Wen pflegt Rösler?
Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) kündigte unlängst an, eine privat finanzierte, kapitalgedeckte Zusatzversicherung als Ergänzung zur bestehenden Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen.
Damit sollte der im Koalitionsvertrag festgehaltene "Ausbau der gesetzlich finanzierten Bereichs Gesundheits- und Pflegeleistungen und einer Verbesserung der wettbewerblichen Strukturen" umgesetzt werden. Neuerdings rudert Rösler plötzlich wieder ein Stück weit zurück. Von einer privaten Zusatzversicherung ist augenblicklich nicht mehr die Rede, hingegen von einer gesetzlichen Neuregelung des Pflege-TÜVs zu Jahresbeginn.
Das derzeitige Pflegesystem ist in der Tat äußerst marode und liegt weitgehend im Verborgenen. Wer einen Blick hinter die Kulissen wirft, muss erkennen, dass zwar eine Reform bezüglich Qualität und Transparenz dringend erforderlich ist, nicht jedoch eine private Zusatzversicherung.
Von Christine Wicht
Mit der Einführung einer privaten Pflegezusatzversicherung würde die schwarz-gelbe Koalition der Versicherungsbranche – wie bei der Riester-Rente – einen weiteren lukrativen Markt verschaffen und dem Bürger einen weiteren Beleg dafür liefern, welche Klientel die FDP pflegt. Die Finanzierung der Pflege müsse langfristig gesichert werden, forderte noch vor einigen Wochen Gesundheitsminister Rösler, deshalb sei es nötig, umzudenken und neue Wege einzuschlagen. "Die jungen Menschen müssen heute anfangen, an morgen zu denken und finanziell vorzusorgen", so Rösler.
Es ist genug Geld in der Pflegeversicherung
Laut Aussagen des Bundesministeriums für Gesundheit, BMG (Stand: Januar 2009) sind in Deutschland rund 70 Millionen Menschen in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert. Rund 9 Millionen Menschen haben eine private Pflegeversicherung. Rund 2,1 Millionen Menschen beziehen Leistungen der Pflegeversicherung, davon werden 1,46 Millionen Menschen ambulant gepflegt und rund 0,71 Millionen Menschen stationär (Quelle: vdk). Über 60 Millionen Menschen zahlen ihren Beitrag in die gesetzliche Pflegeversicherung. Wenn alle diese Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung gezwungen würden, wäre dies ein äußerst lukratives Geschäftsfeld für die Versicherungskonzerne.
Den Befürwortern und Profiteuren einer privaten Zusatzversicherung mag deshalb die Meldung des Bundesgesundheitsministeriums vom 2. Dezember 2010 wohl gar nicht gefallen haben, in welcher es heißt: "Aktuelle Berichte, die finanzielle Lage der Pflegeversicherung habe sich verschlechtert, treffen nicht zu. Durch die steigenden Beschäftigtenzahlen hat sich die Einnahmesituation der Pflegeversicherung deutlich besser entwickelt. So ist auch für 2010 ein Überschuss zu erwarten. Entgegen bisheriger Einschätzung werden die Rücklagen der Pflegeversicherung daher länger reichen." Nach neuen Berechnungen steigt der Beitrag im Jahr 2014 von 1,95 Prozent auf 2,1 Prozent und bis zum Jahr 2050 auf 2,8 Prozent.
Die Frage nach Leistungsinhalt und –umfang müssten im Vordergrund stehen
Die Barmer GEK hat im Dezember den "Pflegereport 2010" veröffentlicht, nach welchem fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann damit rechnen müssen, dement zu werden. Die Studie wurde vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen (ZeS) unter Leitung von Professor Heinz Rothgang durchgeführt, nach dessen Meinung der demographische Wandel – ceteris paribus – (wobei die übrigen Dinge gleich sind) dazu führt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2040 um rund die Hälfte über der derzeitigen Zahl liegt (Quelle: ZeS [PDF - 1.4 MB]). Barmer GEK Vorstand Rolf-Ulrich Schlenker appellierte an die Koalition, die Neuausrichtung der Pflege zu forcieren. Bevor die Politik alternative Versicherungs- und Finanzierungsformen ins Spiel bringe, solle sie sich zuerst über den künftigen Leistungsinhalt und -umfang der Pflegeversicherung verständigen.
