in die gesetzliche Pflegeversicherung. Wenn alle diese Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung gezwungen würden, wäre dies ein äußerst lukratives Geschäftsfeld für die Versicherungskonzerne.

Den Befürwortern und Profiteuren einer privaten Zusatzversicherung mag deshalb die Meldung des Bundesgesundheitsministeriums vom 2. Dezember 2010 wohl gar nicht gefallen haben, in welcher es heißt: "Aktuelle Berichte, die finanzielle Lage der Pflegeversicherung habe sich verschlechtert, treffen nicht zu. Durch die steigenden Beschäftigtenzahlen hat sich die Einnahmesituation der Pflegeversicherung deutlich besser entwickelt. So ist auch für 2010 ein Überschuss zu erwarten. Entgegen bisheriger Einschätzung werden die Rücklagen der Pflegeversicherung daher länger reichen." Nach neuen Berechnungen steigt der Beitrag im Jahr 2014 von 1,95 Prozent auf 2,1 Prozent und bis zum Jahr 2050 auf 2,8 Prozent.

Die Frage nach Leistungsinhalt und –umfang müssten im Vordergrund stehen
Die Barmer GEK hat im Dezember den "Pflegereport 2010" veröffentlicht, nach welchem fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann damit rechnen müssen, dement zu werden. Die Studie wurde vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen (ZeS) unter Leitung von Professor Heinz Rothgang durchgeführt, nach dessen Meinung der demographische Wandel – ceteris paribus – (wobei die übrigen Dinge gleich sind) dazu führt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2040 um rund die Hälfte über der derzeitigen Zahl liegt (Quelle:
ZeS [PDF - 1.4 MB]). Barmer GEK Vorstand Rolf-Ulrich Schlenker appellierte an die Koalition, die Neuausrichtung der Pflege zu forcieren. Bevor die Politik alternative Versicherungs- und Finanzierungsformen ins Spiel bringe, solle sie sich zuerst über den künftigen Leistungsinhalt und -umfang der Pflegeversicherung verständigen.

Ob und wie eine ergänzende Finanzierung des Pflegebedarfs zu realisieren sei, hänge im hohen Maße vom künftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab. "Vorrangig muss, so Schlenker, die Leistungsfrage beantwortet werden. Erst dann kann entschieden werden, ob wir überhaupt eine neue Finanzierungssäule in der Pflegeversicherung brauchen oder ob nicht die klassische Beitragsfinanzierung eine angemessene Antwort auf die Finanzierungsherausforderung gibt." (Quelle: Barmer).

Spekulative Hochrechnungen
"Spätestens im Jahr 2045 (!) müssen Arbeitnehmer rund sieben Prozent ihres Einkommens für die Pflegeversicherung abführen, ließ der Freiburger Professor und Versicherungslobbyist Bernd Raffelhüschen schon vor drei Jahren verlautbaren. Das ist eine Steigerung um mehr als 400 Prozent im Vergleich zum heutigen Satz. Für den "Wissenschaftler" sind die Konsequenzen aus dem "erschreckenden Befund" offenkundig: Das umlagefinanzierte System müsse schnellstens reformiert werden. Am einfachsten ginge das bei der Pflege. "Noch können wir aus der umlagefinanzierten Pflegeversicherung aussteigen",
alarmierte Raffelhüschen.

Der Gerontologe, Dr. Helmut Braun, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums Wohnen im Alter gAG (KWA), warnt vor solchen Zukunftsprognosen: "Von einem Anstieg der Zahl älterer Menschen auf ein lineares Wachstum bei stationär ausgerichteten Pflegeeinrichtungen zu schließen, entbehrt jeder fachlichen Begründung und ignoriert die derzeitige Entwicklung des Pflegemarktes". Die Kapitalwirtschaft, so Braun, hätte jetzt einen Markt entdeckt, der, wenn man ihn genauer betrachte, ganz anders aufgestellt sein müsse: "Die Masse an Pflegeheimen, die jetzt gebaut wird, wird in Zukunft ein Riesenproblem.

Und wenn man dann auch noch Renditeversprechen damit verbindet, die meiner Ansicht nach unrealistisch sind, halte ich das für moralisch fragwürdig." Braun sieht ein Belegungsproblem der Einrichtungen und befürchtet, dass alte Menschen ins Heim gesteckt werden, obwohl sie noch zu Hause betreut werden könnten. Es gebe bereits heute geschätzte 70.000 stationäre Heimplätze, die nicht belegt seien. "Das wird interessanterweise nie diskutiert in diesen ganzen Prognosen", kritisiert Braun. Er befürchtet, dass die Leerstände in Heimen durch das florierende Geschäft mit Pflegeimmobilien in Zukunft dramatisch zunehmen werden und dadurch viele Häuser in den nächsten Jahren in die Pleite getrieben werden und schließen müssen" (Quelle: Care Invest 12/08 [PDF - 184 KB]).

Die Pflege bedürftiger Menschen ist ein lukrativer Markt
Die Entwicklung, dass Leistungen der Gesundheit und der Pflege in den letzten Jahren zunehmend privatisiert worden sind, zeigt auch, je höher der Grad der Privatisierung des Gesundheitswesens, desto stärker steigen die Gesundheitskosten. Oftmals werden Profite bereits beim Bau von Einrichtungen gemacht, die dann jahrelang in Form erhöhter Kosten weitergereicht werden. Wenn beispielsweise Fonds Pflegeimmobilien überteuert einkaufen, dann wurden wahrscheinlich überhöhte Pachten angesetzt.

Ein überzogener Pachtpreis wiederum kann nur kompensiert werden, wenn im täglichen Pflegebetrieb gespart wird. Wenig Personal und niedrigste Ausgaben für die Verpflegung alter Menschen sind die Konsequenzen, sonst geht die Renditerechnung nicht auf. Am Ende der Kette befinden sich letztlich die Senioren, die die verfehlten Immobiliengeschäfte dadurch erleiden müssen, dass sie nicht mehr menschenwürdig gepflegt werden können. Ein Teufelskreis, wie Nikolaos Tavridis, Geschäftsführer der axion consult GmbH, in seinem Gespräch mit Gottlob Schober (Redaktionsteam von Report Mainz) in dem Buch "Im Netz der Pflegemafia" offenbart [PDF - 136 KB]. Dass aus der Pflege alter, bedürftiger, hilfloser Menschen Kapital geschlagen wird, ist ethisch und moralisch höchst zweifelhaft.

Es wird von Pflegefondsanbietern damit geworben, dass stationäre Pflege, mit staatlich geregelten sicheren Einnahmen ein riesiger Wachstumsmarkt sei, bei dem das erforderliche Investitionsvolumen in den nächsten Jahren auf bis zu fünf Mrd. EUR geschätzt werde. So werden etwa die Vorteile eines Pflegefonds gegenüber eines Immobilienfonds gepriesen: konjunkturunabhängiger Wachstumsmarkt für stationäre Pflege, sofort 6,5 % p.a., monatliche Ausschüttung steigend, steuerfreie Ausschüttungen, staatlich geregelte Mieteinnahmen, ein langfristiger Pachtvertrag mit erfahrenem Betreiber, Nebenkosten, Instandhaltung trägt der Betreiber, Vollbelegung, Top-Leistungsbilanz, Best-Rating der Analysten, Finanzierung der Beteiligung möglich.

Lobby von Pflegeverbänden, Heimbetreibern und Pharmaindustrie
Claus Fussek (Sozialpädagoge im ambulanten Pflegedienst) und Gottlob Schober (Redaktionsteam von Report Mainz) haben in ihrem Buch "Im Netz der Pflegemafia – Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden", die Pflegesituation in deutschen Heimen durchleuchtet und eine stark vernetzte Pflegelobby von Pflegeverbänden, Heimbetreibern und Pharmaindustrie, die von schlechter Pflege profitieren, ausgemacht. Zwar werde immer argumentiert, dass in Pflegeheimen aus Geldmangel oft keine optimale Pflege möglich sei.

Die Missstände, so die Autoren, seien jedoch weitaus gravierender, denn sie werden nicht nur hingenommen, sondern teilweise werde das Leid der Menschen ganz bewusst herbeigeführt. Hilf- Menschen würden häufig gezielt falsch behandelt, damit sie zwangsläufig in eine höhere Pflegestufe eingruppiert werden müssten. Dahinvegetierende Pflegebedürftige brächten nach der Logik der Pflegeheime mehr Geld als Menschen, deren noch bestehende Fähigkeiten eigentlich gefördert werden sollten.

Missstände im Pflegesystem
Fussek und Schober haben in ihrem Buch erschreckende Missstände dargelegt. Beispielsweise profitieren Rettungsdienste von Fahrten von Pflegeheimen zu Krankenhäusern und zurück. Renate Beckmann hat in ihrer Dissertation "Untersuchungen zur ärztlichen Betreuung Pflegebedürftiger – Modellpraxis in einem Alten- und Pflegeheim" bereits im Jahr 1992 gravierende Fehlentwicklungen im Pflegesystem ausgemacht. In ihrer Untersuchung setzt sich Beckmann mit einer kassenärztlichen Modellpraxis eines Alten- und Pflegeheims auseinander: "Den Bewohnern bleibt die freie Arztwahl erhalten. Wenn sie die Modellpraxis in Anspruch nehmen, können sie die Sprechzeiten nutzen.

Die Ärzte der Modellpraxis führen regelmäßige Visiten auf den Pflegestationen durch und stellen einen Bereitschaftsdienst. Krankenhauseinweisungen sind dann vergleichsweise selten." Beckmann kommt in ihrer Dissertation zu folgendem Ergebnis: "Vorteile für die Krankenkassen lassen sich errechnen und sind nicht von der Hand zu weisen: Teure Krankenhauseinweisungen unterbleiben, Wegstrecken für Ärzte fallen nicht an, eine wirtschaftliche Verschreibungspraxis für Medikamente ist durchgesetzt" (Quelle: Fussek, Schober, Im Netz der Pflegemafia, S. 267/268, siehe auch Fussek Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 21.10.2009). Das Buch enthält unter anderem das erschütternde Protokoll einer Pflegekraft, die in der Nacht allein auf sich gestellt für 72 Insassen zuständig ist. Aber nächtliche Prüfungen durch den Medizinischen Dienst seien äußerst selten. Heiminsassen würden angegurtet um Stürze zu verhindern. Dabei hätten Untersuchungen ergeben, dass eine Sturzprophylaxe oder so genannte Hüftsturzhosen Stürze massiv einschränken und Kosten (Operation und Behandlung von Oberschenkelhalsbrüchen) enorm senken würden.

Auch könne durch Hörgeräte, Brillen und gute Beleuchtung in Heimen Stürze verhindert werden. Es könnten enorme volkswirtschaftliche Einsparungen erzielt werden. Die Autoren fragen sich, warum der Bundesrechnungshof nicht die gigantische Verschwendung öffentlicher Mittel zulasten alter Menschen anprangert. Die AOK habe zwar erkannt, dass Prävention vor Pflege gehe, jedoch sei diese Erkenntnis bislang nicht flächendeckend durchgesetzt worden. Altenförderung müsse vor Altenpflege gehen. Fussek und Schober schlagen deshalb unter anderem eine Zusammenlegung von Pflege- und Krankenversicherung vor, da Krankenkassen oft relativ günstige Rehabilitationsmaßnahmen für Heimbewohner ablehnten, die von der Pflegekasse wahrscheinlich bewilligt worden wären.

Eine andere Pflegekraft berichtet, dass Bewohner nur um Pflegekosten und -zeit zu sparen während sie auf dem Toilettenstuhl sitzen, gefüttert werden und Bettpfannen von anderen Bewohnern ohne Deckel an ihnen vorbei getragen werden, während sie essen. Um diese menschenunwürdige Praxis nachfühlen zu können, empfehlen die Autoren Catering auf modernen Toilettenstühlen im Bundestag. Dann könnte unsere Elite noch effizienter arbeiten und obendrein könnten Toilettenzeiten mühelos rationalisiert werden (siehe auch: BR-Online). Viele Einrichtungen geben, so die Autoren, unter vier Euro für die Verpflegung der Bewohner aus, obwohl sie 3000 Euro im Monat kassieren. Da wird so manche Katze oder Hund in unserem Lande besser versorgt.

Gottlob Schober recherchierte, dass der Medizinische Dienst (MDK) im Jahr 2000 einen Personalabgleich in 22 Einrichtungen vornahm. Hierbei stellte sich heraus, dass in 18 Einrichtungen die vom MDK festgestellte personelle Besetzung im Pflege- und Betreuungsbereich nicht mit den in die Pflegesätze einkalkulierten Personalzahlen und -kosten übereinstimmte. Es ergaben sich folgende Abweichungen: In 8 Einrichtungen Abweichungen von bis zu 3 Vollkräften, in 6 Einrichtungen Abweichungen von 3,1 bis 9,9 Vollkräften und in 4 Einrichtungen Abweichungen von 10 Vollkräften und mehr.

Eine vertragswidrige Unterbesetzung von 10 Vollkräften bedeutet, auf ein Jahr hochgerechnet, einen zusätzlichen Profit von rund 800.000 DM (Erhebung im Jahr 2000), dem keine entsprechende Leistung der Pflegeeinrichtung gegenüberstehe (Quelle: Axion Consult [PDF - 184 KB]).

Alternativen zum Pflegeheim werden behindert
Es gibt sicherlich auch viele gute Heime, die sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Die Autoren Fussek und Schober empfehlen älteren Menschen und ihren Angehörigen, sich umfassend beraten zu lassen, z. B. von Pflege- und Krankenkassen oder auch von Verbänden wie dem VdK. Die Mitarbeiter von Pflegeheimen fordert Fussek auf, für ihre Belange zu demonstrieren.

Der VdK hat im Übrigen gegen die verfehlte Gesundheitsreform, bei der die steigenden Gesundheitskosten in Form von Zusatzbeiträgen einseitig den Arbeitnehmern und Rentnern aufgebürdet werden, die Kampagne "stoppt den Sozialabbau" gestartet, an der sich jeder beteiligen kann. Nach Meinung von Claus Fussek muss das System Pflege grundsätzlich reformiert und für größere Transparenz gesorgt werden. Außerdem müssten die häusliche Pflege und alternative Wohnformen flächendeckend und bezahlbar ausgebaut werden. Es sei ausreichend Geld im gesamten System. Leider werde nach wie vor das meiste Geld in Pflegeheime investiert, obwohl eigentlich niemand später seinen Lebensabend in einem Pflegeheim verbringen möchte.

Die Seniorenpolitik ist eine zunehmende Herausforderung für die Kommunen. Viele ältere Menschen ziehen in Großstädte, weil dort Infrastruktur und ärztliche Versorgung oftmals besser sind als in ländlichen Gebieten. Wenn Wohnungen, insbesondere Badezimmer barrierefrei wären, eine Infrastruktur (Ärzte und Geschäfte) am Wohnort vorhanden wäre, könnten viele Menschen, auch im Alter, in ihrer angestammten Wohnung bleiben. Hausgemeinschaften für Rüstige, Betreutes Wohnen für Menschen, die in der Regel selbstständig sind und nur im Bedarfsfall Zusatzleistungen benötigen, Mehrgenerationenprojekte und Tageseinrichtungen, wären sicher eine kostengünstige und qualitativ bessere Alternative zu Pflegeheimen.

Jedoch scheitern solche Einrichtungen oftmals an bürokratische Hürden, so wenn beispielsweise ein Extraraum für Pfleger, übertriebene Auflagen für die Gemeinschaftsküche oder ein Extraeingang für Pfleger, die nicht den gleichen Eingang wie die Bewohner benutzen dürfen, von Ämtern gefordert werden.

Kann Pflege jeder?
Pflegeroboter, von denen kein Mensch gepflegt werden möchte, werden entwickelt und sollen den Pflegenotstand lösen. Weiter ist nun die Umschulung von Arbeitslosen und HartzIV-Empfängern zu Altenpflegern im Gespräch.

Das diskriminiert nicht nur die Ausbildung zum Pflegeberuf sondern Ignoriert die Tatsache, dass, wer diesen Beruf erlernt, gewisse Voraussetzungen mitbringen muss, wie z.B. Geduld, Empathie und einen gewissen Grad an Abgrenzungsvermögen. Nicht jeder x-beliebige Mensch ist fähig und geeignet, diesen Beruf auszuüben.

Dass dies aber dennoch von politischer Seite gefordert wird, zeigt auch, wie wenig Wissen und wie wenig Respekt über diesen Beruf und die Menschen, die ihn ausüben, vorhanden ist und dass es anscheinend egal ist, welche Personengruppe diese Arbeit ausführt. Wer möchte schon gern von einem unmotivierten und in die Tätigkeit gezwungenen Altenpfleger versorgt werden?

Dabei sind motivierte, qualifizierte Mitarbeiter und zufriedene Bewohner die Basis einer menschenwürdigen Altenpflege. Dazu gehört ebenso eine leistungsgerechte Bezahlung wie ein 8-Stunden-Tag für die Pflegekräfte. Die "Verbetriebswirtschaftlichung" von Prozessen und vor allem das Renditedenken haben in der Alten- und Behindertenpflege nichts verloren, denn beides geht einher mit dem Verlust menschlicher Würde und fairer Entlohnung.

Kann ein Pflege-TÜV Pflegequalität schaffen?
Hier also gibt es ein riesiges Verbesserungspotential für Röslers angekündigten neuen Pflege-TÜV. Aber die Kriterien nach welchen geprüft wird, sind höchst fragwürdig. Es ist halt wie immer, wenn quantitative Kriterien (womöglich noch ungewichtet) als Maßstab für Qualität herangezogen werden. Wenn also überspitzt gesagt, die Lesbarkeit der Speisekarte genauso eingestuft wird wie die Vermeidung von Dekubitusgeschwüren, dann müssen die Bewertungskriterien dringend geändert werden. Es geht, so Claus Fussek, nachweislich auch anders. Gute Pflege sei machbar und bezahlbar.

In Schweden zum Beispiel schafften es die Kommunen sehr erfolgreich den Rahmen für praxisgerechte und menschenwürdige Altenpflege abzustecken.

Dort gründe sich das Gesundheits- und Krankenpflegesystem auf den Grundsatz, dass die Zurverfügungstellung und Finanzierung der Gesundheits- und Krankenpflege eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hände ist.

Die wichtigsten dieser Grundsätze fänden sich im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1982, in dem bestimmt wird, dass der Bevölkerung eine gute Gesundheits- und Krankenpflege angeboten werden soll, dass die Pflege zu gleichen Bedingungen für alle geleistet werden und dass sie leicht zugänglich sein soll. Die Pflege soll sich auf die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts und der persönlichen Integrität des Patienten gründen und soweit möglich nach gemeinsamer Beratung ausgeformt und durchgeführt werden (Quelle: sverige.de).

Pflege, ein verdrängter Skandal
Warum bewegt die Menschen in unserem Lande die Käfighaltung von Hühnern, Masttierhaltung oder Tiertransporte mehr als die unwürdige Pflege alter Menschen? Warum werden zwar Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern angeprangert, aber Menschenrechtsverletzungen und Freiheitsberaubungen in Altenheimen kaum?

Warum lässt es die Gesellschaft kalt, wenn Menschen angegurtet, aus Kosten- und Proftitgründen mit Mangensonde ernährt, mit einer 3,7l Windel versorgt, die nur einmal am Tag gewechselt wird und aktive oder unruhige Menschen mit Psychopharmaka ruhig gestellt werden?

Die Vereinten Nationen haben Deutschland schon mehrfach wegen Verletzung der Menschenrechte kritisiert. Die Kritik bezog sich auf Diskriminierung, auf rechtsextreme Delikte oder mangelnde Umsetzung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Was würden die Vereinten Nationen wohl zur Verletzung der Menschenrechte in vielen deutschen Pflegeheimen sagen?

Die Zustände dort sind vielerorts ein Skandal und eine Schande für ein reiches Land wie Deutschland! Damit sich die Situation ändern kann, darf in diesem Land die Pflege nicht länger verdrängt werden, sondern es muss sich eine Mentalität des Hinsehens entwickeln und eine Wahrnehmung dahingehend, dass jeder Mensch selbst jeden Tag in die Situation einer Pflegebedürftigkeit geraten kann.

Niemand besitzt einen Garantieschein für ein gesundes, langes und selbstständiges Leben. Das Thema Pflege geht jede und jeden an. Nur wenn unsere Gesellschaft dieses Thema nicht mehr verdrängt, sondern aktiv eine menschenwürdige Pflege einfordert, die nicht profitgesteuert ist und nicht von Lobbyinteressen der Pflegewirtschaft bestimmt ist, sondern wenn mehr Bürgerinnen und Bürger für ein Pflegesystem eintreten, in welchem Qualität, Gepflegte und Pfleger im Mittelpunkt stehen, haben wir eine Chance, dass sich das bestehende System ändert. Mahatma Gandhi sagte: "Wollt ihr die Kultur und Gesinnung eines Volkes kennenlernen? Dann geht in seine Gefängnisse."