Ob und wie eine ergänzende Finanzierung des Pflegebedarfs zu realisieren sei, hänge im hohen Maße vom künftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab. "Vorrangig muss, so Schlenker, die Leistungsfrage beantwortet werden. Erst dann kann entschieden werden, ob wir überhaupt eine neue Finanzierungssäule in der Pflegeversicherung brauchen oder ob nicht die klassische Beitragsfinanzierung eine angemessene Antwort auf die Finanzierungsherausforderung gibt." (Quelle: Barmer).
Spekulative Hochrechnungen
"Spätestens im Jahr 2045 (!) müssen Arbeitnehmer rund sieben Prozent ihres Einkommens für die Pflegeversicherung abführen, ließ der Freiburger Professor und Versicherungslobbyist Bernd Raffelhüschen schon vor drei Jahren verlautbaren. Das ist eine Steigerung um mehr als 400 Prozent im Vergleich zum heutigen Satz. Für den "Wissenschaftler" sind die Konsequenzen aus dem "erschreckenden Befund" offenkundig: Das umlagefinanzierte System müsse schnellstens reformiert werden. Am einfachsten ginge das bei der Pflege. "Noch können wir aus der umlagefinanzierten Pflegeversicherung aussteigen", alarmierte Raffelhüschen.
Und wenn man dann auch noch Renditeversprechen damit verbindet, die meiner Ansicht nach unrealistisch sind, halte ich das für moralisch fragwürdig." Braun sieht ein Belegungsproblem der Einrichtungen und befürchtet, dass alte Menschen ins Heim gesteckt werden, obwohl sie noch zu Hause betreut werden könnten. Es gebe bereits heute geschätzte 70.000 stationäre Heimplätze, die nicht belegt seien. "Das wird interessanterweise nie diskutiert in diesen ganzen Prognosen", kritisiert Braun. Er befürchtet, dass die Leerstände in Heimen durch das florierende Geschäft mit Pflegeimmobilien in Zukunft dramatisch zunehmen werden und dadurch viele Häuser in den nächsten Jahren in die Pleite getrieben werden und schließen müssen" (Quelle: Care Invest 12/08 [PDF - 184 KB]).
Ein überzogener Pachtpreis wiederum kann nur kompensiert werden, wenn im täglichen Pflegebetrieb gespart wird. Wenig Personal und niedrigste Ausgaben für die Verpflegung alter Menschen sind die Konsequenzen, sonst geht die Renditerechnung nicht auf. Am Ende der Kette befinden sich letztlich die Senioren, die die verfehlten Immobiliengeschäfte dadurch erleiden müssen, dass sie nicht mehr menschenwürdig gepflegt werden können. Ein Teufelskreis, wie Nikolaos Tavridis, Geschäftsführer der axion consult GmbH, in seinem Gespräch mit Gottlob Schober (Redaktionsteam von Report Mainz) in dem Buch "Im Netz der Pflegemafia" offenbart [PDF - 136 KB]. Dass aus der Pflege alter, bedürftiger, hilfloser Menschen Kapital geschlagen wird, ist ethisch und moralisch höchst zweifelhaft.
Es wird von Pflegefondsanbietern damit geworben, dass stationäre Pflege, mit staatlich geregelten sicheren Einnahmen ein riesiger Wachstumsmarkt sei, bei dem das erforderliche Investitionsvolumen in den nächsten Jahren auf bis zu fünf Mrd. EUR geschätzt werde. So werden etwa die Vorteile eines Pflegefonds gegenüber eines Immobilienfonds gepriesen: konjunkturunabhängiger Wachstumsmarkt für stationäre Pflege, sofort 6,5 % p.a., monatliche Ausschüttung steigend, steuerfreie Ausschüttungen, staatlich geregelte Mieteinnahmen, ein langfristiger Pachtvertrag mit erfahrenem Betreiber, Nebenkosten, Instandhaltung trägt der Betreiber, Vollbelegung, Top-Leistungsbilanz, Best-Rating der Analysten, Finanzierung der Beteiligung möglich.