Im übertragenen Sinne könnte man auch sagen … dann geht in die Alten- und Pflegeheime. Ein Pflege-TÜV in Altenheimen ist mehr als überfällig. Es ist aber nach den bisherigen Erfahrungen etwa in der Gesundheitsreform zu befürchten, dass ein Pflege-TÜV nach den Vorstellungen der FDP eher an den Interessen der Pflegeimmobilienbetreiber, der Pflegeheiminvestoren und der Pflegelobby ausgerichtet ist als daran, die Missstände in den Pflegeheimen zu beheben.
Die spannende Frage ist also wieder einmal, wessen Interessen Rösler pflegt.

Buchempfehlung: Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden Claus Fussek, Gottlob Schober, 2009, 443 Seiten, Maße: 12,5 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch Goldmann, 9,50 Euro.


Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

#Diskriminierung #wird #weitergehen [Neues Deutschland - 29.12.2010] über d. #Auswirkungen d. #BAG-Beschlusses zur #Leiharbeit


Die Diskriminierung wird weitergehen

Rechtsanwalt Daniel Weidmann

über die Auswirkungen des BAG-Beschlusses zur Leiharbeit

[Neues Deutschland]
http://www.neues-deutschland.de/artikel/187442.die-diskriminierung-wird-weitergehen.html
 

 

Durch einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes könnten auf die Leiharbeitgeber Milliardennachzahlungen an Löhnen und Sozialversicherungsbeiträgen zukommen. Jörg Meyer sprach mit dem Arbeitsrechtler Daniel Weidmann über die Folgen des Beschlusses und die Kritik am DGB in der Leiharbeitsbranche.

 
ND: Was bedeutet der Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) konkret für die Leiharbeit?
Weidmann: Durch den BAG-Beschluss wurde der CGZP die Tariffähigkeit abgesprochen. Dadurch verschwinden die zwischen ihr und dem Arbeitgeberverband AMP abgeschlossenen Tarifverträge aus dem Arbeitsleben. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von einem CGZP-Tarifvertrag betroffen waren, gilt das Equal-Pay-Gebot des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG).

Der Beschluss betrifft die Zukunft. Das Berliner Arbeitsgericht entscheidet Mitte Februar über die teilweise seit Jahren bestehenden Tarifverträge ...
Derzeit geht fast die gesamte Rechtswissenschaft davon aus, dass auch diese Verträge für nichtig erklärt werden, weil die CGZP niemals tariffähig war. Wie mit den neuen Tarifverträgen umgegangen wird, die der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) mit den Mitgliedsgewerkschaften der CGZP abgeschlossen hat, ist dagegen eine andere Frage. Dazu gehört auch die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) – also ein direkter Widersacher der IG Metall. Die IG Metall stellt sich meiner Meinung nach zu Recht auf den Standpunkt, dass ein Beschluss über die Tariffähigkeit der CGM nicht anders ausfallen kann als der zur CGZP. Die Bewertung müsse dieselbe sein. Allerdings gab es da in der Vergangenheit rechtlich auch Schwierigkeiten.

In zurückliegenden Verfahren hatte das BAG festgestellt, dass gerade die CGM beispielsweise in der Metall- und Elektrobranche tariffähig ist – also Mitglieder hat und Druck aufbauen kann. Kann es theoretisch sein, dass der CGM jetzt in der Leiharbeitsbranche die Tariffähigkeit aberkannt wird?
Ja. Die Christlichen sind genau wie die DGB-Gewerkschaften an das Branchenprinzip gebunden, dass in Deutschland besteht. Die CGM kann also in Metall und Elektro oder in der Stahlbranche Tarifverträge abschließen, nicht aber in einer Dienstleistungsbranche. Das müsste dann eine andere dieser fragwürdigen Gewerkschaften tun. Und die Frage, ob eine Gewerkschaft die notwendige soziale Macht und Kampfstärke besitzt, kann sich über die Zeit verändern. Es kann daher sein, dass eine Gewerkschaft ihre Gewerkschaftseigenschaft verliert. Würde beispielsweise die IG Metall auf einen Schlag 2,3 Millionen Mitglieder verlieren, blühte ihr das Gleiche. Man muss die Kampfstärke zum Zeitpunkt des Gerichtsbeschlusses beweisen.

In der Leiharbeit hat die DGB-Tarifgemeinschaft, die aus allen Einzelgewerkschaften besteht, Tarifverträge abgeschlossen. Gab es das in der Vergangenheit schon einmal?
Wenn eine Gewerkschaft im Betrieb nicht allein ist oder allein nicht stark genug ist, schließt sie sich in der Tarifauseinandersetzung mit anderen zusammen, um die nötige Stärke zu erreichen und um Geschlossenheit zu demonstrieren. Das ist der eigentliche Sinn einer Tarifgemeinschaft. Hier steht aber etwas anderes im Vordergrund: Leiharbeiter sollen auch branchenübergreifend eingesetzt werden – also mal bei einem Autozulieferer und mal in der Kunststoffbranche.
Das der DGB eine Tarifgemeinschaft gründet wie jetzt in der Leiharbeit, ist meines Wissens ein Novum in Deutschland. Der DGB ist eigentlich der politische Arm und der Dachverband der Gewerkschaften. Er macht keine Tarifpolitik.

Wenn im Februar das Berliner Arbeitsgericht im Februar gemäß dem BAG-Beschluss entscheidet, wieso müssen die Beschäftigten ihre Lohnnachzahlungen alle einzeln einklagen? Gibt es da keine Musterklage oder keinen Präzedenzfall – also wenn einer Recht bekommt, kriegen alle alles nachgezahlt?
Das Rechtssystem hierzulande kennt keine Sammelverfahren, das in so einem Fall ja großen Sinn machen würde. Dass die Beschäftigten jetzt einzeln klagen müssen, liegt daran, dass in einem Urteil immer nur zwischen den in der Entscheidung genannten Parteien wirksam wird. Die anderen müssen selber klagen.

Ist also davon auszugehen, dass es zehntausende Verfahren vor den Arbeitsgerichten geben wird?
Hoffen wir's. Ich kann nicht ganz einschätzen, wie groß die Angst der Beschäftigten vor der zu befürchtenden Insolvenz ihrer Leiharbeitsfirmen ist. Das ist ja eine reale Situation. Ich würde den Arbeitnehmern gern zu Selbstbewusstsein und zur Klage raten. Aber das ist von außen ja immer leicht gesagt.

Viele Unternehmen dürften wegen der hohen Nachforderungen in die Pleite gehen. Kann es passieren, dass Beschäftigte keinen Cent sehen, weil die Verleiher Insolvenz anmelden?
Es gibt eine Spezialregelung im Sozialgesetzbuch IV, dass in so einem Fall die Entleihbetriebe zumindest für die Sozialversicherungsbeiträge haften, aber auch die haben meist nicht Geld wie Heu. Das ist eine interessante Konstellation, die juristisch genau beleuchtet werden muss, wenn es 2011 so weit ist. Klar ist aber jetzt schon: Viele unseriöse Leiharbeitsfirmen werden die Zeche zahlen für ihre alleinig auf Dumpinglöhnen aufgebaute Erfolgsstrategie. Das war der einzige Wettbewerbsvorteil, den die gegenüber den seriösen Firmen hatten. Und wenn die nicht mehr zahlen können, müssen das eben die Entleihbetriebe tun, die auch davon profitiert haben und zudem genau gewusst haben, mit wem sie da Verträge abschließen.

Bis wann können Leiharbeiter Nachforderungen stellen?
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt die Verjährungsfristen. Das sind prinzipiell drei Jahre ab Fälligkeit und Kenntnis der Forderung. Eine Forderung, die irgendwann im Jahre 2007 fällig geworden ist, verjährt am 31. Dezember 2010. Außerdem müssen gegebenenfalls auch vertragliche Ausschlussfristen beachtet werden. Die betragen in der Regel nur drei Monate. An dieser Stelle ist der juristischen Kreativität schon Tür und Tor geöffnet, und die braucht es auch. Zusammengefasst: Die Ansprüche aus 2007 wirksam durchzusetzen, wird sehr schwer. Wahrscheinlich werden sie verjähren, wenn die Arbeitnehmer nicht bis zum 31. Dezember Klage bei der Rechtsstelle des zuständigen Arbeitsgerichtes einreichen.
Bezüglich der Ausschlussfristen stellt sich die Frage, was konkret in den einzelnen Arbeitsverträgen der betroffenen rund 280 000 Kolleginnen und Kollegen steht. Man könnte sich als Arbeitgeber hier einfach auf den Standpunkt stellen, dass wegen der Ausschlussfrist ohnehin schon alles weg ist, was älter ist als drei Monate, also älter als September 2010. Das BAG ist aber sehr großzügig bei der Nichtanwendung von vertraglichen Ausschlussfristen in Fällen wie diesem. Wenn man von einem Anspruch nichts weiß oder nicht wissen kann, dann lässt das BAG manchmal durchaus Milde walten. Einen roten Faden in der Rechtsprechung gibt es hierbei allerdings nicht.

Was heißt der Beschluss für die Leiharbeiter mit DGB-Tarifverträgen bei IGZ und BZA?
Leider gar nichts. Die Verträge von der DGB-Tarifgemeinschaft mit den beiden anderen großen Leiharbeitgeberverbänden BZA und IGZ sind gültig, und die sind leider gerade erst mit einer Laufzeit bis 2013 verlängert worden. Das ist wirklich zum Weinen.

Es war aber doch bekannt, dass das BAG noch 2010 entscheidet ...
Die DGB-Gewerkschaften sind kein monolithischer Block. Einige waren von Anfang an gegen jeden Tarifvertrag, weil das AÜG die Gleichbehandlung ja eigentlich festschreibt. Aber es gibt auch ein paar Betriebsratsfürsten, die finden auch heute noch gut, dass es Leiharbeiter ohne Equal Pay gibt. Das sagt jetzt selbstverständlich keiner mehr laut – auch weil sich die beiden Größten, IG Metall und ver.di, offen gegen Leiharbeit wenden und ihre Tarifpolitik entsprechend gestalten.
Aber mancher Betriebsratsfürst hat sich klammheimlich gefreut, in der Krise nicht an die Stammbelegschaften gehen zu müssen. Hier gab es überraschend wenig Massenentlassungen. Die meisten krisengebeutelten Betriebe haben die Stammbelegschaft nur in Kurzarbeit geschickt, während die Leiharbeit sofort auf null Prozent gesetzt wurde. Diese menschenverachtende "Pufferfunktion", die Leiharbeiter haben, wurde ja voll ausgespielt. Das "Jobwunder Deutschland" ist selbstverständlich ein Stück weit auch diesem zynischen Modell geschuldet. In der Krise wurden über 100 000 Leiharbeiter entlassen, das taucht in kaum einer Statistik auf. Jetzt werden die neuen Jobs überwiegend mit Leiharbeitern besetzt, und das wird das erfasst und macht das "Jobwunder Deutschland" aus.

Kommen die DGB-Gewerkschaften denn aus dem Leiharbeits-Tarifvertrag irgendwann wieder raus?
Das ist juristisch umstritten. Es gibt die so genannte Nachwirkung: Ein Tarifvertrag, der ausläuft oder gekündigt wird, gilt weiter, bis er durch einen anderen Tarifvertrag ersetzt wird. Das dient üblicherweise dem Schutz der Beschäftigten. Ob das auch hier gilt, wo wir eine gesetzliche Regelung – Equal Pay – und eine Ausnahmeregelung – den Tarifvertrag – haben, darüber streiten sich die Juristen. Die Mehrheit in der juristischen Literatur sagt: Auch hier gilt die Nachwirkung. Ich würde aber sagen, sie kann hier nicht gelten. Denn der Zweck der Nachwirkung, die Überbrückungsfunktion und der Schutz der Beschäftigten, sind hier auch durch das AÜG selbst schon erfüllt. Es besteht also kein rechtlicher Bedarf an der Nachwirkung.

Aber das wird eh erst alles nach 2013 aktuell, wenn die DGB-Tarifverträge in der Leiharbeit auslaufen.
Auch hier besteht keine Einigkeit. Beispielsweise der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler sagt, es bestehe wegen der teilweise erheblich niedrigeren tariflichen Bezahlung ein so krasses Missverhältnis zwischen Equal Pay und der Tarifwirklichkeit, dass man auch hier eine Klage versuchen könnte.

Das heißt aber eine Tarifrunde 2011 in der Leiharbeit wird es wahrscheinlich nicht geben?
Ja und nein. In der Stahlbranche, dem stärksten Bereich der IG Metall, hat die Gewerkschaft in der Tarifrunde 2010 erfolgreich einen Testballon steigen lassen: Sie haben nicht mit den Leiharbeitgebern gekämpft, sondern mit den Entleihbetrieben – und gewonnen. Im Ergebnis sind die Entleihbetriebe in der Stahlbranche tariflich verpflichtet, Equal-Pay-Garantien mit den Verleiher zu verhandeln. Das ist der eleganteste Weg, man lässt so die sture Politik genauso außen vor wie die Verleiher. Voraussetzung dafür ist aber enorme gewerkschaftliche Stärke. Der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske hat Ähnliches schon für die nächste Tarifrunde bei den Druckern angekündigt. Da ist ver.di stark. Aber in den Branchen, in den die Gewerkschaften schwächer sind, ist das keine Lösung. Da bleibt nur der verzweifelte Ruf an die Politik "Rettet uns!"

Also eine Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes …
Ja, das AÜG ist änderbar, wie alle anderen Gesetze auch. Der Zusatz "von Equal Pay darf mit einem Tarifvertrag abgewichen werden" könnte gestrichen werden, und das Gesetz hätte Vorrang vor jedem Tarifvertrag.
Das Problem ist doch: Forderungen nach Gesetzesänderung stellen Gewerkschaften immer dann, wenn sie schwach sind. So, wie die Situation gerade ist, wäre es das Beste, die Politik würde diesem Appell folgen und das Gesetz ändern – wegen erwiesenem Missbrauch.

Was ist an den DGB-Gewerkschaften zu kritisieren?
Hinterher ist man immer klüger. Die Gewerkschaften saßen damals, als das AÜG novelliert wurde, tatsächlich in einer Art Sandwich-Position. Die Verträge der Christlichen waren in der Welt und sie wollten eine Lohnuntergrenze einziehen und Tarifverträge abschließen. Diese Zwickmühle war aber mitverschuldet. Die DGB-Gewerkschaften hätten viel früher in politische Opposition gegen die AÜG-Novelle gehen sollen, statt sich passiv zu verhalten, als sie auf dem Tisch lag.

Bei der Novelle des AÜG saß ver.di doch mit am Tisch.
Ver.di und IG Metall haben seitdem einen Kurswechsel vollzogen. Damals war diese zynische Haltung zur "Pufferfunktion" der Leiharbeiter weit verbreitet. Mittlerweile sieht die IG Metall das radikal anders und ist heute eine absolut leiharbeitskritische Organisation. Sie möchte Equal Pay durchsetzen. Bei ver.di ist das mittlerweile genauso. Das ist zu begrüßen. Und es ist nur konsequent, schließlich bedeutet die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses zugleich auch die Erosion der Industriegewerkschaften.
Es ist dagegen völlig unverständlich, warum die Tarifverträge mit BZA und IGZ bis 2013 verlängert worden sind, statt den Beschluss des BAG zur CGZP abzuwarten. Das ist unverzeihlich. Wenn die im AMP tarifgebundenen Unternehmen jetzt erwartbar pleite gehen, dann werden die Menschen erwerbslos, und sie werden sich einen neuen Leiharbeitsjob suchen müssen bei einer Firma, die für sie bereits einen Arbeitsvertrag in petto hat mit Bezugnahme auf die IGZ- und BZA-Tarifverträge. So läuft die Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Leiharbeitern weiter – bis mindestens 2013.


Der Abkürzungsdschungel

Am Freitag endet die Frist, innerhalb derer Leiharbeiter Löhne von 2007 nachfordern können. Dies betrifft Beschäftigte, die unter einen Tarifvertrag zwischen CGZP (Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen) und Unternehmen des Leiharbeitgeberverbandes AMP (Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleiter) fallen. Das Bundesarbeitsgericht hat im Dezember die CGZP für nicht tariffähig erklärt, ihre Tarifverträge sind damit nichtig. Leiharbeiter könnten nun hohe Lohnnachforderungen stellen. Die DGB-Tarifgemeinschaft hat mit den Arbeitgeberverbänden iGZ und BZA abgeschlossen – ebenfalls unterhalb dem, was der Equal-Pay-Grundsatz im AÜG (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz) vorsieht. JME



Posted via email from Dresden und Umgebung

#Quittung für #Sparwahn (junge welt) [dafür wirds Geld eben in #genial #innovative (lol) Werbe- u. PR-produkte gesteckt, alternativlos]


Quittung für Sparwahn

Von Rainer Balcerowiak

(Junge Welt)

http://www.jungewelt.de/2010/12-29/043.php

Die vom DB-Konzern über Jahre hinweg systematisch ausgeblutete Berliner S-Bahn fährt weiter ungebremst ins Chaos.

Am Dienstag morgen konnten nur noch 243 der für einen Normalbetrieb benötigten 550 Viertelzüge bereitgestellt werden, im Laufe des Tages verringerte sich deren Anzahl erneut. Heiligabend waren es noch 280.

Auch der Not-Notfahrplan mit Taktausdünnungen auf 20 Minuten und verkürzten Zügen könne, abgesehen von der Ringbahn, nicht mehr eingehalten werden, erklärte ein Sprecher des Unternehmens am Vormittag. Erschwerend kommt hinzu, daß viele Züge nur noch maximal 60 Kilometer pro Stunde fahren dürfen, da sie mit defekten Sandstreuanlagen für die Bremsverstärkung unterwegs sind, die seit dem Wintereinbruch nicht mehr ausreichend gewartet werden können. Kurzschlüsse sorgten zudem für den Ausfall ganzer Streckenabschnitte.

Auch die Fahrgastinformation machte nicht viel Freude. Als am Dienstag die Regionalbahn zwischen Wannsee und Ostbahnhof wegen einer Weichenstörung zeitweilig eingestellt werden mußte, wurden die Kunden per Lautsprecher auf die parallel verlaufende S-Bahn verwiesen, obwohl diese nur äußerst unregelmäßig und vollkommen überfüllt verkehrte.

Aussicht auf baldige Besserung gibt es nicht. In den Werkstätten herrschten teilweise chaotische Zustände, wurde jW von Mitarbeitern berichtet. Mittlerweile häuften sich Schäden an den Fahrmotoren, die mangels Ersatzaggregaten nicht repariert werden könnten.

Auch durch das – seit Jahren bekannte – Problem mit vereisten Türschließanlagen würden zunehmend Züge ausfallen. Da »nebenbei« noch Untersuchung bzw. Austausch von Achsen und Rädern bewältigt werden müsse, reichten die Kapazitäten vorne und hinten nicht.

Defekte Züge müßten weit entfernt von den Werkstätten »geparkt« werden, da es keine Stellplätze mehr gebe. Um überhaupt noch einen Rumpfverkehr anbieten zu können, würden inzwischen defekte und intakte Einheiten zusammengekoppelt. Noch im Oktober hatte die S-Bahn-Führung verkündet, auf einen Wintereinbruch bestens vorbereitet zu sein und beispielsweise über eine ausreichende Reserve an Fahrmotoren zu verfügen.

Man habe die Probleme offenbar »unterschätzt« räumte ein S-Bahn-Sprecher am Dienstag auf jW-Nachfrage ein. Weitere Einbrüche seien nicht auszuschließen, und man führe bereits Gespräche mit anderen Unternehmen, um ab Montag, wenn die Ferien enden, Verstärkerzüge auf den wichtigsten Linien anzubieten. Möglich wäre dies auf der Stadtbahn zwischen Ostbahnhof und Potsdam, wo auch Regionalzüge verkehren.

Allerdings hat DB Regio mittlerweile auch gravierende Probleme, wie jW von Bahnmitarbeitern erfuhr. Etliche Linien in Berlin und Brandenburg konnten am Montag und Dienstag nicht oder nur eingeschränkt bedient werden, da Loks fehlen.

Während die S-Bahn GmbH und inzwischen auch DB Regio die Quittung für den im Rahmen des geplanten Börsengangs der DB AG verordneten Sparkurs bei Personalausstattung, Wartung und Instandhaltung bekommen, soll den Fahrgästen in Berlin und Brandenburg dennoch kräftig in die Taschen gegriffen werden.

Eine Aussetzung der vor Monaten beschlossenen Fahrpreiserhöhung im Nahverkehr, die zum 1.Januar in Kraft tritt, wird vom Verkehrsverbund Berlin Brandenburg und den beteiligten Landesregierungen ausgeschlossen.

Die durchschnittliche Erhöhung beträgt 2,8 Prozent, bei Einzelfahrscheinen im Innenstadtbereich sogar 9,5 Prozent.

Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

Montag, 27. Dezember 2010

Untitled

"(...)Wo aber alle dasselbe denken, denkt wahrscheinlich niemand sehr viel. Wo einer sich den Bürgermut nehemen läßt, etwas Gebotenes trotz möglicher Schwierigkeiten zu tun, trägt er dazu bei, daß unsere Freiheiten in Gefahr geraten. (...) Das tut auch, wer als Vorgesetzter, als Behördenvertreter oder als Politiker seine Macht einsetzt gegen diejenigen, die Mißstände oderUngerechtigkeiten aufdecken. (...)" [Gustav Heinemann 1971]

Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

Untitled

"Der Mensch ist kein Schöpfer von Werten, sondern er verwandelt wertvolle Rohstoffe in Abfall." [Herbert Gruhl 1976]

Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

--->>> #Umfangreiche #Studie: #Mindestlöhne #kosten #keine #Jobs <<<---

 

Umfangreiche Studie: Mindestlöhne kosten keine Jobs

(Nachdenkseiten)


Mindestlohn-Gegner behaupten immer wieder gerne, dass eine Lohnuntergrenze in Deutschland Jobs gefährden könne.

 

Doch nun beweist die bisher umfangreichste Studie zum Thema von der US-Eliteuniversität Berkeley: Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine Jobs vernichtet. "Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte", so das Fazit der Arbeit.

 

Unter dem Titel "Minimum Wage Effects Across State Borders" untersuchte ein dreiköpfiges Forscherteam um den Berkeley-Professor Michael Reich zwischen 1990 und 2006 die Beschäftigungswirkung von Mindestlöhnen in den USA so detailliert, umfassend und gründlich wie nie zuvor. "Es handelt sich um eine der besten und überzeugendsten Mindestlohn-Studien der vergangenen Jahre", lobt der Harvard-Professor Lawrence Katz im Handelsblatt. "Der verwendete Datensatz ist weit umfangreicher, der methodische Ansatz breiter als in früheren Untersuchungen", sagt auch Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, gegenüber der Zeitung.


Quelle 1:
DGB-Mindestlohn  http://www.mindestlohn.de/meldung/studie-mindestloehne-kosten-keine-jobs/
Quelle 2: Handelsblatt  http://www.handelsblatt.com/politik/oekonomie/_b=2713774,_p=30,_t=ftprint,doc_page=0;printpage
Quelle 3: Universität Berkeley [englisch, PDF - 437 KB]  http://www.irle.berkeley.edu/workingpapers/157-07.pdf




Posted via email from Dresden und Umgebung

Sonntag, 26. Dezember 2010

#Euthanasie im #Dritten #Reich - Traudis Erben [via taz]


Euthanasie im Dritten Reich

Traudis Erben

(taz)

http://taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/traudis-erben/


Als die Forscherin sich meldet, ist es, als käme sie zurück: Gertraude, das behinderte Kind, das in einer Heilanstalt der Nazis starb.

Familie Küchelmann muss jetzt ihre Geschichte neu erzählen.

VON LUISE STROTHMANN

 

Wenn das Leben einer dieser samtweichen Familienfilme wäre, die jetzt, Ende Dezember, im Fernsehen laufen, dann würde Hans-Christian Küchelmann diesmal mit seinen Eltern Weihnachten feiern. Sie würden in dem kleinen Haus in Bremen Horn-Lehe im Wohnzimmer sitzen, auf den Sesseln mit beigem Plüschbezug. Gegen neun würde seine Tante aus Berlin anrufen und alle schön grüßen lassen. Von seiner anderen Tante, die nur drei Jahre alt wurde, stünde ein Foto auf der Kommode mit den Geschenken.

Aber das Leben ist kein Film. Hans-Christian Küchelmann hat, seit er sechzehn war, nicht mehr mit seinen Eltern Weihnachten gefeiert. Er hasst Weihnachten und auch die Dinge, die in den vergangenen Monaten passiert sind, ändern daran nichts.

Achtet man aber auf die leiseren Zeichen, darauf, dass es nicht mehr verbittert klingt, wenn Hans-Christian Küchelmann von den Heiligabenden seiner Kindheit spricht, merkt man doch, dass sich ein paar Dinge zurechtgerückt haben in der Familie Küchelmann. Durch das, was seit dem Anruf passiert ist.

Sie forsche gerade zu Kindereuthanasie im Nationalsozialismus, hat die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht damals, im Sommer 2009, am Telefon gesagt. In einem Archiv in Hannover habe sie Akten von 31 behinderten Bremer Kindern gefunden, die zwischen 1942 und 1945 in der sogenannten Kinderfachabteilung Lüneburg gestorben sind, höchstwahrscheinlich ermordet wurden. Dabei sei ihr der Name Gertraude Küchelmann aufgefallen. Ob das etwas mit seiner Familie zu tun haben könne?

Hans-Christian Küchelmann sitzt in seinem Büro zwischen Schädeln von Mammuts und Menschen, als er Gerda Engelbracht zuhört. Sein Beruf ist es, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Er ist Paläonthozoologe und untersucht Knochen. Er kann etwa anhand einer Plastiktüte mit brauner Menschenmasse feststellen, um welchen Säugling es sich einmal gehandelt hat.

Ja, sagt Hans-Christian Küchelmann. Traudi. Das ist meine Tante. Als er auflegt, schafft er es den ganzen Tag nicht mehr, sich zu konzentrieren.

"Plötzlich waren da diese Akten. Ich habe gemerkt, wie mir das einen totalen Kick gibt", sagt Hans-Christian Küchelmann, er sitzt wieder in seinem Büro, einen Sommer später. "Kick ist nicht der richtige Begriff", sagt er. "Geschockt ist auch nicht der richtige Begriff." Hans-Christian Küchelmann schiebt den Stuhl zurück, steht auf, geht zum Kopierer, zur Kaffeemaschine, wieder zurück. Ganz leicht wippt er auf seinen Turnschuhen.

Er ist Ende vierzig, aber wirkt wie Mitte dreißig. Kapuzenpullover, silberne Ringe in den Ohren. Seine Freunde nennen ihn Igel. Wenn er die dichten Borsten auf seinem Kopf nicht schwarz nachfärben würde, wären viele Haare schon grau.

Hans-Christian Küchelmann wollte schon lange herausfinden, was damals mit seiner Tante geschehen ist. Er wusste, dass sie starb, 1942, im Alter von drei Jahren, an einem frühen Novembermorgen in der Kinderfachabteilung. Keine 24 Stunden nachdem ihre Mutter sie dort abgeliefert hatte. Und dass sie eine Behinderung hatte.

Das Rätsel vom plötzlichen Tod des Mädchens Gertraude ist auch das Rätsel von Hans-Christian Küchelmanns Familie. Es ist sein persönliches Rätsel, weil in ihm alle Stränge der Vergangenheit zusammenlaufen. Die Ereignisse trugen dazu bei, dass sein Vater so streng mit ihm war. Dass seine andere, jüngere Tante, eine Achtundsechzigerin, ihn in seiner Rebellion unterstützte. Dass er selbst etwas von beiden in sich trägt. Von den Beschädigungen der Menschen durch die Geschichte.

Vor Kurzem hat Hans-Christian Küchelmann sich mit Kollegen darüber unterhalten, ob er etwas herausfinden könnte, wenn er die Urne seiner Tante aus dem Familiengrab des Bremer Friedhofs ausgraben ließe. Vielleicht sind Spuren von überdosierten Medikamenten in der Asche. Aber Hans-Christian Küchelmanns Methoden stoßen in dieser Sache an ihre Grenzen. Weil es mehr um Erzählungen geht, als um Fakten.

Dabei lassen sich viele Details aus dem Leben des Mädchens Gertraude Küchelmann rekonstruieren. Einiges steht in den Akten, die die Forscherin Gerda Engelbracht gefunden hat. Anderes hat Hans-Christian Küchelmanns Großmutter früher erzählt, wissen sein Vater, seine Tante. Zusammen fügen sich die Fragmente zu einer Geschichte.

Hans-Christian Küchelmanns Großmutter, sie hieß mit Vornamen Martha, wollte 1938 nicht schon wieder schwanger werden. Ihr erster Sohn war knapp drei Jahre alt und sie bekam gerade erst ein wenig Freiheit zurück. Ihr Mann, lange schon Mitglied der NSDAP, arbeitete zum ersten Mal in verantwortlicher Position. Die Fahrten mit "Kraft durch Freude" waren ihre ersten gemeinsamen Reisen; ihre schönste Zeit, erzählte Martha Küchelmann den Kindern später.

Dann doch wieder ein dicker Bauch. Im siebten Monat wuchtete Martha Küchelmann Schränke, machte Frühjahrsputz. Gertraude Küchelmann, genannt Traudi, kam zwei Monate zu früh zur Welt. Ein hübsches Baby, blonde Locken, kleiner, ernster Mund. Doch bald stellte der Arzt fest, dass sie sich nicht so entwickelte wie andere Kinder.

Die Mediziner nannten es die "Little'sche Krankheit", wahrscheinlich eine spastische Lähmung. Traudi lernte nicht laufen und sprechen, ihre Muskeln verkrampften sich plötzlich, immer wieder. Trotzdem war sie Teil der Familie. Sie bekam Bilderbücher mit dem Stempel "Traudi Küchelmann". Wenn der Vater die Haustür aufschloss, hörte Gertraude es vor allen anderen.

Aber im Krieg wurde das behinderte Kind eine Last. Der Vater war weg, an der Ostfront. Nachdem im Bremer Haus der Familie die erste Bombe bis in den Keller durchgeschlagen war, musste Martha Küchelmann mit den beiden Kindern fast jede Nacht in einen dreihundert Meter entfernten Bunker gehen. Alarm, Aufstehen, Traudi anziehen, in den Kinderwagen heben, auf die dunkle Straße. Der fünfjährige Sohn musste allein zurechtkommen.

Als der Vater im Kriegsurlaub nach Hause kam, ging er zum Gesundheitsamt, um sich nach einem Heim für Gertraude zu erkundigen. Es war 1941, ein Jahr zuvor hatte Hitler den sogenannten Euthanasie-Stopp ausgesprochen: Die Ermordung von behinderten und psychisch kranken Erwachsenen in Gaskammern sechs deutscher Städte wurde auf öffentlichen Protest von Kirchenvertretern hin abgebrochen. Der Leiter des Gesundheitsamtes, mit dem Gertraudes Vater damals sprach, wusste, dass heimlich, aber gut geplant weitergemordet wurde. Überall in Deutschland entstanden an Heil- und Pflegeanstalten gerade Kinderfachabteilungen.