Die Ärzte der Modellpraxis führen regelmäßige Visiten auf den Pflegestationen durch und stellen einen Bereitschaftsdienst. Krankenhauseinweisungen sind dann vergleichsweise selten." Beckmann kommt in ihrer Dissertation zu folgendem Ergebnis: "Vorteile für die Krankenkassen lassen sich errechnen und sind nicht von der Hand zu weisen: Teure Krankenhauseinweisungen unterbleiben, Wegstrecken für Ärzte fallen nicht an, eine wirtschaftliche Verschreibungspraxis für Medikamente ist durchgesetzt" (Quelle: Fussek, Schober, Im Netz der Pflegemafia, S. 267/268, siehe auch Fussek Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 21.10.2009). Das Buch enthält unter anderem das erschütternde Protokoll einer Pflegekraft, die in der Nacht allein auf sich gestellt für 72 Insassen zuständig ist. Aber nächtliche Prüfungen durch den Medizinischen Dienst seien äußerst selten. Heiminsassen würden angegurtet um Stürze zu verhindern. Dabei hätten Untersuchungen ergeben, dass eine Sturzprophylaxe oder so genannte Hüftsturzhosen Stürze massiv einschränken und Kosten (Operation und Behandlung von Oberschenkelhalsbrüchen) enorm senken würden.
Eine andere Pflegekraft berichtet, dass Bewohner nur um Pflegekosten und -zeit zu sparen während sie auf dem Toilettenstuhl sitzen, gefüttert werden und Bettpfannen von anderen Bewohnern ohne Deckel an ihnen vorbei getragen werden, während sie essen. Um diese menschenunwürdige Praxis nachfühlen zu können, empfehlen die Autoren Catering auf modernen Toilettenstühlen im Bundestag. Dann könnte unsere Elite noch effizienter arbeiten und obendrein könnten Toilettenzeiten mühelos rationalisiert werden (siehe auch: BR-Online). Viele Einrichtungen geben, so die Autoren, unter vier Euro für die Verpflegung der Bewohner aus, obwohl sie 3000 Euro im Monat kassieren. Da wird so manche Katze oder Hund in unserem Lande besser versorgt.
Eine vertragswidrige Unterbesetzung von 10 Vollkräften bedeutet, auf ein Jahr hochgerechnet, einen zusätzlichen Profit von rund 800.000 DM (Erhebung im Jahr 2000), dem keine entsprechende Leistung der Pflegeeinrichtung gegenüberstehe (Quelle: Axion Consult [PDF - 184 KB]).
Der VdK hat im Übrigen gegen die verfehlte Gesundheitsreform, bei der die steigenden Gesundheitskosten in Form von Zusatzbeiträgen einseitig den Arbeitnehmern und Rentnern aufgebürdet werden, die Kampagne "stoppt den Sozialabbau" gestartet, an der sich jeder beteiligen kann. Nach Meinung von Claus Fussek muss das System Pflege grundsätzlich reformiert und für größere Transparenz gesorgt werden. Außerdem müssten die häusliche Pflege und alternative Wohnformen flächendeckend und bezahlbar ausgebaut werden. Es sei ausreichend Geld im gesamten System. Leider werde nach wie vor das meiste Geld in Pflegeheime investiert, obwohl eigentlich niemand später seinen Lebensabend in einem Pflegeheim verbringen möchte.
Die wichtigsten dieser Grundsätze fänden sich im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1982, in dem bestimmt wird, dass der Bevölkerung eine gute Gesundheits- und Krankenpflege angeboten werden soll, dass die Pflege zu gleichen Bedingungen für alle geleistet werden und dass sie leicht zugänglich sein soll. Die Pflege soll sich auf die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts und der persönlichen Integrität des Patienten gründen und soweit möglich nach gemeinsamer Beratung ausgeformt und durchgeführt werden (Quelle: sverige.de).
Buchempfehlung: Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden Claus Fussek, Gottlob Schober, 2009, 443 Seiten, Maße: 12,5 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch Goldmann, 9,50 Euro.
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