Wenn Beamte und Ärzte in ihren Briefen schrieben, behinderte Kinder sollten dort behandelt werden, stand Behandlung für Ermordung.

Auf Empfehlung des "Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" brachte Martha Küchelmann ihre Tochter in die Kinderfachabteilung Lüneburg. Ihr Bruder, ein SS-Mann, begleitete sie auf dem Weg. Für Traudi hatte sie wie angeordnet zwei Kleider, vier Hemden, vier Paar Strümpfe, zwei Paar Schuhe, ein Paar Pantoffeln, einen Kamm, einen Mantel und fünf Taschentücher eingepackt. Ein Taschentuch zu wenig, notierte die Schwester bei der Aufnahme. Auf den Papieren der Stempel: "Erbbiologisch defekt."

Martha Küchelmann war noch keinen halben Tag wieder in Bremen, als sie ein Telegramm bekam: "Gertraude heute früh 4,15 41 Fieber überraschend eingeschlafen. Zwecks Klärung des plötzlichen Todes erbitte Genehmigung zur Sektion. Sofort Geburtsurkunde senden Heilanstalt." Todesursache: beginnende beidseitige Lungenentzündung, Nierenbeckenentzündung, leichter Darmkatarrh.

"Da ist immer noch jede Menge Wut. Ich habe sie ja nie persönlich gekannt. Trotzdem will ich wissen, wer da welche Entscheidungen getroffen hat. Ich will jemanden haben, auf den ich meine Wut projizieren kann." Hans-Christian Küchelmann schaut aus seinem Fenster auf die Industriebrache am ehemaligen Bremer Überseehafen. Dort drüben, in den Räumen eines alten Speichers, wird er heute zu einem Theaterabend gehen, den behinderte und psychisch kranke Menschen gestalten.

Hans-Christian Küchelmann weiß selbst nicht, woher seine Wut kommt. Es ist auch Wut darüber, dass er die Geister der Vergangenheit weiter mit sich herumtragen muss.

Im Jahr 2010, nach 68 Jahren, sind die Akten vom Tod Gertraude Küchelmanns plötzlich da. Die Familie Küchelmann muss lernen, sich die eigene Geschichte neu zu erzählen, anders.

In Hans-Christian Küchelmanns Küche sehen sich im Frühjahr 2010 nach Jahren sein Vater und seine Tante wieder. Der Vater wischte den Tisch ab, bevor er die Unterlagen darauflegt. Die Tante klammert ihre Hand um die Teetasse. So sitzen sie stundenlang. Er holt aus, doziert, erklärt. Sie wird unruhig, trappelt mit den Fingern auf die Tischplatte, will die Papiere sehen. Aber sie hört zu. Und er stellt ihr Fragen. Sie reden. Wieder.

Zweifel an der offiziellen Todesursache hatten die beiden schon immer. Aber sie sagten nicht: "Ich hatte eine Schwester, die ermordet wurde", sondern: "Ich hatte eine Schwester, die unter seltsamen Umständen gestorben ist." Hans-Christian Küchelmanns Großmutter sagte nur: "Ich hatte eine Tochter, die früh verstarb."

Auf die Rückseite eines Fotos aus dem April 1942, auf dem sie Gertraude im Arm hält, schrieb sie: "Hier auf diesem Bilde könnt ihr so recht erkennen, wie krank unser Traudilein war." Ihre Version, ihr Selbstschutz. Die Schuldgefühle nagten still. Bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren hing ein Foto von Gertraude über Martha Küchelmanns Bett.

Die 32 Seiten, die die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht gefunden hat, belegen keinen Mord. Die Tötung behinderter Kinder wurde nicht dokumentiert, die Ärzte handelten ohne offizielle gesetzliche Grundlage auf Basis eines Geheimerlasses von Hitler. Wegen all der Fakten, die Gerda Engelbracht zusammengetragen hat, ist sie sicher, dass Gertraude Küchelmann getötet wurde. Sie vermutet, dass sie eine Überdosis Beruhigungsmittel bekam. Die meisten Kinder wurden durch wochenlange Überdosierung des Betäubungsmittels Luminal langsam getötet. Es löste bei vielen Lungenentzündung aus.

Historiker schätzen, dass allein in Lüneburg zwischen 1941 und 1945 über 300 Kinder getötet wurden. Mehr als 5.000 waren es in ganz Deutschland. Der Leiter der Lüneburger Kinderfachabteilung, Willi Baumert, ein überzeugter Anhänger des Euthanasie-Gedankens, wurde nach dem Krieg Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Königslutter und Vorsitzender des Verbandes der niedersächsischen Anstaltsärzte und Psychiater.

Willi Baumert hat Getraudes Todesursache festgestellt. So steht es in ihrer Akte.

Dass Forscher noch heute Dokumente wie diese finden, liegt auch daran, dass das Thema bis vor dreißig Jahren kaum diskutiert wurde. Ein Interessenverband - der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten - gründete sich erst Ende der Achtzigerjahre. Noch 1949 hatte das Hamburger Landgericht beschlossen, eine Hauptverhandlung gegen mehrere der Kindermorde Beschuldigte nicht zu eröffnen. Sie kommen zu dem Schluss, "daß die Frage der Verkürzung lebensunwerten Lebens zwar ein höchst strittiges Problem ist, daß ihre Durchführung aber keinesfalls eine Maßnahme genannt werden kann, welche dem allgemeinen Sittengesetz wiederstreitet". Dem klassischen Altertum sei "die Beseitigung von lebensunwertem Leben eine völlige Selbstverständlichkeit" gewesen. Man könne nicht sagen, dass die Ethik Platons oder Senecas "sittlich tiefer steht als die des Christentums".

Lebensunwertes Leben. Die Worte hallen in der deutschen Gesellschaft bis heute nach.

Bei einer Euthanasie-Ausstellung in Bremen, in der im Frühjahr auch Gertraudes Geschichte dargestellt wurde, hörte Hans-Christian Küchelmann einen Vortrag von zwei Brüdern, deren behinderter Onkel im Nationalsozialismus ermordet wurde. Die beiden wurden Wissenschaftler, machten Karriere und spürten diesen Zwang, sich wieder und wieder beweisen zu müssen, ihre Lebensberechtigung immer neu zu belegen. Die frühe Erfahrung, Menschen müssten etwas leisten, um lebenswürdig zu sein, habe in ihnen weitergearbeitet.

Eins der wenigen Dinge, die Hans-Christian Küchelmann, sein Vater und seine Berliner Tante, die nach Gertraudes Tod geboren wurde, gemeinsam haben, ist, dass sie alle Workaholics sind. Sowohl sein Vater als auch seine Tante könnten schon im Ruhestand sein. Sein Vater ist es sogar - offiziell. Aber beide arbeiten weiter, in Vereinen, Initiativen. Wenn Hans-Christian Küchelmann seine Fristen überzieht, ist da manchmal eine Härte in ihm, die er sonst nicht kennt. Gegen sich selbst. "Ich denke dann, Menschen, die Fristen nicht einhalten, sollten bestraft werden", sagt er. Es kann sich anfühlen wie ein Erbe.

Während die Küchelmanns sich ihre Familiengeschichte neu erzählen, sind sie gezwungen, über ihre eigenen Rollen darin nachzudenken. Über die Frage, was Hans-Christian Küchelmann krank gemacht hat.

Da ist dieses verstrickte Netz von Beziehungen zwischen seinem Vater, der Tante. Die beiden sind ein Bruder und eine Schwester, so unterschiedlich, dass es weh tut, dass es ihnen weh tut. Der eine ein Kriegskind, das früh Verantwortung übernehmen musste für seine behinderte kleine Schwester. Die andere eine Nachgeborene, als Ersatz für die tote Traudi gezeugt. Beschützt, bis sie es nicht mehr aushielt.

Hans-Christian Küchelmann steht dazwischen. Mit der Genauigkeit seines Vaters und dem Rebellionsgeist seiner Tante, die in der Pubertät seine Vertraute wurde. Er ist Biologe. Und Punk.

Zwischen Gerlinde Lill, Hans-Christian Küchelmanns Tante, 66, und seinem Vater, der Hans-Walter heißt, 74, liegen nur acht Jahre Altersunterschied und doch ein Generationenwechsel. Er, der ältere, gehört zur sogenannten skeptischen Generation. Kriegskinder, die - oft vaterlos - früh erwachsen werden mussten, die streng mit sich und anderen wurden. Sie, die Jüngere, ist eine Achtundsechzigerin. Nach dem Krieg geboren, hatte sie nicht die Traumata der Älteren zu verarbeiten und wunderte sich irgendwann darüber, warum alle Menschen um sie herum so seltsam waren, schufteten, schwiegen. Da begann sie aufzubegehren, zu fragen. Sie wollte sich nicht länger behüten lassen.

Beide heben sie die Vergangenheit auf. Sie in ihrer Altbauwohnung in Berlin Steglitz, er in seinem Einfamilienhaus in Bremen Horn-Lehe. Hans-Walter Küchelmann wollte am liebsten im Hochzeitsanzug seines Vaters heiraten, der nicht aus dem Krieg zurückkehrte. Gerlinde Küchelmann hat alle Kinderbücher und Puppen aufgehoben, auch die, die sie als Kind Traudi genannt hat. Weil die Puppe so krank aussah.

Für Hans-Walter Küchelmann blieb sein im Krieg verschollener Vater immer ein Vorbild. Die Familie sagt, selbst die Handschrift sei die gleiche. Sein Vater heißt Hans Walter, er heißt Hans-Walter, seinem Sohn hat er den Namen Hans-Christian gegeben - die "reine Küchelmann'sche Linie" nennt er das.

Nach dem Krieg war Hans-Walter Küchelmann nicht mehr nur das frühreife Kind, sondern mit knapp zehn schon der Mann im Haus. Nun war da eine andere kleine Schwester da, die bewusst in einem der letzten Fronturlaube gezeugt wurde: Gerlinde. Hans-Walter spielte den Vater. Er sparte, damit sie Rollschuhe mit Gummireifen bekommen konnte, bestimmte, welcher Rock zu kurz war.

Wenn Hans-Walter Küchelmann lange über die tote Schwester geredet hat, sagt er, unbedacht, den Satz, mit dem die Mutter das Thema immer beendet hat. Diesen gefährlichen Satz. "Vielleicht war es das Beste so." Diesen Satz, der den Gedanken der Euthanasie in sich hat. Euthanasia, griechisch: ein schöner Tod.

Hans-Walter Küchelmann treibt Gertraudes Geschichte um. Er hat als Zeitzeuge an einer Ausstellung zu Kindereuthanasie mitgearbeitet, sucht in Archiven nach Akten, trifft sich mit anderen Angehörigen.

Er überlegt, Mordanzeige zu erstatten, um durch die Ermittlungen noch mehr herauszubekommen. Mord verjährt nicht.

Und trotzdem sagt er manchmal diesen Satz: "Vielleicht war es das Beste so." Weil seine Mutter mit ihren Kräften so am Ende war. Weil Gertraude wohl auch heute nicht hätte geheilt werden können. Der Satz klingt weich, aber er ist hart und gefährlich. Zugleich ist er trotzdem auch eine Botschaft an seine Schwester: Dich hätte es sonst doch nicht gegeben.

Sie ist das gesunde Mädchen, mit Betonung auf gesund, das sich ihre Eltern gewünscht haben. Im Jahr 1944 geboren, weil Gertraude 1942 gestorben ist. Gerlinde wurde gehütet wie ein Schatz. Sie begann früh zu fragen und sich zu wehren. Nach dem Vater und den Nazis, gegen die Rockverbote und die Vorschriften. Sie heiratete vor allem, um ihren Namen loszuwerden, ließ sich wieder scheiden. Als sie sich spät entschied, noch ein Kind zu bekommen, war klar, dass sie dazu keinen Mann wollte.

Nach dem Tod ihrer Mutter band sie nichts mehr an ihren Bruder, sie telefonieren selten. Jahrelang sahen sie sich nicht.

Als er in der Küche in Bremen mit seiner Schwester über die tote Gertraude spricht, weint Hans-Walter Küchelmann. Der Vater, der seinen Sohn depressiv gemacht hat. Es muss immer erst etwas Elementareres passieren, damit wir uns begegnen und wenigstens ein bisschen tiefer einlassen, sagt seine Schwester.

Es klingt wie das Ende eines Films, ein glückliches Ende, der Anfang einer Versöhnung. Aber das Drehbuch der Realität ist oft ungeschliffener. Heute, im Dezember 2010, haben der Vater und die Tante sich schon wieder sehr lange nicht gesprochen.

Hans-Christian Küchelmann hat beschlossen, diese ganze Suppe für sich auszulöffeln, aufzuarbeiten. Und dann den Teller abzuwaschen und zurück in den Schrank zu stellen.

Er schaut jetzt genau hin. Vor ein paar Jahren, nach einer plötzlichen Trennung, sei seine Welt mit Vollgas gegen eine Mauer gerast, sagt er. Er bekam starke Depressionen, wollte sich das Leben nehmen und begann eine Therapie. "Und wie das immer so ist, kommt dabei heraus, dass das nicht das erste Mal war, dass Beziehungsmuster sich wiederholen und dass das alles eigentlich mit der Familie zu tun hat." Er bat seinen Vater, mit ihm in eine Therapiestunde zu kommen, und der willigte ein.

Hans-Christian Küchelmann fühlt sich ein Stück freier, mit jedem seiner Gedanken, den er besser versteht. Und er kann sich langsam auch mit denen versöhnen, die er nicht versteht. Im nächsten Jahr will er Gertraudes Akten selbst anschauen. Er konnte sich bisher noch nicht dazu durchringen.

In manchen Momenten ist Hans-Christian Küchelmann ganz zufrieden mit seinem Leben. Er mag seine Arbeit. Sein kleines Fischerhaus ist gemütlich, zu Weihnachten wird er mit ein paar Freunden kochen, die er seit Mitte der Neunziger immer an Heiligabend trifft. Eine Art Ersatzfamilie.

An einen Stiftebecher hat er einen Zettel geklebt: "Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar." Hans-Christian Küchelmann will keine Kinder.




Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

Samstag, 25. Dezember 2010

--->>> Torsten Bewernitz: Das #Sein #verstimmt das #Bewusstsein <<<--- (Grundrisse Heft 29)

 

Torsten Bewernitz: Das Sein verstimmt das Bewusstsein

(Grundrisse - Heft 29)

 

http://www.grundrisse.net/grundrisse29/verstimmt_das_Bewusstsein.htm


 

Soundtrack: Daddy Longleg: "Crime"

"we never said we know a simple way
we never said that everything's okay
so fuckin governments shut up
so goddamn know-it-alls piss off

who the fuck knows what's going on
who brings the food, the streets, the goods
we are the workers, we know what's going on
we should know how to organize!"

(von "Barricadas", Falling Down Records 2007)

Um kaum einen Begriff ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien, Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome – unisono heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse notwendig.

Insbesondere unter Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von 'Bewusstsein' definiert den Begriff als 'politisch'. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als 'nationales Bewusstsein' artikuliert.

Für Intellektuelle und Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von 'Bewusstsein' zu verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass unsere 'Politik' für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.

Daran ist weniger falsch, als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln, würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das Bewusstsein der Intellektuellen.

Allein: Vorträge etwa über die 'Globalisierung', Bewegungen am anderen Ende der Welt oder Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben, das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben: Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein Buch über 'Globalisierung' lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf mein Leben hat.

Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben. Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die ReferentIn den anderen Anwesenden ein 'falsches Bewusstsein' vermitteln könnte.

Das setzt voraus, dass wir unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen, dann halten wir das für ("notwendig falsches") Bewusstsein. Unser Sein als Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen bestimmt.

Vielleicht aber haben unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett, hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht, Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke Ideologie.

Das zeigt den Fehler an der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.

Das ist schlichtweg arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben (das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen- Wissen Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht- Studis oder Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.

Die 'linken' Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen wollte, 'um Dinge umzusetzen'. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee –und die kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte. Darüber hinaus vermuten 'linke Intellektuelle', alle würden deswegen studieren, sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle.

Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten?

Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte – Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision 'Hartz IV kriegen oder Superstar werden' ist?

Jener Hauptschülerin, die irgendwann einmal auf einem Privatsender auftauchte, wird das Bewusstsein abgesprochen, dass der autonome Kommunenbewohner in Scheinselbständigkeit haben soll. Sie basht Intellektuelle, argumentiert populistisch und wird vielleicht 'rechts'. Hat sie deswegen weniger Bewusstsein? Nein!

Wie viele ökonomische – und auf die kommt es an – linke Projekte scheitern genau daran? Weil Leute erst gar nicht mitmachen, weil der Scherbenhaufen ein Desaster nicht nur für eine Person, sondern für ein reales, ökonomisches Kollektiv – sei es eine Familie oder eine Kommune - ein Desaster darstellen könnte? Nicht umsonst betont z.B. die Streikforschung, dass über einen Streik nicht auf der Betriebsversammlung, sondern am Küchentisch entschieden wird, weil von einem ausbleibenden Lohn oder einer Entlassung nicht nur eine Person betroffen ist.

Junge Linke, die vielleicht noch andere Finanzierungsquellen haben – sei es, dass sie immer wieder einen neuen Job finden oder aber Mama und Papa in der Hinterhand haben – spüren diese Bedrohung nicht dermaßen: Und darum ist die moderne Linke ein Jugendphänomen. Linke ökonomische Projekte scheitern oft genau an diesen verschiedenen Ansprüchen: Sobald eine ökonomisch attraktivere Lösung in Griffweite ist, ist das kollektive ökonomische Projekt von gestern: Man ist ja nicht weg, sondern immer noch in der Antifa, bei dem Anti-Atom- oder Kriegstreffen oder im Theoriezirkel und konstatiert dann am besten noch ein mangelndes Bewusstsein derjenigen, die dort nicht sind. Man ist enttäuscht von den GenossInnen, die bei der letzten Hausbesetzung oder Demo nicht dabei waren. Vielleicht waren sie ja arbeiten um sich oder ein Kollektiv zu ernähren? Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Deswegen muss die Frage erlaubt sein: Wie gehen die, die studiert haben, sich mit Theorie beschäftigen und eine 'politische' Alltagspraxis haben, mit denen um, die all das nicht haben? Sind das 'Spießer'? Oder - noch schlimmer – 'Prolls'? Mit denen man sich gar nicht auseinandersetzt? Die in der U-Bahn einfach nur nerven? Die andere Musik (Schlager) hören und Fußball besser als Yoga finden? Befinden wir uns in einer 'linken Szene', die prima miteinander klarkommt, weil da ja alle das richtige 'politische' Bewusstsein haben? Schmeißen wir Leute mit einer Deutschlandfahne auf dem Parker oder nach einem frauenfeindlichen Witz sofort aus dem autonomen Zentrum, damit wir nicht noch einmal Diskussionen führen müssen, über die wir doch schon vor 10 Jahren einen Konsens erreicht haben? Oder ganz polemisch: Haben wir unser gemütliches Plätzchen im Kapitalismus gefunden, in einer Wagenburg, einer Kommune oder einem besetzten Haus? Das alles sind Sachen, die ich durchaus gut finde, zu denen ich hin gehe, weil auch ich gerne Punk höre, mich mit Theorie auseinandersetze und auch glücklich bin, wenn ich nicht – wie am Arbeitsplatz – nach einer Kindesmisshandlung den nächsten Ruf nach der Todesstrafe hören muss oder rassistische Türkenwitze vor einem Fußballspiel. Aber das ist nicht das wahre Leben und oft langweilig. An dem Punkt wünsche ich manchmal, ich würde mich für Fußball interessieren und nicht nur für meine Arbeitsbedingungen.

Ein schönes Beispiel für das Missverständnis zwischen politischem und ökonomischem Bewusstsein sind die Studierendenproteste gegen die Erhebung von Studiengebühren: Die GegnerInnen von Studiengebühren argumentieren, dass alle Studierenden gegen Studiengebühren sein müssten, weil dadurch weniger Bildung für viele erhältlich sei. Das soll auch für Konzernbesitzertöchter und Politikersöhne gelten. Wenn diese nicht gegen Studiengebühren seien, sei das falsches Bewusstsein.

Das ist schlichtweg falsch. Das Kind des reichen Unternehmers hat ein immenses Bewusstsein davon, dass es selber keinen Schaden durch Studiengebühren hat, vielleicht sogar einen Nutzen, wenn weniger Arbeiterkinder studieren und die Lehrenden dadurch mehr Zeit für ihn oder sie.

Notwendig falsch ist sein oder ihr Bewusstsein höchstens in dem Sinne, dass das Unternehmerkind automatisch davon ausgeht, später eine gehobene Position einzunehmen und keine ökonomischen Probleme zu haben. Hintergrund ist aber nicht, dass ihnen niemand erklärt hat, dass sie jederzeit plötzlich ArbeitnehmerInnen werden können, sondern, dass sie diese Erfahrung nie gemacht haben. Ihr Bewusstsein ist ihrer aktuellen Situation durchaus angemessen.

Ein ganz anderes Beispiel: Stellen wir uns eine Ärztin vor, die aufgrund massiver geschlechtlicher Diskriminierung entscheidet, ihren Job in einer Klinik aufzugeben und sich selbstständig zu machen, um nicht weiter vom mangelnden Wohlwollen alter männlicher Chefärzte abhängig zu sein, die der Meinung sind, das Frauen nicht operieren können.

Sie kommt aus besserem Hause, hat 1968 studiert, setzt sich für Minderheiten ein und liest Marx und Sartre. Mit der neuen eigenen Praxis sieht sie sich der Situation ausgesetzt, Büro- und Reinigungskräfte einzustellen. Diese erwarten einen gewissen Lohn, Urlaub etc., keineswegs bahnbrechende Forderungen, sondern die arbeitsrechtlich garantierten Mindeststandards. Dennoch fühlt sich die Ärztin nach einer gewissen Zeit über den Tisch gezogen, entwickelt eine entsprechende Aversion gegen Gewerkschaften und Parteien, die Gewerkschaftsforderungen unterstützen. Sie hatte guten Grund, selbstständig zu werden, spendet jährlich an Greenpeace oder amnesty international. Obwohl sie diese Praxen weiterhin beibehält, entwickelt sie ein Bewusstsein dafür, dass sie ihre Angestellten ausbeuten muss. Sie entwickelt ein Klassenbewusstein – und zwar das für sie durchaus richtige. Kein Grund, sie zu verachten, denn ihre Handlungsmotivationen sind vollkommen nachvollziehbar.

Sie hat sich bei aller Sympathie für Befreiungsbewegungen und bei aller Empathie für soziale Gerechtigkeit durch ihr Leben und ihr Studium einen gewissen Lifestyle angeeignet (den Bourdieuschen Habitus), den sie nicht missen möchte und über den sie nicht hinaus denken kann. Darüber hinaus hat sie vielleicht Familie, die mit ernährt werden muss. Sie ist vielleicht mit den Ansprüchen in ihre Selbständigkeit hinein gegangen, eine Gemeinschaftspraxis mit egalitärer Bezahlung zu gründen.

Es hat aber nicht gereicht, erstens, legitimer Weise, nicht für die Familie und zweitens, nicht so legitim, weil sie ihren Lebensstil nicht ändern wollte – zum Teil aber auch, folgt man dem Bourdieuschen Habitus-Begriff, weil sie nicht konnte.

Ein kollektives Projekt, das so unsicher ist, dass es nach einigen Jahren scheitern könnte, kam gar nicht erst in Frage, denn das hätte das familiäre Kollektiv gefährdet. Ihre Klasseninteressen haben sich massiv verändert, und das war ökonomisch auch nicht anders möglich. Trotz dieses Verständnisses muss ich aber als Putzkraft in der selben Praxis gegen sie intervenieren, wenn ich auch nur einen Funken Bewusstsein habe.

Einige der ReferentInnen und BesucherInnen linker Veranstaltungen und LeserInnen linker Bücher und Zeitschriften werden sich genau so entwickeln wie in diesem fiktiven Beispiel. Das Wissen aus den Veranstaltungen und Büchern steht ihnen nach wie vor zur Verfügung, ebenso das T-Shirt mit dem roten Stern, das Palästinenser- Tuch, der Kapuzenpulli und die anderen Symbole vermeintlich 'linken' Bewusstseins. Am notwendigen Verhalten ändern diese Symbole gar nichts. Falsches Bewusstsein haben sie dann, wenn sie trotz ihrer ökonomischen Position weiterhin jeder Lohn- und Urlaubsforderung nachgeben, weil sie sie politisch richtig finden. Dann würden sie so falsch liegen wie Studierende, die für einen Minimallohn in der Kneipe schuften und ihren Urlaubsanspruch vergessen. Nach dem Studium wird sich womöglich. herausstellen, dass die einstmals Liberalen prima ArbeitsrechtlerInnen sind und die Linken vorbildliche Ausbeuter werden. Ob sie jemals Marx oder Friedman gelesen haben oder auch nur eine einzige linke Info-Veranstaltung besucht haben, ob sie während des Studiums klassische Musik oder Punkrock gehört haben, hat darauf keinen Einfluss.

Bewusstsein heißt eben nicht, zu wissen, was diese oder jene TheoretikerInnen mal gesagt haben oder wie die Weltwirtschaft funktioniert. Bewusstsein heißt, die eigene Lage zu erkennen und beurteilen zu können. Was sich heute Politik oder politisches Engagement schimpft, hat damit selten etwas zu tun. Im besten Falle wird sich der liberale Student einer Gewerkschaft anschließen und die linke Ärztin einem Arbeitgeberverband, um die entsprechenden Interessen besser durchsetzen zu können. In diesem Moment ist aus der Klasse an sich die Klasse für sich geworden. Es bestimmt eben nicht der/die (ideologische) TheoretikerIn das Bewusstsein, sondern allein das Sein, die blanken Rahmenbedingungen der eigenen Existenz. Wenn ökonomisch relevante Argumente mein Handeln motivieren, habe ich vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber kein falsches Bewusstsein. Von jenen, die dieses Bewusstein haben, ein anderes Handeln einzufordern – und das ist das Geschäft linker Politik – kann keinen Erfolg haben. Wir sind auf uns selber gestellt. Notwendig ist nicht ein weiterer Vortrag, sondern ein Erfahrungsaustausch, damit wir nicht alleine da stehen.

Die Hauptschülerin, die Ärztin und der arbeitende Familienvater waren eben doch begrenzt determiniert.

Menschen sind nicht frei in der Gesellschaft des Kapitalismus und es ist absolut nicht sozialistisch oder anarchistisch, das zu behaupten:

Wenn dem so wäre, bräuchte es kein Engagement für einen Anarchismus. Keine Entscheidung ist undeterminiert – das zu behaupten, ist letztendlich Ideologie. Menschen, die entsprechend anders entscheiden, diese Entscheidungen vorzuwerfen, ist autoritär. Die Existenz einer solchen Freiheit vorauszusetzen, würde erstens bedeuten, dass der Neoliberalismus mit seinem Diktum 'Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied' recht hätte:

Wenn ich leide, bin ich selber Schuld. Ich alleine kann das ja ändern. Zweitens verkennt es vollkommen die Struktur des Kapitalismus(der klassische Fehler des Anarchismus), wenn der Mensch so frei wäre, ist seine Rolle im Kapitalismus seine freie Entscheidung: Ich werde wie die zitierte Hartz IV-Hauptschülerin ALG II-Empfänger – wie es die US-amerikanischen 'Freegans', die sich für AnarchistInnen halten, ausdrücken: "Wer arm ist und darunter leidet, ist selber Schuld' – oder aber erfolgreicher Selbständiger: Dass das nicht funktioniert, merkt jedeR Arbeitslose sehr schnell. Wer nicht nur mit linken AnarchistInnen rumhängt, sondern auch mit (Schein-)Selbstständigen, Angestellten extrem kapitalistischer Firmen und Arbeitslosen, die nie studiert haben, merkt schnell, dass diese alle nie frei entschieden haben: Der Wunsch nach Freiheit und die philosophische Diagnose, der Mensch sei frei in seinen Entscheidungen, sind etwas sehr Unterschiedliches. Und nur den Wunsch braucht es, um Anarchist zu sein. Die Diagnose, es sei schon so, teilen die Ideologen des Neoliberalismus.

Aus der Erkenntnis, dass das 'Sein' nicht zu Erkennen ist, zu schließen, dass es nicht existiere, ist genau so fehlerhaft wie zu behaupten, es sei auf eine bestimmte Weise. Diese Version von Freiheit wird zu einem egomanen Individualismus und dieser ist ein Hauptproblem heutiger anarchistischer PraktikerInnen.

Das Rezept, das ich dagegen setze, ist der Austausch von Erfahrungen in einem ökonomischen Sinne. Diese entstehen nicht in einem wissenschaftlichen Theorieaustausch, sondern in einem Austausch der ökonomischen Abhängigkeiten und einer gemeinsamen Wehrhaftigkeit. In einer halbwegs egalitären Gesellschaft determinieren uns Dein, mein, Annas und Peters Bewusstsein und nicht nur das meine –woher um Himmels Willen soll das kommen? Aus Büchern? Das eigene 'Bewusstsein', das schon mal gar keines ist, wenn es einzig und allein meines ist, weil es dann partikular ist, erschient arg beliebig. Es ist dem populistischen Begriff der 'Anarchie' als Chaos und Terror nicht besonders fern. Eine heutige Freiheit des einzelnen Menschen zu konstatieren, ist nicht Grundannahme jeder anarchistischen Theorie und Praxis, es ist das Gegenteil: Es ist von hinten bis vorne Neoliberalismus.

Solidarität entsteht nicht durch das Lesen von Büchern oder dem Hören von Musik. Das ist bestenfalls Mitleid. Wir können uns weder mit einem 'israelischen' noch einem 'palästinensischen' Volk noch mit einer indigenen Bewegung in Chiapas solidarisch erklären, weil Voraussetzung jeder Solidarität das Nachvollziehen der Ausbeutung anhand der eigenen Verhältnisse ist. Um uns mit Israel oder Palästina solidarisch zu erklären, müssten wir uns national definieren und entweder eine entsprechende Schuld oder eine entsprechende Situation erkennen. Allerdings können wir Ähnlichkeiten in staatlicher Repression und ökonomischer Ausbeutung erkennen, wenn wir mit den Menschen reden, und dort auch entsprechend solidarisch sein.

Das ist das Faszinierende z.B. an der EZLN: Sie erzählen und machen Erfahrungen begreif- und vergleichbar. Die Ausbeutung in der Maquiladora mag intensiver sein als die im deutschen CallCenter: Nach einem Austausch erkenne ich gemeinsame Strukturen. Erst so kann ich solidarisch handeln. Für alles andere könnten wir auch in die Kirche gehen. Wenn Buch und Musik das Kriterium für Bewusstsein wären, dann täte es auch Die Bibel und der Choral – und dann täte es auch 'Mein Kampf' und Rammstein. Es ist klar, das so etwas fatal ist. Niemand bekommt von mir auch nur einen Hauch von Solidarität, weil er Bakunin liest und Slime hört.

Das Sein bestimmt (und verstimmt) das Bewusstsein. Etwas marxistische Theorie täte dem Anarchismus auch in diesem Punkt ganz gut.

e-Mail: bewernt@uni-muenster.de




Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken