Dienstag, 29. November 2011

--->>> #wenn der #Verzicht den #Alltag #prägt - zwei Frauen, zwei Schicksale ... [via Hanauer Anzeiger]


Wenn der Verzicht den Alltag prägt

 (Hanauer Anzeiger - 26.11.2011 - Seite 25)

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Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

--->>> "Die #Verarmung #wird #überhaupt #nicht #wahrgenommen" -->> #Armut und #Ernährung in #Deutschland.


"Die Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen"

 

von http://www.direkteaktion.org  

 
[via Linke Zeitung]
 
http://www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=12328&Itemid=1
 
 

Armut und Ernährung in Deutschland. Interview mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg.

Die wachsende soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in der Ernährungssituation wider. Laut Studien ernähren sich Menschen mit niedrigem Einkommen schlechter als Reiche, was sich auch in einer durchschnittlich niedrigeren Lebenserwartung niederschlägt. Die DA sprach mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) über Tafelwirtschaft und Widerstand gegen die Monopole in der Nahrungsmittelindustrie.

Im Gegensatz zu früher führt Armut in den Industriestaaten heute eher zu Über- als zu Unterernährung. In den Medien wird das häufig mit mangelnder Bildung erklärt, wie siehst du diesen Zusammenhang?

Einerseits kommt es darauf an, welche Ernährung man sich leisten kann, und andererseits, ob man weiß, was zu einer guten Ernährung gehört. Aber selbst wenn einem das bewusst ist, bringt es nicht viel, wenn man es sich nicht leisten kann. Betrachtet man nun, was Menschen mit den untersten Einkommen, Hartz-IV oder Sozialhilfe, an Geld für die Ernährung zugestanden wird - AsylbewerberInnen erhalten noch viel weniger -, dann ist klar, dass die Menschen, die sich halbwegs gesund ernähren wollen, immer zum Billigsten greifen müssen.

Inzwischen weiß man ja auch, dass satt werden alleine nicht genügt. Es kommt auch auf die Qualität der Lebensmittel an, also etwa auf ihren Nährstoffgehalt. Das kann zu Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen führen. Solche Mangelerscheinungen sind in anderen Teilen der Welt viel weiter verbreitet, es gibt sie aber auch in der Bundesrepublik.

Ein weiterer Aspekt ist, dass diese Billignahrung eben auch unter billigen Bedingungen produziert wird, so dass die ProduzentInnen kaum etwas daran verdienen. Armut in der Landwirtschaft gibt es auch in Europa, die KollegInnen in den Gewächshäusern in Almería leben unter elenden Bedingungen, und wir bekommen hier das billige Gemüse auf deren Kosten.

Vor einigen Jahren gab es mehrere sog. Selbstversuche, in denen meist selbst nicht von ALG-II lebende Menschen versuchten, sich über einen bestimmten Zeitraum nur vom Regelsatz gesund zu ernähren. Geht das überhaupt?

Das kann man mit der Realität gar nicht vergleichen. Natürlich kann ich mal für einen Monat alle Anschaffungen zurückstellen und dann 200 oder 250 Euro im Monat für Ernährung ausgeben. Aber wenn man wirklich alles davon zahlen muss, etwa Möbel, Textilien, Zeitschriften und Bücher, dann bleiben nur noch 130 Euro für die Ernährung. Und wenn ich mich davon über Jahre hinweg halbwegs gesund ernähren will, dann muss ich immer die billigsten Schnäppchen kaufen und komme gerade so aus. Das heißt auch, dass ich vor jedem Einkauf gucken muss, wo es in der Stadt am billigsten ist. Das ist aber nicht realistisch, weil man als ALG-II-Bezieher gar nicht so viel Geld zum hin- und herfahren hat.

Würde es denn etwas bringen, wenn sich mehr Leute Wissen über gesunde Ernährung aneignen, oder ist mehr Geld die einzige Lösung?

Ich denke, man muss beide Seiten sehen und sollte an die Frage, wie sich Menschen ernähren, nicht unmaterialistisch herangehen. Wenn ich den ganzen Tag schuften muss, lange Arbeitswege und wenig Lohn habe, dann habe ich auch keine Zeit und Energie dafür, meine Familie mit frischem Gemüse zu ernähren, das ich mir vom Markt oder vom Produzenten direkt hole. Und dann wird eben zu Fertigprodukten oder Junkfood gegriffen.

Von daher kann die Frage, ob sich breite Teile der Bevölkerung gesund ernähren, nicht moralisierend oder pädagogisierend im Hinblick auf den Einzelnen beantwortet werden. Wir müssen gucken, wie in dieser Gesellschaft überhaupt gelebt wird, wenn wir morgens früh raus müssen, auf wechselnde Baustellen gekarrt werden, spät abends zurückkommen. Wo bleibt denn da noch was vom Kopf frei, um wirklich drauf zu achten?

Manche Selbstorganisationsansätze gehen ja genau in die Richtung, dass man sich nicht zu sehr von der Lohnarbeit verheizen lässt und guckt, dass wir halbwegs fair mit den ProduzentInnen umgehen und eigenen Tausch organisieren und ähnliches.

Das ist doch aber gerade bei Lebensmitteln schwierig. Du hast das ja vorher schon angesprochen, also dass es ja kaum möglich ist, faire Preise zu bezahlen.

Im ALG-II-Satz sind 130 Euro für Ernährung vorgesehen. Ich weiß nicht, was ein fairer Preis wäre, aber ich denke, wenn man faire Preise an die ProduzentInnen - nicht an die Konzerne - zahlen würde, dann müsste man zwischen 250 und 300 Euro im Monat ausgeben. Dafür müsste aber auch mehr von dem, was in dieser Gesellschaft an Reichtum da ist, in diesen Bereich reingehen, anstatt die ProduzentInnen, Landwirte oder PlantagenarbeiterInnen auszupressen und immer nur die Löhne zu drücken.

Viele Menschen decken einen Teil ihres Bedarfs an Lebensmitteln über die Tafeln. Seit den Hartz-Gesetzen ist die Anzahl der Tafeln sprunghaft angestiegen, von 320 im Jahr 2003 auf etwa 870 im Jahr 2010. Sind die Tafeln sinnvoll, weil sie immerhin einige der schlimmsten Auswirkungen der Armut lindern helfen oder dienen sie nur dazu, Großkonzernen ein soziales Image zu verschaffen?

Für die Konzerne ist es kostengünstiger, die abgelaufenen Artikel einfach zur Tafel zu geben, als die Entsorgung zu bezahlen. Andererseits ist es für alle, die wenig Knete haben, ganz praktische Selbsthilfe in der finanziellen Not, wenn man denn bei der Tafel fair behandelt wird. Es gibt ja solche und solche Tafeln. Manche sind von Erwerbslosen selbst organisiert, da geht man fair und solidarisch auf einer Ebene miteinander um. Dann gibt es solche Tafeln wie die hier in Oldenburg, wo man einfach von oben herab etwas zugeteilt kriegt, die Tafelchefin im dicken Sportwagen vorfährt und dann die bürgerliche Mildtätigkeit für die scheinbar unfähigen Armen organisiert. Tafel ist also nicht gleich Tafel.

Der Bundesverband der Tafeln hat im letzten Jahr erklärt, dass ihnen bewusst ist, dass die Tafeln missbraucht werden, um Leistungssätze und Mindestlöhne zu drücken. Das Statistische Bundesamt hat bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) im letzten Jahr festgestellt, dass es Familien gibt, die überhaupt nichts für die Ernährung ausgeben. Die ernähren sich nur über die Tafel. Trotzdem geht das in die Statistik ein, über die der Bedarf berechnet wird. Das ist natürlich Betrug, weil die Erhebung ergeben soll, welchen Bedarf die BezieherInnen wirklich haben. Wenn sich vielleicht Hunderttausende anteilig oder ganz so ernähren müssen, verfälscht das die Statistik. Außerdem sorgt das Tafelwesen nicht für eine anständige Bezahlung derjenigen, die Lebensmittel produzieren und verteilen.

Welche Perspektiven siehst du, um diese Situation zu ändern?

Es wäre wichtig, dass man dieses ganze System wirklich umstellt, von der zentralisierten Produktion zu einer regionalen und unter fairen Bedingungen für ProduzentInnen und KonsumentInnen. In der Bundesrepublik können sich 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung nur anständig ernähren, wenn sie immer die billigsten Angebote kaufen. Diese Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen. Wohnen ist teuer, auch für Mobilität muss man viel Geld ausgeben. So bleiben einem Haushalt mit 1.300 bis 1.500 Euro Nettoeinkommen nur noch 150 Euro im Monat für die Ernährung. In unserer Region haben wir Milcherzeuger, mit denen man über so etwas diskutieren kann.

Das Entscheidende ist, dass verschiedene Gruppen, die rund um ein Thema wie Ernährung aktiv sind, das Gemeinsame sehen. Im Januar gab es die "Wir haben es satt"- Demo zur Grünen Woche, da haben Landwirtschaftsverbände, Umwelt- und TierschützerInnen, GentechnikkritikerInnen und Erwerbslose gemeinsam demonstriert. Das war eine gute Mischung, nicht jeder für sich, sondern bunt durcheinander. Wenn eine Bewegung von unten erfolgreich sein will, sollten auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten. Das müssen wir alle - und da schließe ich mich durchaus mit ein - viel mehr lernen.

Danke für das Interview!

http://www.direkteaktion.org/208/interview-arbeitslosenselbsthilfe-oldenburg




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Gustav Horn: „Ich habe den Eindruck, dass die Wirtschaftspolitik in Deutschland nicht auf der Höhe der Zeit ist.“ [via Nachdenkseiten]

"(...) Wenn wir eine solidarische Versicherung haben, dann darf die Solidarität nicht länger an einem bestimmten Punkt aufhören, nur weil sich die betreffende Person vielleicht privat auch noch absichern kann. Das kann sie ja außerdem tun.(...)"

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Gustav Horn: „Ich habe den Eindruck, dass die Wirtschaftspolitik in Deutschland nicht auf der Höhe der Zeit ist.“

Gespräch anlässlich des Herbstforums des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung am 24. November 2011 mit Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), über den Zustand der Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftspolitik, der Parteien und der Gewerkschaften in Deutschland – und über wirtschaftspolitische Alternativen. Das Gespräch führte Thorsten Hild.

Thorsten Hild: Herr Horn, das diesjährige Herbstforum des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans Böckler-Stiftung findet unter der Überschrift “Gespaltene Gesellschaft” statt. Sie sind der Wissenschaftliche Direktor des ebenfalls der Böckler-Stiftung zugehörigen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Hat die Wirtschaftswissenschaft, die deutsche zumal, die Gesellschaft zu lange ignoriert?

Gustav Horn: Die Antwort ist ein eindeutiges Ja. Die Wirtschaftswissenschaften haben sich jahrelang für Verteilungsfragen bestenfalls am Rande interessiert. Für die einen schien das Problem gelöst zu sein; die anderen vertraten den Standpunkt, dass wir mehr Ungleichheit in Deutschland bräuchten. Letztere These habe ich bis vor kurzem noch auf vielen Tagungen und Meetings gehört: Dass der deutsche Arbeitsmarkt zu gleiche Resultate im Hinblick auf die Lohnbildung für die Beschäftigten hervorbringe, und dass zu hohe Löhne für Unqualifizierte einer der Hauptgründe für die Arbeitslosigkeit sei und man dies ändern müsse.

Das waren die beherrschenden Tendenzen. Die wachsende Schere zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen hat man geflissentlich übersehen. Auf diese Schere ist die deutsche Wirtschaftswissenschaft erst durch die Sozialwissenschaften aufmerksam geworden.

Müssten die Wirtschaftswissenschaften – und die Politikberatung, in der Sie ja auch tätig sind – dann nicht umsteuern: Zuerst definieren, was für die Gesellschaft wünschenswert und notwendig ist und dann schauen, wie dies finanziert werden kann – anstatt, wie seit langem, jede politische Entscheidung von vornherein unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen und als erste Priorität isoliert ausgeglichene Haushalte und Schuldenabbau zu proklamieren? Das wäre ja eine fundamental andere Herangehensweise: Erst einmal zu prüfen, welche Voraussetzungen notwendig sind, um die Gesellschaft zusammen zu halten, und dann zu gucken, woher das Geld dafür zu nehmen ist, anstatt von den bestehenden Verhältnissen auszugehen und von dort aus Politik zu definieren?

Wir dürfen die Debatten der vergangenen Jahre ja nicht losgelöst von dem ökonomisch theoretischen Kontext sehen, der da hieß: Möglichst freie, deregulierte Märkte, ein möglichst zurückhaltender Staat. Vor diesem Hintergrund war es logisch, dass das Hauptaugenmerk der Wirtschaftswissenschaften sich auf Deregulierungsmaßnahmen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, richtete, weil die Existenz hoher Arbeitslosigkeit allein darauf zurückgeführt wurde, dass die Arbeitsmärkte zu stark reguliert seien und zu hohe Lohnersatzleistungen bieten würden. Gleichzeitig wurde fast jede Staatsintervention als schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Dann stellen sich die Fragen eben anders: Wünschenswert ist, dass der Staat sich zurückzieht. Wünschenswert ist, dass die Lohnspreizung zunimmt. Wünschenswert ist, dass die Lohnkosten insgesamt sinken. Dafür hat man dann die entsprechenden Rezepte entwickelt und in den politischen Beratungsprozess eingespeist. Insofern ist die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft schon entsprechend ihres Systems vorgegangen – nur eben in eine völlig falsche Richtung.

Treten kritischere deutsche Wirtschaftswissenschaftler, zu denen ich auch Sie zähle, gegenüber der Politik zu leise auf oder finden sie einfach kein Gehör?

Man kann immer darüber streiten, ob man lauter sein muss. Und man kann sich immer verbessern. Aber es ist nun einmal so, dass jene Denkart, die in den letzten zehn Jahren die wirtschaftspolitische Beratung bestimmt hat, tief in den Gehirngängen der Wirtschaftspolitiker verwurzelt ist, die teilweise heute noch in Amt und Würden sind. Das heißt, Sie treffen, wenn Sie andere Positionen vertreten, häufig auf glattes Unverständnis. Sie werden nicht einmal widerlegt, man versteht Sie einfach nicht. Sie reden in einer anderen Sprache. Das mindert den Ertrag solcher Beratungsgespräche leider deutlich.

Zum Vergleich: Wenn zum Beispiel der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman in seiner Kolumne der New York Times schreibt, argumentiert er zwar sachlich, aber er wirft auf der Grundlage seiner Argumentation dem deutschen Finanzminister a.D., Peer Steinbrück, auch schon einmal „Holzköpfigkeit“ vor. Oder Martin Wolf, sicherlich kein linker Ökonom, der in der Financial Times aber immer makroökonomisch argumentiert: Auch der kommt ja zu sehr konsequenten Aussagen. Oder der verstorbene John Kenneth Galbraith – sein Sohn, James K. Galbraith, ist ja viel zurückhaltender, wenn auch ebenfalls kritisch. Was hält den deutschen Wirtschaftswissenschaftler davon ab? Ist es die Angst, nicht wieder gefragt zu werden? Ist das einfach eine unterschiedliche Diskussionskultur?

Es gibt mehrere Dinge dazu zu sagen. Zum einen muss man ganz grundsätzlich feststellen, dass die angelsächsischen Regierungen, das gilt sowohl für die englische wie für die amerikanische Regierung, in ökonomischen Fragestellungen wesentlich offener sind als die Bundesregierung. Nicht, dass sie alles tun, was man ihnen sagt. Aber sie hören es sich an, ausführlich, und sie entscheiden dann pragmatisch.

Man hat zum Beispiel in Großbritannien und den USA keine langen Diskussionen darüber geführt, ob man Konjunkturprogramme auflegen soll oder nicht. Es war klar, man macht sie während der Krise. Es ging nur noch um die Frage, was man tut, nicht ob man es tut. In Deutschland haben wir uns sehr lange damit geplagt und diskutiert, ob wir so etwas überhaupt tun sollen. Konjunkturpakete waren tabu. Und wenn Sie sich zurück erinnern: Wir durften sie nicht einmal so nennen, sondern mussten sie als konjunkturgerechte Wachstumspolitik bezeichnen. Das zeigt ja schon, mit welch schlechtem Gewissen man Vernünftiges getan hat.

Wie also bricht man diese intellektuelle Sperre oder Blockade auf? Natürlich kann man plastischer, lauter werden, das ist auch eine Temperamentsfrage. Aber auch mit einer ruhigen Argumentation kann man vielleicht auf Dauer Überzeugungen ändern. Das ist jedoch ein sehr langwieriger Prozess, der in Deutschland leider erst in den Anfängen steckt. Wir sind noch weit von der Offenheit und der politischen Flexibilität angelsächsischer Regierungen entfernt. Bei uns ist vieles ideologisch behaftet. Das hängt auch damit zusammen, dass Parteien, wie die SPD beispielsweise, eine Vergangenheit zu verteidigen haben und daher vielfach sehr zögerlich sind, Dinge zu revidieren, die sie vielleicht schlicht und ergreifend falsch gemacht haben.

Damit haben Sie schon die Brücke zur nächsten Frage gebaut: Sie gehören auch zum Wirtschaftspolitischen Rat von SPD-Chef Sigmar Gabriel. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht von “notwendigen und schmerzhaften Reformschritten” in Griechenland; dafür, dass Papandreou diese Reformschritte durchzusetzen versuchte, brachte ihm Gabriel “Respekt” entgegen, nicht für dessen Vorschlag, das Volk darüber entscheiden zu lassen. Ist der “gnadenlose Marktradikalismus”, den Gabriel im gleichen Atemzug kritisierte, nicht zu Ende, sondern in vollem Gange? Ihr Institut, das IMK, hat gerade erst vorgerechnet, was das Sparprogramm in Griechenland für Deutschland bedeuten würde, würde es auf unser Land übertragen. So müssten bspw. die Rentner auf 1000 Euro Rente im Jahr verzichten und Durchschnittsgehälter von 3.250 Euro würden monatlich um 490 Euro gekürzt. Mal tritt die SPD-Spitze für Eurobonds ein, mal nicht? Sie war es auch, die die Schuldenbremse am vehementesten durchgeboxt hat und bis heute verteidigt. Gabriel würde laut eigenen Aussagen jeden Euro Steuermehreinnahmen ausschließlich in die Schuldentilgung stecken und sagt, damit grenze er sich von der Kanzlerin ab? Ist er schlecht beraten oder beratungsresistent? Wie funktioniert so eine Beratung?

Nun, so eine Beratung funktioniert ganz profan: Man diskutiert bestimmte Fragestellungen und gibt seine Ratschläge dazu. Die Politiker hören sich das an, kommentieren es teilweise. Was daraus wird, weiß man als Berater nicht. Das entsteht in den politischen Gremien.

Und es gibt natürlich unterschiedliche Meinungen. Das ist ja auch vernünftig. Aber es erschwert eben die Orientierung; insbesondere dann, wenn, was bei der SPD aber auch den anderen Parteien der Fall ist, die meisten handelnden Politiker keine Ökonomen sind und auch nicht über viel ökonomische Bildung verfügen. Das heißt, sie müssen sich auf einem sehr unbekannten Terrain bewegen, wo sie mit zwei, drei, vier, fünf Meinungen konfrontiert sind. Und sie haben auch nicht den Apparat, der ihnen aus diesem Gemisch von Meinungen das heraus konzentriert, was wichtig sein könnte. Das heißt, der gesamte politische Beratungsbetrieb geht in gewisser Weise ins Leere. Wir äußern unsere Meinung, das war es. Es passiert häufig nichts. Hinzu kommt, speziell bei der SPD, dass sie vor einer Tatsache unglaubliche Angst hat: als eine Schuldenpartei bezeichnet zu werden. Das Hauptargument gegen Peter Bofinger und mich war ja: Wenn wir das als SPD vertreten, dann werden wir niedergemacht von der CDU. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, weil unsere Position als eine Position fehlinterpretiert wurde, die für mehr Schulden sorgt. Ich könnte mich in der derzeitigen Situation sehr damit anfreunden, dass man mehr spart als die Regierung: Ich bin gegen Steuersenkungen zum jetzigen Zeitpunkt. Aber ich bin dies vor dem Hintergrund einer antizyklischen Konjunkturpolitik. Die besagt: Dann, wenn die Wirtschaft runter geht, muss man Mittel haben, um gegenzusteuern. Diese Mittel müssen in guten Zeiten angespart werden. So würde ich meine Vorschläge begründen. Die SPD aber, da haben Sie völlig Recht, begründet dies mit einem durchgehenden Sparprozess, losgelöst von der Konjunktur, und dass wird sich in den nächsten Jahren als grober Fehler erweisen.

Ist die SPD in dem Sinne nicht doch schlecht beraten: Sie hat zwar Berater wie Sie, Bofinger, Flassbeck, aber die andere, die unter deutschen Volkswirten vorherrschende Position, scheint doch so tief verankert zu sein, dass es auch eine gewisse Beratungsresistenz gibt; man lässt sich nicht so leicht überzeugen?

Das ist richtig. Es gibt immer noch die Prägung in Richtung einer Wirtschaftspolitik, die anders orientiert ist. Man kann sie als antikeynesianisch bezeichnen. Sie ist bei den Wirtschaftspolitikern noch sehr ausgeprägt. Es gibt zudem insgesamt einen mangelnden Beratungsapparat, der nicht in der Lage ist, Beratungsergebnisse in den politischen Prozess hineinzutragen.

Innerhalb der Partei?

Innerhalb der Partei. Und natürlich gibt es darüber hinaus sicherlich auch politische Kämpfe untereinander, die ebenfalls vieles verhindern.

Und das Argument, was Sie vorhin schon ansprachen: Man scheut sehr davor zurück eigene Fehler zu benennen.

Es gibt eine Geschichte, und es ist sehr schwer für eine Partei zu sagen, das, was wir damals – besten Willens – gemacht haben, hat sich als nicht so gut erwiesen, deshalb korrigieren wir es jetzt. Das wäre aber eine vernünftige Position. Ich glaube zudem man sollte Politikern nicht immer vorhalten, dass sie Fehler machen. Denn alle Menschen machen hin und wieder Fehler.

Nichts ist doch sympathischer als eigene Fehler einzugestehen. Aber sie schrecken davor zurück.

Ja, sie glauben, dass es ein Nachteil ist, zugeben zu müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Und: Man müsste natürlich auch begründen, was man falsch gemacht hat. Man kann nicht einfach sagen, die Umfragewerte haben sich geändert, deswegen ändere ich meine Politik. Es muss schon eine ökonomische Logik aufgezeigt werde, warum Entscheidungen falsch waren, und warum man es heute anders machen würde. Jeder macht Fehler. Deshalb halte ich auch nichts von Inszenierungen, die dahin gehen, dass ein unfehlbarer Weltökonom durch die Gegend läuft. Den gibt es nämlich nicht.

Was es aber gibt, ist die Erkenntnis, dass ein wirtschaftspolitisches Konzept im Rückblick doch nicht so gut war, wie man vorher geglaubt hat. Sei es, dass es einfach nicht funktioniert hat, sei es, dass sich gravierende Nebenwirkungen gezeigt haben. Es wäre also wichtig, dass die Parteien sich zu ihren Fehlern bekennen. Ich sehe diesen Prozess bei den Grünen sehr viel stärker als bei der SPD. Dort werden die Dinge gerade im Hinblick auf die derzeitige Eurokrise sehr viel mehr durchdacht, auch ökonomisch, und entsprechende Konzepte entwickelt.

Darunter fällt dann auch, dass Trittin sich neulich im Deutschlandfunk nicht nur einfach für Eurobonds ausgesprochen hat, sonder, wenn ich mich richtig erinnere, auch in der Lage war, entsprechend zu argumentieren, was ich auffallend fand.

Ja genau. Und wir sollten die Frage der Eurobonds auch nicht als eine des europäischen Gutmenschentums begreifen oder mit dem Vorwurf des Anti-Europäers verbinden; die Diskussion muss ökonomisch geführt werden. Eine ökonomische Begründung für Eurobonds besteht eben darin, dass wir eine massive Vertrauenskrise in Europa haben; keine Staatsschuldenkrise, sondern eine Vertrauenskrise. Und diese Vertrauenskrise können wir nur durch gemeinschaftliches Handeln überwinden. In vielfältiger Form. Eine dieser Formen ist die Einführung von Eurobonds. Das reicht aber für sich genommen nicht aus. Und: Wir retten uns schließlich selbst damit. Es gibt ja die ersten Anzeichen, dass die Vertrauenskrise, die eben epidemisch ist, auch uns erreicht. Deutschland ist nicht immun dagegen.

Ich komme jetzt noch mal auf das Thema des heutigen Symposiums zurück: Soziale Spaltung. Ein weiterer wichtiger Gestalter neben den Parteien sind die Gewerkschaften. Der DGB bringt beispielsweise durchaus kritische Analysen heraus, deutliches Gehör gegenüber Politik und Medien aber verschafft er sich nicht. So hat der DGB-Vorsitzende Sommer zwar zum 1. Mai dieses Jahres gemeinsam mit SPD-Chef Gabriel einen Beitrag in der FAZ geschrieben, in dem beide den Niedriglohnsektor kritisieren; Sommer verliert darin aber kein Wort über die Agenda 2010, die Gabriel bis heute verteidigt. Laut SPD-Parteisatzung waren außerdem bisher alle DGB-Chefs beratende Mitglieder des SPD-Parteirates. Sie hatten also politischen Einfluss in einem der höchsten Gremien der SPD. Jüngst erst war zudem zu lesen, dass sich die Spitzen von SPD und DGB bislang bei dem regelmäßig tagenden SPD-Gewerkschaftsrat abstimmen, dem neben Sommer alle Einzelvorsitzenden mit SPD-Parteibuch angehören. Wie bewerten Sie die Rolle der Gewerkschaften vor diesem Hintergrund? Haben sie der Politik zu viel durchgehen lassen?

Nun, dazu ist zunächst zu sagen: Die Gewerkschaften sind keine Oppositionspartei. Das ist nicht ihre Funktion. Die Gewerkschaften in Deutschland sind überparteilich. Es gibt viele CDU-Mitglieder in den Gewerkschaften, sicherlich auch viele Grüne, bei der FDP wird es sich in Grenzen halten. Wahlumfragen, die danach fragen, wie Gewerkschaftsmitglieder wählen, zeigen: Die SPD hat dort keine absolute Mehrheit. Das muss man vorweg schicken.

Die Frage ist, wie sich das Verhältnis von Gewerkschaften und SPD entwickelt hat. Das war einmal sehr eng. Es ist aber seit der Agenda 2010 deutlich abgekühlt. So gibt es zwar formal die Verbindung im Vorstand; aber seit der Agenda 2010 ist sie lockerer geworden. Vielmehr reden Gewerkschafter mit allen Parteien und versuchen ihre Vorstellungen in allen Parteien unter zu bringen. Auch in der Regierung. Das geht zwangsläufig zu Lasten der Lautstärke. Denn, wenn die Gewerkschaften sich hinstellen und sagen, alles, was die Regierung macht, ist Mist, dann würde es wahrscheinlich keine Gespräche mehr geben.

Ist das die Befürchtung – die natürlich auch gegenüber der Opposition gilt, die ja vorher die Regierung gebildet hat?

Vor dem Hintergrund der tendenziellen Abkoppelung der Gewerkschaften von der SPD ist die Lobbyarbeit der Gewerkschaften leiser geworden. Weil sie jetzt über alle Parteien hinweg versuchen, ihre Positionen zu stärken. Insofern ist auch nicht zu erwarten, dass plötzlich eine ganz klare Kante gezeigt wird. Zu manchen essentiellen Themen werden Kampagnen aufgelegt wie zum Mindestlohn, die sich an alle Parteien richten.

Ich gebe an Sie als Ökonomen noch ein Stichwort: Der IGM-Chef Huber vertrat erst jüngst die Auffassung, der Vorwurf der Franzosen, die deutschen Gewerkschaften hätten in der Vergangenheit zu geringe Lohnsteigerungen angestrebt, sei “dummes Zeug” und meinte, die großen Exporterfolge Deutschlands hätten “mit dem Lohnniveau gar nichts zu tun” und dass dies nicht zulasten anderer Länder ginge.

Ich verstehe Berthold Huber so: Natürlich fühlt man sich als Gewerkschafter in dieser Frage angegriffen. Die Gewerkschaften versuchen das durchzusetzen, was durchzusetzen ist. Es ist nicht so – das habe ich bei keiner Gewerkschaft bisher wahrgenommen –, dass sie sagen: Wir sind jetzt einmal ganz moderat. Sie hauen sich vielmehr die Nächte um die Ohren und versuchen ihre Ziele in Verhandlungen durchzusetzen. Das Ergebnis aber ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht immer befriedigend. Man kann ja nicht behaupten, dass die Lohnsteigerungen in Deutschland überschäumend wären. Bei den Tariflöhnen kommt es noch so einigermaßen hin. Das ist also keine so große Story.. Bei den nicht tarifgedeckten Löhnen sehen wir allerdings eine katastrophale Entwicklung. Das zu niedrige gesamtwirtschaftliche Lohnniveau in Deutschland ist also vor allen Dingen das Resultat einer abnehmenden Tarifabdeckung.

Aber gerade die in der Frage der Eurokrise ja auch als zentrales Problem in den Mittelpunkt gerückte Lohnstückkostenentwicklung hängt natürlich nun mit der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung zusammen, und wenn dann ein Gewerkschaftschef sagt, die deutschen Exporterfolge hätten nichts mit dieser Lohnentwicklung zu tun, ist das doch fatal, oder nicht?

Wir haben ein Problem mit dem gesamtwirtschaftlichen Lohnniveau, das sich aus den Tariflöhnen plus den Nichttariflöhnen zusammensetzt, den Effektivlöhnen, und das spiegelt sich eben in den Lohnstückkosten wider, das ist richtig.

Die Gewerkschafter reden immer, auch wenn sie das häufig nicht explizit sagen, über die Tariflöhne. Sie schweigen dann über das, was sich außerhalb ihrer Tarifwelt abspielt. Das ist für mich als Ökonom selbstverständlich nicht ausreichend, sondern ich muss mir das gesamt Bild anschauen. Und das gesamte Bild ist so, wie Sie sagen. Und deswegen sage ich auch: Das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau ist zu niedrig. Ich bin aber nicht der Meinung, dass die Gewerkschaften das alleine korrigieren können.

Das können sie nicht, weil sie durch die Politik geschwächt worden sind?

Ja, die Gewerkschaften sind durch die Politik systematisch geschwächt worden. Das war ja auch Ziel der Politik: Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu schwächen, um über ein niedriges Lohnniveau die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Und vor diesem Hintergrund ergibt sich für mich die Schlussfolgerung: Das zu niedrige gesamtwirtschaftliche Lohnniveau ist weniger ein tarifpolitisches Problem als ein wirtschaftspolitisches Problem; das muss vor allem über eine veränderte Arbeitsmarktpolitik korrigiert werden.

Aber halten Sie es nicht für fatal, wenn nicht einmal aus den Gewerkschaften heraus die Stimme laut wird, dass das deutsche Lohnniveau, die deutsche Lohnentwicklung hauptsächlich auch für die Eurokrise verantwortlich zeichnet?

Die Erkenntnis, dass die Eurokrise etwas mit der deutschen Lohnentwicklung zu tun hat, ist leider hierzulande nicht sehr verbreitet. Der Fehler, den bspw. Frau Lagarde gemacht hat, ist, dass sie frontal die Gewerkschaften angegriffen hat. Ich halte davon nichts, weil die Gewerkschaften in ihrem Bereich nichts unversucht lassen. Aber: Es reicht im Ergebnis gesamtwirtschaftlich nicht. Ohne die Wirtschaftspolitik werden wir das auch nicht ändern. Wir brauchen eine andere Wirtschaftspolitik.

Lassen Sie uns jetzt einmal nach vorne schauen: Wenn Sie könnten wie Sie wollten, was würden Sie wirtschafts- und sozialpolitisch als erstes umsetzen, vielleicht drei bis zehn Maßnahmen, Alternativen zur jetzt vorherrschenden Politik?

Mein erstes Ziel wäre, die Eurokrise möglichst rasch in den Griff zu bekommen. Das würde eine andere Politik der Europäischen Zentralbank voraussetzen. Sie müsste als Gläubiger der letzten Instanz arbeiten.

Sie würde also weiter Anleihen aufkaufen…

Sie würde Anleihen aufkaufen und damit die Kurse stabilisieren.

Der zweite Punkt wäre, auch im Sinne der Eurokrise, dass ich einen Eurobond einführen würde, für Verschuldung bis zu einem bestimmten Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes, so dass wir eine sehr großflächige gemeinschaftliche Haftung für die bestehenden Schulden hätten.

Längerfristig würde ich eine Instanz schaffen, die Leistungsbilanzen überwacht, und zwar auf Ungleichgewichte hin – auf Defizite und Überschüsse. Und da müssten wir in der Tat Vertragsänderungen beschließen, die Maßnahmen vorsehen, um Ungleichgewichte zu vermeiden. Denn hierin liegt die Hauptursache der Eurokrise. Das betrifft dann indirekt die Lohnentwicklung und direkt die Fiskalpolitik in den betroffenen Ländern.

Viertens würde ich die Finanzmärkte strikt regulieren und eine deutliche Umstrukturierung des Bankensektors vornehmen, die auch eine Trennung des herkömmlichen Kreditgeschäfts vom Investmentbanking und eine scharfe Regulierung von Finanzmarktprodukten einschließt.

Fünftens gilt es, die Ungleichheit in unserem Land aktiv zu bekämpfen. Das hätte vor allem steuerrechtliche Konsequenzen. Denn über das Steuersystem wurde die Ungleichheit am gröbsten verschärft. Veränderungen würden einen progressiveren Einkommenssteuertarif, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine deutlich höhere Erbschaftssteuer, eine Finanztransaktionssteuer vorsehen. Konjunkturell wären diese Veränderungen bei der Besteuerung in keinem Falle schädlich.

Was würden Sie bei der Vermögenssteuer sagen und beim Spitzensteuersatz?

Beim Spitzensteuersatz kann man sicherlich wieder auf 49 Prozent hoch gehen, man müsste dann allerdings den Tarif etwas strecken. Das wird nicht zu einem Riesenaufkommen führen, aber es wird die Ungleichheit vermindern helfen, weil dann gerade die höheren Einkommen deutlich stärker besteuert werden als bisher. Wichtiger noch ist die Vermögenssteuer. Vermögen ist geronnenes Einkommen, bei dem sich Ungleichheit wirklich verfestigt. Da müssen wir ran. Dass wir dabei alle Vermögensarten gleich besteuern, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, ist klar. Wir brauchen das, um eine dynamische Gesellschaft zu erhalten.

Was würden Sie da für eine Prozentzahl in den Raum werfen?

Ein halbes bis ein Prozent vom Vermögen. Und bei der Erbschaftssteuer würde ich die Freibeträge effektiv auf eine halbe Million begrenzen. Unabhängig davon, ob es ein Betrieb ist oder nicht. Die kleinen Betriebe fallen dabei alle raus. Die brauche nichts zu zahlen. Wenn aber ein Betrieb mehr zahlen muss, weil das Betriebsvermögen höher ist, dann kann er sich das auch leisten.

Kurz zu den Sozialversicherungen in diesem Kontext. Was sagen Sie zu Anhebung bzw. Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen?

Ich würde auch das Sozialversicherungssystem progressiv gestalten. Das ist heute, eben durch die Beitragsbemessungsgrenzen, ja eher regressiv. Ich denke, dass wir auch da ran müssen. Gerade, wenn wir alle Einkommensarten mit einbeziehen wollen. Das halte ich für essentiell. Die Beschränkung auf die Arbeitseinkommen schafft perverse Anreize. Zum Beispiel bei der Entgeltumwandlung, durch die Einkommen den Sozialversicherungen entzogen wird. Oder eben Menschen mit hohen und sehr hohen Einkommen. Wenn wir eine solidarische Versicherung haben, dann darf die Solidarität nicht länger an einem bestimmten Punkt aufhören, nur weil sich die betreffende Person vielleicht privat auch noch absichern kann. Das kann sie ja außerdem tun.

Und was die Beitragsbemessungsgrenze anbelangt, würde dies dann nicht nur für die Rentenversicherung gelten – bei der ja häufig auf die Schweiz verwiesen wird, die bei der Rente keine Beitragsbemessungsgrenze kennt – sondern auch für die Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung?

Ja.

Und sollte man die Beitragsbemessungsgrenze denn einfach nur anheben oder aufheben?

Man sollte sie aufheben und nicht nur anheben. Dann wären auch die Beitragssätze niedriger, die abgegeben werden müssen. Und ich würde auch das Äquivalenzprinzip nicht ad infinitum gelten lassen. Wir müssen es an beiden Einkommensenden ändern: Oben brauchen wir nicht die 1:1-Zuwächse der Rente, die wir bei den Beiträgen haben. Die Menschen haben dann eine so hohe Rente, dass sie in der Tat auch unterproportionale Zuwächse verkraften können. Das Geld, was wir oben bei der Rentenauszahlung einsparen, das müssen wir dann nutzen, um am unteren Ende Minimalrenten zu stabilisieren, womit wir dann ja ebenfalls das Äquivalenzprinzip durchbrechen.

Wird das so diskutiert in den Parteien, die Sie auch beraten?

Wir bringen es immer wieder und die Friedrich Ebert Stiftung hat das auch schon diskutiert. Es ist aber nicht Parteiprogramm. (lacht)

Abschließend: Sehen Sie für Ihre Politikvorschläge in irgendeiner Partei im Bundestag hierzu eine ernstzunehmende Bereitschaft, diese umzusetzen, oder gar eine mögliche politische Mehrheit?

Sagen wir einmal so: Ich bin mit der Wirtschaftspolitik in Deutschland nicht zufrieden. Ich sehe bei der einen Partei mehr, bei der anderen weniger Probleme. Aber Probleme sehe ich eigentlich überall. Ich habe den Eindruck, dass die Wirtschaftspolitik in Deutschland ganz generell gesprochen nicht auf der Höhe der Zeit ist. Sie läuft den Krisenentwicklungen hoffnungslos hinterher. Und die ethische Grundposition der deutschen Wirtschaftspolitik ist: Man muss hart zu den Menschen sein; wirtschaftlich vernünftig ist, wer hart zu den Leuten ist. Das ist eine Herangehensweise, die meinem Verständnis von Wirtschaftspolitik zuwider läuft.

Ich bin auch dafür, dass man wirtschaftlich vernünftig agiert; es geht also nicht darum, dass der Staat möglichst viel Geld aus dem Fenster wirft. Im Gegenteil ich wäre wesentlich härter, was Steuersenkungen anbelangt, als dass die Wirtschaftspolitik der letzten zehn, fünfzehn Jahre war. Ich bin auch gegen unspezifische Ausgabenprogramme. Aber ich bin dafür, dass die Wirtschaftspolitik eines erkennt: Das Wirtschaftssystem ist aus sich heraus instabil. Und es bedarf eines gemeinwohlorientierten Gegenpartes, um es insgesamt stabil zu halten. Wenn dieser Gegenpart nicht in hinreichender Stärke da ist, dann haben wir eine krisenhafte Entwicklung wie heute.

Prof. Dr. Gustav Horn ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung

Thorsten Hild arbeitet als Volkswirt und Journalist in Berlin (www.wirtschaftundgesellschaft.de).

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Ein demokratisches Sozialmodell statt einer neoliberalen Renaissance

von: Erich Foglar

[via Gegenblende]
 
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Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat den zarten Ansätzen für eine europäische Sozialunion herbe Rückschläge versetzt. Die Krise hat zwar das Scheitern der neoliberalen Ideologie und Wirtschaftspolitik offenbart, die auf Marktfetischismus, Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten setzte. Dennoch haben die beharrenden politischen Kräfte und die neoliberalen Mainstreamökonomen überraschend schnell wieder die Oberhoheit über die veröffentlichte Meinung übernommen und suggerieren den ArbeitnehmerInnen, es gebe keine Alternative zur aktuellen Politik der EU-Kommission: Keine Alternative zu einer Sparpolitik, die in vielen Ländern der EU eine nie gekannte Abwärts- und Armutsspirale in Gang gesetzt hat; keine Alternative zu einer Economic Governance, die in die falsche Richtung zielt, die die Tarifautonomie in Frage stellt und aus der EU eine reine Wirtschafts- und Wettbewerbsunion machen soll.

Wer lebte über wessen Verhältnisse?

Die gegenwärtige "Schuldenkrise", zu einem Gutteil ausgelöst durch die Finanzmärkte, führt schließlich immer öfter zu der an Unverfrorenheit kaum zu überbietenden These: "Wir" hätten jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt. Die ArbeitnehmerInnen waren es bestimmt nicht, dafür fallen mir in diesem Zusammenhang aber einige andere Akteure ein. Allein im Zeitraum 2008 bis 2010 ist EU-weit die gewaltige Summe von 303 Mrd. Euro als Rekapitalisierung direkt in die Banken geflossen, 104 Mrd. Euro wurden für die Übernahme fauler Forderungen gezahlt und 77 Mrd. Euro als Liquiditätshilfen gewährt. Diese unvorstellbaren Summen sind real geflossen. Und zusätzlich wurden 757 Mrd. Euro an Garantien für Banken und hunderte Milliarden an billigem Geld der EZB für die Interbankenfinanzierung gewährt. Und in Wirklichkeit stehen wir heute vor weiteren gewaltigen Bankenrettungspaketen. Es war ein rücksichtslos entfesselter Finanzkapitalismus und es waren die liberalisierten und deregulierten Finanzmärkte, die zu den Schulden geführt haben – es waren nicht zu hohe Löhne und keine überbordenden Sozialstandards und Sozialsysteme!

Gewerkschaften, die jahrelang vor den unabsehbaren Folgen dieser unverantwortlichen Politik warnten, wurden als Bremser oder "wirtschaftsfern" bezeichnet. Sagen wir es deutlich: Es war die neoliberale Wirtschaftspolitik, die weltweit geradewegs in die Finanzkrise geführt, laut OECD seit Ausbruch der Krise 2007 mehr als 13 Mio. Arbeitsplätze in den Industrieländern vernichtet, Millionen von Menschen in die soziale Katastrophe und die EU in eine demokratiepolitische Krise gestürzt hat.

Jetzt sind es die uralten neoliberalen Problemlösungskonzepte, die den ArbeitnehmerInnen und SteuerzahlerInnen wie Mühlsteine um den Hals gehängt werden. Die Verursacher der Krise versuchen den Brand mit Benzin zu löschen!

Wettbewerb um Sozialstandards

In den letzten zwei Jahren wurden viele politische Weichen auf der europäischen Ebene neu gestellt, ich erinnere nur an den Euro-Plus-Pakt, an das neue Europäische Semester oder das kürzlich beschlossene Legislativpaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung ("Six-Pack"). All diese Initiativen sind einzelne Mosaiksteine im Modell einer neuen Union, die auf einem einseitigen Wettbewerbsmodell um die niedrigsten Lohnstückkosten bzw. Lohnsteigerungen, die niedrigsten Sozialstandards und Unternehmenssteuern beruht.

Diese Abfolge von politischen Zumutungen und falschen Weichenstellungen mit teilweise verheerender Wirkung sollten wir uns nochmals in Erinnerung rufen. Schon in ihrem Jahreswachstumsbericht benannte die EU-Kommission zu Beginn des Jahres 2011 recht offen und ungeniert ihre Prioritäten für eine besser koordinierte Haushalts- und Wachstumspolitik im Rahmen des Europäischen Semesters: Noch strengere Sparpakete, Lohnzurückhaltung sowie die Weiterführung von Strukturreformen, die auf nichts anderes als eine weitere Deregulierung und Liberalisierung des Binnenmarktes abzielen. Kaum überraschend, dass dieses erste Europäische Semester mit den gleichen Empfehlungen endete wie es mit dem Jahreswachstumsbericht begonnen hatte.

Der Euro-Plus-Pakt brachte ähnlich wie Teile des "Six-Pack" eine Fokussierung auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit auf Basis von Lohnzurückhaltung und der "Überprüfung" von sozialen Sicherungssystemen auf ihre "finanzielle Nachhaltigkeit" – für jeden politischen Beobachter war offensichtlich, dass damit neue Einschnitte zu Lasten der ArbeitnehmerInnen gemeint waren. Dieses Modell widerspricht diametral unseren Vorstellungen eines Europas, das auf Wachstum und Beschäftigung, auf gerechte Löhne und auf starke soziale Standards setzt.

Herausforderungen für die Europäischen Gewerkschaften

Die neuen Vorschriften zur wirtschaftspolitischen Steuerung machen die unsoziale und wirtschaftlich unsinnige einseitige Sparpolitik nun auch rechtlich verbindlich. Sie missachten ein weiteres Mal die Warnungen der Gewerkschaften vor einem Kaputtsparen, obwohl sie von den Entwicklungen der letzten Jahre durchwegs bestätigt wurden.

Immerhin ist es Mithilfe einiger engagierter Abgeordneter des EU-Parlaments und durch die Unterstützung einiger Regierungschefs – darunter auch des österreichischen Bundeskanzlers – gelungen, den Frontalangriff auf Löhne und Tarifverträge deutlich abzuschwächen und Klauseln zum Schutz der Tarifautonomie und gegen Eingriffe in Lohnfindungssysteme durchzusetzen. Diese Schutzklauseln müssen vom EGB nun systematisch genutzt werden, um den Kernbereich gewerkschaftlicher Grundrechte gegen Eingriffe zu verteidigen.

Dennoch zeigen die aktuellen Entwicklungen rund um die Politik der "Troika" aus EU-Kommission, EZB und IWF deutlich, dass es damit nicht getan ist. Griechenland bildet hier nur die dramatische Spitze des Eisbergs, wenn dort ultimativ die Abschaffung von Flächentarifverträgen gefordert wird, die Sozialpartner entmachtet werden und selbst Mindestlöhne von knapp über 700 Euro als immer noch zu hoch und als Hindernis für die Wettbewerbsfähigkeit kritisiert werden. Da müssen wir uns fragen: In welchem Europa leben wir eigentlich schon?

Europa braucht soziale Schutzklauseln

Ähnliche Tendenzen wie in Griechenland können wir in Portugal, Irland, Spanien, aber auch in zahlreichen neuen Mitgliedstaaten feststellen. Dagegen werden gut gemeinte rechtliche "Schutzklauseln" im Richtlinien und Verordnungen nicht weiterhelfen. Wir benötigen vielmehr eine generelle politische Schutzklausel im Sinne einer sofortigen Abkehr von einer Politik, die massiv in Kollektivverträge, Sozialsysteme und Lohnfindungssysteme eingreift und soziale und gewerkschaftliche Grundrechte missachtet.

Diese Gefahr nimmt mit der fortwährenden Instabilität der Eurozone und den gezielten Angriffen gegen immer mehr Mitgliedstaaten deutlich zu. Der neue erweiterte "Rettungsschirm" im Rahmen des EFSF könnte einer zunehmenden Anzahl von Mitgliedstaaten zu deren besseren Refinanzierung offenstehen. In jedem dieser Fälle werden aber politische Bedingungen diktiert werden, die jenen von Griechenland, Portugal oder Irland entsprechen. Lohnmäßigung, Eingriffe in Kollektivverträge oder die "Dezentralisierung" von Kollektivvertragssystemen könnten zum Standardprogramm bei der Gewährung von Finanzhilfen gehören. Dieser Politik müssen der EGB und die europäischen Gewerkschaften auch weiterhin ihren entschiedenen Widerstand entgegensetzen.

Demokratie statt "Troika"

Die Entfremdung zwischen Gewerkschaften und der EU-Kommission war wohl niemals so tief wie in den letzten Jahren seit Ausbruch der Krise. Und diese Entfremdung hat handfeste Gründe - sie ist nicht einem angeblichen populistischen Agieren der Gewerkschaften geschuldet, sondern beruht auf einer Politik, die sich direkt zu Lasten der Beschäftigten auswirkt und gegen die wir uns als Arbeitnehmervertretungen wehren müssen.

Wir müssen dieser Fehlentwicklung eine überzeugende Alternative entgegensetzen. Die Gewerkschaften werden Millionen von Arbeitnehmern und ihrem eigenem Anspruch nur gerecht, wenn sie für eine grundlegende politische Neuausrichtung kämpfen, die die Interessen der Arbeitnehmer und damit der überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgern in der EU endlich in den Mittelpunkt stellt.

Wir brauchen eine wirtschaftspolitische Steuerung, die auf ein sozial abgesichertes nachhaltiges Wachstumsmodell setzt, die auf steigende Kaufkraft durch faire Löhne für anständige Arbeit aufbaut, eine makroökonomische Koordinierung verwirklicht und Investitionen in Beschäftigung fördert. Diese engere Abstimmung und Steuerung, ob wir sie nun "Wirtschaftsregierung" nennen oder nicht, muss ein demokratisch legitimierter Prozess sein. Eine überwiegend neoliberal ausgerichtete und schwach legitimierte EU-Kommission oder gar EU-Technokraten, die im Rahmen der "Troika" in Kolonialmanier Grundrechte missachten, sind dazu am wenigsten geeignet. Eine starke Rolle muss jedenfalls dem EU-Parlament zukommen.

Gemeinschaft statt Meisterschaft

Dies ist unsere Alternative zum Umbau der EU zu einem innereuropäischen Wettbewerbsmodell, das auf den Wettlauf und die Konkurrenz um die niedrigsten Löhne und Unternehmenssteuern setzt. Dieses Modell spielt die ArbeitnehmerInnen letztlich gegeneinander aus, es ist deshalb zutiefst antieuropäisch. Die Gewerkschaften koordinieren die Lohn- und Tarifpolitik auch auf EU-Ebene autonom und werden keine Einmischung in ihre Kernkompetenz zulassen.

Dies gilt ebenso für die entscheidende Frage der Finanzmarktregulierung. Die Lehren aus der Finanzkrise sind sehr bescheiden, bemisst man sie an den Regulierungsschritten der letzten beiden Jahre, die über erste Ansätze nicht hinausgekommen sind. Ohne eine wirkliche Regulierung der Finanzmärkte und der Finanzindustrie mit ihren einflussreichen Lobbys wird es keinen grundlegenden politischen Kurswechsel geben. Ein erster Anfang wurde mit dem lang erwarteten Vorschlag der EU-Kommission für eine Finanztransaktionssteuer gemacht: Zum ersten Mal hat der politische Druck von Gewerkschaften und NGO´s, von politischen Parteien und großen Teilen des EU-Parlaments ein Umdenken bewirkt. Selbst die derzeitige EU-Kommission, die jahrelang alle möglichen und unmöglichen Argumente gegen eine solche europäische "Spekulationssteuer" stereotyp vorgebetet hatte, konnte sich den vernünftigen Gründen für eine Transaktionssteuer nicht mehr länger verschließen, ohne auch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit zu gefährden. Diese Vorschläge müssen jetzt rasch und ohne Schlupflöcher umgesetzt werden, also auch Hedgefonds, Steueroasen und Over-the-counter-Geschäfte mit einschließen.

Gegen Steuerwettbewerb

Das gleiche gilt für eine bessere Koordinierung im Kampf gegen Steuerdumping. Eine EU-weit harmonisierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer bringt überhaupt nichts ohne die gleichzeitige Einführung von Mindestsätzen für Unternehmenssteuern. Schließlich muss das Ziel eines fairen Binnenmarktes wieder in den politischen Fokus rücken. Dazu gehört in erster Linie das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort". Dies ist das Grundprinzip einer Sozialunion, die nicht auf Lohn- und Sozialdumping aufbaut, sondern auf starken sozialen Mindeststandards. Die EuGH-Judikatur in diesem Bereich muss endlich von der Politik korrigiert werden - die Charta der (sozialen!) Grundrechte mit Leben gefüllt werden. Durch die soziale Fortschrittsklausel soll die Charta der sozialen Grundrechte innerhalb des EU-Rechts mindestens gleichwertig mit den vier Freiheiten werden.

Ohne diesen skizzierten Kurswechsel wird Europa nicht nur wirtschafts- und sozialpolitisch in der Sackgasse enden, sondern auch das Vertrauen und den Zuspruch der Menschen verlieren. Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von über 40% in einigen Mitgliedstaaten sind die Vorgänge in Griechenland nur ein Vorgeschmack einer allgemeinen tiefen demokratiepolitischen Krise, auf die Europa direkt zusteuert. Überlassen wir das Feld nicht länger den neoliberalen Akteure, die uns in diese Situation gebracht haben, kämpfen wir gemeinsam mit dem EGB für einen grundlegenden politischen Neuanfang! Wir brauchen mehr von einer anderen Europäischen Union!



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--->>> #Frei­heit #wei­ter #den­ken [via Gegenblende]

>Freiheit ist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt.< (Otto Brenner)

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Freiheit weiter denken

Wofür stehen die Gewerkschaften?

von:
Prof. Dr. Alex Demirovic, Prof. Dr. Martin Allespach und Lothar Wentzel

Die Arbeiterbewegung - und mit ihr die Gewerkschaften - verstanden sich von Beginn ihrer Existenz an ganz selbstverständlich als Freiheitsbewegung: Die Befreiung der Arbeit und die vom halbfeudalen politischen System des wilhelminischen Reichs sollten Hand in Hand gehen. Auf Fahnen, Spruchbändern und gestickten Wandbehangen fand sich immer der Begriff Freiheit neben Gerechtigkeit und Solidarität. „Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht“ war eine der beliebtesten politischen Losungen, „Bruder zur Sonne, zur Freiheit“ eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung.

Heute dagegen gibt es keinen anspruchsvollen Diskurs über Freiheit in den Gewerkschaften. Ohne eine neue Verständigung über den Freiheitsbegriff wird die organisierte Arbeiterbewegung aber kaum gegenwärtigen Herausforderungen begegnen können. Dabei steht die Gewerkschaftsbewegung dezidiert in der Tradition der Aufklärung und des Freiheitsdenkens. Eines ihrer wichtigsten Ziele ist, den Gedanken der Freiheit in der konkreten Welt des alltäglichen Lebens zu verwirklichen. Sie dringt darauf, den Bereich der gesellschaftlich hergestellten Zwänge zurückzudrängen. Damit richtet sie sich gegen jede naturhaft erscheinende Sachzwanglogik, die die herrschaftlich gemachten Gesetze der Ökonomie oder der Technik, aber auch der Politik den Menschen auferlegen.

Der Schutz der bürgerlichen Freiheiten

Bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs stand der Freiheitsgedanke – gegen obrigkeitliche Unterdrückung – im Mittelpunkt der Bewegung. Doch in der Weimarer Republik änderte sich das; das Verhältnis zum Freiheitsbegriff wurde kritischer. Als trotz Freiheitsrechten und parlamentarischer Demokratie die Kapitalseite ähnlich aggressiv, ja manchmal schärfer auftrat als vor 1914 und große Teile des Bürgertums antidemokratische Bewegungen unterstützten, wuchsen die Strömungen in der Arbeiterbewegung, die für eine zumindest zeitlich begrenzte Aufhebung von Freiheitsrechten eintraten, um die Kapitalherrschaft tatsächlich brechen zu können. Damit war der Freiheitsbegriff selbst zum Streitobjekt innerhalb der Arbeiterbewegung geworden. Diese Tendenz zum Autoritarismus wirkt bis heute in die Gewerkschaften hinein.

Die Verfolgung und Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung durch Faschismus ebenso wie die Erfahrung autoritärer Tendenzen innerhalb der Linken fügten dem gewerkschaftlichen Verständnis von Freiheit eine weitere Bedeutungsschicht hinzu. Die Sensibilität für die „bürgerlichen“ Freiheitsrechte wurde großer. Die Gewerkschaften betonten ihre maßgebliche Rolle bei der Verteidigung der Demokratie gegen autoritäre Kräfte im Westen wie im Osten. Dem Begriff der Freiheit von unmittelbarer politischer Bevormundung und Unterdrückung fügten sie die soziale Bedeutung einer „Freiheit von Ausbeutung und Not“[1] hinzu. Sie gingen damit über einen bloß negativen Begriff der Freiheit als Abwesenheit von Zwang hinaus und entwickelten ein positives Verständnis: eine Freiheit wozu. Freiheit sollte auch die wachsende Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Gestaltung der Lebensverhältnisse beinhalten, in der politischen Sphäre ebenso wie in den alltäglichen sozialen und ökonomischen Lebensbereichen der Individuen.

Otto Brenner brachte 1961 den Zusammenhang beider Welten auf den Punkt: „Freiheit ist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt.“[2] Politische Freiheitsrechte sollten um die Dimension positiver, sozialer Freiheitsrechte erweitert werden, politische Freiheit in sozialer Freiheit abgesichert werden und ihre Grundlage finden. In der Nachkriegszeit konnten die Gewerkschaften durch die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates wesentlich zur Erweiterung der Voraussetzungen für soziale Freiheit beitragen. Dieser Zusammenhang wurde in den Gewerkschaften aber wenig diskutiert und war als politisches Programm der breiten Öffentlichkeit kaum bewusst.

Die marktradikale Wende in den 1980er Jahren konnte diese Lücke ausnutzen. Die Gewerkschaften hatten die Begriffe von Freiheit und Autonomie nicht hinreichend fortentwickelt. Das grundsätzlich schwierige und widersprüchliche Verhältnis von Gleichheit, Freiheit und Solidarität war in keine neue, zeitgemäße Balance gebracht worden. So konnte Gleichheit von den Neokonservativen und -liberalen einmal mehr mit der negativen Bedeutung der Gleichmacherei und Gleichförmigkeit, mit „Masse“ statt mit freier „Individualität“ versehen werden: Gleichheit scheint demnach den unterschiedlichen Lebensformen, den Fähigkeiten, den Leistungen und dem Engagement der Individuen nicht angemessen Rechnung zu tragen. Dass eine differenzierte soziale Gleichheit eine Bedingung und ein wesentliches Element für individuelle Entfaltung, für das Gluck der Einzelnen, den inneren Frieden eines Gemeinwesens, für einen demokratischen Umgang der Gesellschaft mit ihren Problemen ist – bis hin zu ihrer Lösungsfähigkeit bei ökologischen Herausforderungen – sollte vergessen gemacht werden.

Auch Solidarität galt plötzlich als überholt. Sie wurde als Gutmenschentum und soziale Nostalgie abgetan. Tatsächlich hat die traditionell über ähnliche Lebensformen und Milieus vermittelte Solidarität heute an Bedeutung verloren. Die nicht zuletzt aufgrund gewerkschaftlicher Erfolge möglich gewordenen vielfältigen Lebensformen sind mit starken Wünschen nach Freiheit, nach individueller Differenz und Lebensgestaltung, nach höherer Qualifikation, nach sinnvoller und guter Arbeit oder neuen Formen der Beziehung zwischen Geschlechtern und der Arbeitsteilung zwischen ihnen verbunden. Solidarität nimmt damit einen anderen Charakter an. Sie entsteht nicht mehr quasi naturwüchsig aus gemeinsamen Lebensverhältnissen, sondern muss viel stärker in politischen und kulturellen Praktiken und Diskursen hergestellt werden. Sie erhält eher den Charakter eines immer wieder zu erneuernden Bündnisses aufgrund der Einsicht in gemeinsame Interessen. Dies schließt das Gefühl von Zusammenhalt und Bindung nicht aus, erfordert aber zugleich ein hohes Maß an Respekt vor der besonderen Lebens- und Interessenlage des Einzelnen. Diese neuen Formen der Solidarität erweisen sich durchaus als wirkungsvoll; sie setzen Kreativität und Initiative bei den Beteiligten frei und führen auch zu emotionaler Verbundenheit. Aber sie verlangen auch ein anderes Selbstverständnis und entsprechende Formen des Dialoges und der Beteiligung.

Die Ideologie der Individualität

Der wohl wirkungsvollste Angriff der neoliberalen Strategie stützt sich auf die Idee der individuellen Autonomie.[3] Die Gewerkschaften wurden mit einem extrem zugespitzten individualistischen Begriff von Freiheit und Eigenverantwortung konfrontiert. Der radikalen marktwirtschaftlichen Freiheit entspricht eine ebensolche Idee von persönlicher Unabhängigkeit. Beides, so das neoliberale Versprechen, soll auf lange Sicht der Garant der individuellen ebenso wie der gesellschaftlichen Wohlfahrt sein.

Dieses Konstrukt der Freiheit als Eigenverantwortung legt dem Einzelnen die ganze Last für sein soziales Schicksal und alle Lebensrisiken auf. Freiheit wird nicht als konkrete und gesellschaftlich vermittelte verstanden, die allein in der Kooperation und im Zusammenleben mit anderen verwirklicht werden kann. Ein solches Verständnis von Freiheit ist deswegen offenkundig unrealistisch und hat für die allermeisten Mitglieder der Gesellschaft und die Gesellschaft als ganze problematische, zerstörerische Folgen. Der gewerkschaftlichen Konzeption der Solidarität steht dies diametral entgegen.

Es fiel und fällt den Gewerkschaften bis heute nicht leicht, mit diesem Angriff auf die Grundlagen ihres Denkens umzugehen. Mit Erstaunen und Enttäuschung mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass neoliberal ausgerichtete Vorstellungen von Freiheit gerade bei jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchaus Anklang finden. Deren Selbstverwirklichungswünsche wurden aufgegriffen oder verstärkt und auf die Ebene des Konsums gelenkt, wo die verschiedenen Bedürfnisse abgetastet, neue geschaffen und durch Marktangebote intensiviert werden. In die Lebensweise wurden eine Vielzahl von Momenten individualisierter, raffiniert kommerzialisierter Freiheit eingebaut: abweichende Konsumgewohnheiten, unkonventionelle Lebensstile, die ihren Ausdruck im Sport, in der Kleidung, im Reisen, der Wohnform oder der Automobilität suchen. Auch auf der betrieblichen Ebene gelang es in einigen Bereichen mit Erfolg, solche Verhaltensdispositionen durch individualisierte Arbeitsverhältnisse aufzugreifen („Arbeitskraftunternehmer“) und zur indirekten Steuerung und Leistungssteigerung zu nutzen.

Der Appell an Selbstverantwortung stößt noch immer auf positive Resonanz: Niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, keine übergeordneten sozialen Instanzen in Anspruch zu nehmen, sich völlig individuell abzusichern und seine berufliche Stellung ausschließlich kraft eigener Leistung zu erarbeiten – die Appelle an Leistungsstolz und Autonomie waren und sind verführerisch.

Der Erfolg dieses Konzeptes darf allerdings auch nicht überschätzt werden. In den Betrieben wurde das Autonomieversprechen der neuen Managementkonzepte vielfach enttäuscht, Unsicherheit und Prekarisierung hielten Einzug. Hinsichtlich des Sozialstaats und der Idee des sozialen Ausgleichs lässt das vorhandene empirische Material keinen Zweifel, dass beide nach wie vor tief in der deutschen Bevölkerung verankert sind – auch über die Generationen hinweg. Sicher hat auch die Finanzkrise einiges zur Ernüchterung gegenüber einem neoliberalen Freiheitsverständnis beigetragen, das nur wenigen Vermögensbesitzern nutzt.

Das Comeback der Freiheit

Dennoch, die Herausforderung bleibt: Fragen von Freiheit und individueller Autonomie haben heute einen viel höheren Stellenwert als jemals zuvor. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, und gerade die Gewerkschaften haben allen Grund, dies als Ergebnis eigener Bemühungen zu erkennen. In ihrer Konkurrenz fordernden, ausgrenzenden, extrem individualistischen und vereinzelnden Form allerdings sind diese Autonomiebestrebungen für Gewerkschaften hochproblematisch. Dagegen ist der reflektierte, seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen bewusste Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung ein Kernbestandteil einer zukunftsfähigen politischen Programmatik der Gewerkschaften, wie sie zum Beispiel im Rahmen der „Kurswechsel-Debatte“ in der IG Metall diskutiert wird.

Die Gewerkschaften sollten an den emanzipatorischen Potenzen, die in den Autonomiewünschen stecken, anknüpfen. Individuelle Autonomiewünsche müssen respektiert und mit gesellschaftlicher Verantwortung versöhnt werden. Das Verhältnis von Freiheit und Solidarität sollte neu überdacht werden. Eine Selbstbestimmung, die weiß, das es Freiheit nur geben kann, wenn sie für alle gilt, und eine Gesellschaft, die Bedingungen für individuelle Autonomie schafft, die nicht zu Lasten anderer geht, sondern sich gegenseitig bestärkt, sollten zentraler Bezugspunkt für die gewerkschaftliche Diskussion sein.

Für Gewerkschaften wird es immer wichtiger, offensiv und öffentlich wahrnehmbar der marktradikalen Verkrüppelung des Freiheitsbegriffes entgegenzutreten und ihre eigenen, emanzipatorischen Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in die Debatte einzubringen. Der Freiheitsbegriff muss den marktradikalen Akteuren streitig gemacht und seiner Deformation muss entgegengetreten werden. Das wirksamste Mittel dafür ist die Aufklarung darüber, welche Machtstrukturen der vermeintlich freien politischen und gesellschaftlichen Landschaft zugrunde liegen.

Heute werden Entscheidungen in großem Maße in informellen Zirkeln, Politiknetzwerken oder in den anonymisierten Prozessen quasi-systemischer Abläufe getroffen. Obwohl viele Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen das Gemeinwesen als Ganzes betreffen – Standortverlagerungen, Investitionen, die Wahl von Technologien oder die Entwicklung von Produkten –, gelten sie als nicht politisch, nicht allgemeinverbindlich. Es handelt sich dabei um vielfach verflochtene politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse unter Beteiligung zahlreicher Akteure, die jedoch oftmals nicht demokratisch legitimiert und öffentlich kaum kontrolliert sind. Im Zentrum dieser netzwerkartigen Politik stehen die Problemlösung und Steuerung – der Output, das an Partikularinteressen orientierte Ergebnis –, nicht jedoch das Interesse aller und demokratische Partizipation. Letztere wird sogar als hinderlich, ja irrational dargestellt: Die öffentliche Diskussion verschleppe und zerrede Entscheidungen, schnelles Entscheiden werde behindert, heißt es dann.

Weiten Teilen der Gesellschaft gilt die angebliche Alternativlosigkeit – der Sachzwang – als unvermeidlich. Er gewahrt jedoch nur denen große Freiheit, die aus diesen zwanghaften Abläufen der Gesellschaft Gewinn für sich ziehen können. Viele Kapitaleigner und Vermögensbesitzer erheben nicht einmal den Anspruch, die von ihnen verteidigten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die vor allem ihnen nutzen, grundlegend erkennen zu wollen, um sie auf kontrollierte Weise nutzen zu können. Radikal spricht dies Friedrich von Hayek aus: Der Markt sei das Ergebnis der Evolution, keine menschliche Einrichtung, und deswegen auch nicht von Menschen zu lenken. Er betont, dass der Markt dem Verfahren eines Glücksspiels gleicht, in dem es regelmäßig Gewinner und Verlierer gibt.[4]

Es stimmt, wenn Hayek sagt, dass das Ergebnis in diesem Spiel keiner vorangegangenen Leistung entspricht. Es stimmt jedoch nicht, wenn er behauptet, das Ergebnis sei unvorhersagbar. Im Gegenteil: Es gewinnen in diesem Spiel immer diejenigen, die die Bank halten und die Spielregeln bestimmen. Trotz all seiner Blindheit, die nicht einmal Leistung belohnt, soll bei Hayek und Co. am Markt einschränkungslos festgehalten werden, weil er nicht nur aus der Evolution hervorgegangen sei, sondern der Logik der Evolution selbst entspräche und sich bei der Auswahl der Glücklichen bewähre.

Hayeks Überlegung kommt ohne Zweifel dem bewussten Verzicht auf Aufklarung und Einsicht gleich – und damit dem Verzicht auf Freiheit. Dort, wo Liberale sich auf den Kern des bürgerlichen Weltbildes berufen und propagieren, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, dort, wo sie zwischen Leistung und Verdienst einen sinnvollen Zusammenhang vermuten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse rechtfertigt, lugen sie entweder zynisch oder täuschen sich selbst. Sie sollten Hayek lesen.

Dies konnte ihnen auch Klarheit über einen grundlegenden Selbstwiderspruch des liberalen Freiheitsbegriffs bringen: Sie führen die Freiheit zwar im Schilde, wollen sie aber nicht wirklich. Stattdessen plädieren sie für die Unterwerfung unter die abstrakten Gesetze des Marktes und seiner Zwänge. Die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wurden jedoch nicht von der Evolution herbeigeführt, sondern von Menschen eingerichtet. In aller Freiheit können sie deswegen von den Menschen auch verändert werden. Doch daran reicht das liberale Freiheitsverständnis nicht heran. Es versteht sich nur als negativ. Als Freiheit gilt allein die Freiheit von staatlichem Zwang, von Einmischung anderer. Die Individuen sollen tun dürfen, was sie wollen und wünschen; sie sollen auf ihre je eigene Weise glücklich sein dürfen. Aber was ist mit denjenigen, die keine Ressourcen zur Verwirklichung ihrer Wünsche haben – und seien diese noch so elementar?

Die Freiheit der Starken

Eine solche Freiheit ist somit keineswegs nur „negativ“ – im Sinne einer Einschränkung der Macht des Staates. Faktisch läuft sie auf eine Freiheit der Starken hinaus. Um deren Willkür einzugrenzen, muss die Freiheit mit Zwangsmitteln soweit eingeschränkt werden, dass die Freiheit der anderen, ihrerseits das zu tun, was sie wollen, nicht beeinträchtigt wird. Dies geschieht mit Hilfe des Rechtsstaats. Er steckt den Individuen je eine Parzelle privaten Rechts ab, in der sie ihre Freiheit genießen können. Sofern sie über die vom Staat mit Verboten kontrollierte Grenze hinausgehen und die Freiheit der anderen beeinträchtigen, greift der Staat ein.

Freiheit ist hier allein Freiheit von etwas und von den anderen Individuen. Liberale Freiheit trennt die Individuen voreinander. Doch dieser liberale, negative Begriff rechtsstaatlich gesicherter Freiheit versagt in zwei Hinsichten. Er steht in keinem notwendigen Zusammenhang mit Demokratie, sondern ist durchaus mit autokratischer Herrschaft vereinbar.[5] Denn im Sinne dieses Freiheitsverständnisses stellt sich gar nicht die Frage, ob auch alle demokratisch an den kollektiv verbindlichen Entscheidungen beteiligt sind. Im Gegenteil hat der Liberalismus eine Tendenz zur notorischen Ablehnung der Gewerkschaften, weil sie aus dessen Sicht ein Monopol auf die Vertretung von Beschäftigteninteressen errichten, so die Vertragsfreiheit der Einzelnen begrenzen und damit die Wirksamkeit des Marktes verzerren.

Dies führt zum zweiten Widerspruch. Aufgrund einer zweifelhaften Unterscheidung von öffentlich und privat wird die Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Ressourcen, also die Entscheidungen über Produktionsmittel, Investitionen, Produktionsverfahren, Produkte oder Standortverlagerungen allein zum privaten Bereich gezählt. Unternehmen, die doch so wichtig sind für die Allgemeinheit, werden nicht als öffentliche Institutionen begriffen. Dies macht es zwar möglich, dass die Individuen zwar in der Sphäre der Politik Bürgerinnen und Bürger mit verfassungsmäßigen Mitspracherechten sind und sich an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen können. Doch in der Arbeitswelt bestehen weitgehend Obrigkeitsverhältnisse fort, die die existierende Kooperation unterlaufen. Unter dem Druck der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der Shareholder-Value-Orientierung konnten sie in den letzten 30 Jahren zu Lasten der abhängig Beschäftigten sogar wieder verschärft werden.

Der (neo)liberale Freiheitsbegriff muss daher entzaubert werden. Denn die Erfahrungen mit einer solchen Freiheit sind widersprüchlich genug. Oft werden die Menschenrechte und die rechtsstaatlich verbürgten Grundrechte des Gewinns wegen ignoriert oder verletzt. Lohnabhängig beschäftigte Bürgerinnen und Bürger erfahren nicht demokratische Beteiligung und Gesamtinteresse, sondern Egoismus der Vermögenden und staatliche Kontrollbürokratie. Der Arbeitsmarkt halt gleichsam Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung bereit. Die Produktion wird teilweise retaylorisiert oder die vom Lohn Abhängigen als Arbeitskraftunternehmer dem Diktat marktgesteuerter Selbstausbeutung unterworfen; die tägliche, wöchentliche und Lebensarbeitszeit nimmt trotz höherer Produktivität tendenziell zu, durch Verdichtung des Arbeitsprozesses wird die Leistungsabgabe teilweise bis zur Erschöpfung verstärkt. An den Arbeitsplätzen nehmen die Unsicherheit und die Entsolidarisierung durch immer neue Managementstrategien, ständige betriebliche Reorganisationen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und kaum erfüllbare Gewinnerwartungen zu.

Die Bedingungen von Freiheit entsprechen auch außerhalb der Betriebe kaum den neoliberalen Versprechungen. Öffentliche Guter werden dem Umfang und der Qualität nach eingeschränkt. Die Arena des Konsums suggeriert eine Welt der Freiheit, führt aber in Wirklichkeit zu mehr Entmündigung und Fremdbestimmung. Wer versucht, Produkte zu kaufen, die unter „fairen“ Bedingungen produziert worden sind, hat kaum eine Chance. Zuverlässige Ökobilanzen liegen nur für wenige Produkte vor. Inhaltsstoffe und Wirkungen von Produkten sind für den Laien immer weniger verständlich. Sich tatsächlich kundig zu machen, würde viel Zeit beanspruchen – und selbst dann wäre das Resultat zweifelhaft. Undurchschaubarkeit und leere Glücksversprechungen in einem noch nie da gewesenen Ausmaß drohen die selbstbestimmte Zeit aufzufressen. Dabei ist diese Zeit, jenseits der eigenen Reproduktion, eine entscheidende Voraussetzung für Freiheit. Gegen den Mangel an Mitsprache und Demokratie im Bereich der Wirtschaft haben sich Gewerkschaften im Laufe der Jahrzehnte ihrer Existenz immer wieder gewandt und einen positiven Begriff der Freiheit in Anspruch genommen.

Aktuell steht die Gewerkschaftsbewegung ohne Zweifel jedoch vor der Herausforderung, sich nicht nur auf die eigene Freiheitstradition zu besinnen und dem Begriff der Freiheit wieder mehr Wert beizumessen, sondern mehr noch: seiner Bedeutung auch neue Akzente zu verleihen, die der gegenwärtigen Lebensrealität der Lohnabhängigen angemessen ist. Einer Lebensrealität, die von den Gewerkschaften verlangt, sich nicht allein auf die Interessen derjenigen zu beschränken, die in den Grenzen des jeweils eigenen Nationalstaats leben und vielleicht das Glück haben, gewisse und allzu schnell gefährdete Freiheitsrechte zu genießen, sondern mit dem Begriff der Freiheit einen schon längst globalen Begriff der inklusiven Solidarität und der differenzierten Gleichheit zu verknüpfen.

Der Schutz der negativen und der positiven Freiheit

ihr Leben durch andere und den Staat. Dies schließt aber auch eine Verteidigung der individuel

Doch im Sinne einer freien Entscheidung über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven sollten die Gewerkschaften darüber hinaus ihr positives Verständnis von Freiheit weiter entwickeln. Diese positive Freiheit meint, dass die Menschen sich gemeinsam über die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung, ihre Ausgestaltung und ihre Maßstäbe verständigen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in den internationalen Diskussionen als solch integrierte Ziele die soziale, ökologische und demokratische Nachhaltigkeit sowie das „gute Leben“ herausgebildet. Diese dienen in all ihrer Vorläufigkeit dazu, einen Ermöglichungsraum für individuelle und kollektive Selbstbestimmung sowie die Voraussetzung für ein gutes Leben zu schaffen.

Im Folgenden sollen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur einige Bedingungen angeführt werden, die überhaupt erst ein Leben in Freiheit erlauben.

Als Erstes ist die ökonomische Absicherung zu nennen. Das bedeutet tariflich gesicherte Arbeitsverhältnisse, die entwicklungsfördernd sind und Mitbestimmungsmöglichkeiten beinhalten. Dazu zählen auch eine bedarfsgerechte Grundsicherung und Mindestrente. Darin besteht über die unmittelbare Subsistenzsicherung hinaus auch ein Moment von Lebensqualität, weil mit der materiellen Sicherheit ein Zeithorizont geschaffen wird, in dem die Individuen ihr Leben erwartungssicher planen können und über ihre Zeit nach Maßgabe der gesellschaftlichen Möglichkeiten souverän entscheiden können. Zu den unmittelbaren materiellen Aspekten gehört auch eine Absicherung gegen Lebensrisiken, die die Individuen nicht nur negativ schützt, sondern ihnen auch Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensqualität gibt.

Zweitens ist ein Bildungssystem notwendig, das nicht nur den Erwartungen des Arbeitsmarkts und der technologischen Entwicklung entspricht, sondern auch die Voraussetzungen für eine Teilhabe an den politisch-demokratischen Prozessen und der Kultur der Gesellschaft schafft.

Die Gewerkschaften sollten drittens aus dem Blickwinkel der Freiheit auch für differenzierte Gleichheit eintreten, also dafür, dass der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen der Möglichkeit nach allen offen steht, einschließlich der dazu nötigen Angleichung der Einkommensverhältnisse.

Mehr Demokratie und Öffentlichkeit wagen

Zur Wahrnehmung von Freiheit gehören jedoch nicht nur ökonomische und ökologisch nachhaltige Verhältnisse, dazu gehören auch Formen der öffentlichen Kommunikation, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und mit Information und Diskussion zur offenen und kritischen Meinungsbildung beiträgt.

Es kommt deshalb darauf an, den erforderlichen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft mit (mehr) Demokratie und Öffentlichkeit zu verbinden.[6] Die Entscheidungen müssen heraus aus dem Arkanbereich der politischen Lobbys und Hinterzimmer. Auch vermeintlich subpolitische Entscheidungen sind von öffentlichem Gewicht und gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und sollten sich deswegen unter Beteiligung aller vollziehen. Dies entspricht dem demokratischen Grundsatz, dass allen von den gesellschaftlichen Prozessen Betroffenen das demokratische Recht zusteht, über sie zu entscheiden – umso mehr gilt dies, wenn das individuelle und das gemeinsame Leben durch die Gesellschaft, die es gewährleisten soll, selbst gefährdet werden. Nur so können Einzel- und Allgemeininteresse miteinander verbunden werden.

Politische Freiheiten und Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung müssen folglich verbessert werden. Dort, wo die Institutionen der Demokratie Erosionstendenzen erkennen lassen, sind (re-)demokratisierende Anstrengungen dringend geboten – auf allen politischen Ebenen, von der Kommune bis zum Europäischen Parlament. Es sollten zudem Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme durch den Ausbau von Formen der Demokratie in der Wirtschaft geschaffen bzw. verbessert werden. Ein ökologischer Umbau unserer Ökonomie, der soziale Verwerfungen vermeidet, unnötige Widerstande verhindert und zu einer Vertiefung demokratischer Strukturen beitragt, kann nur mit einer intensiven Beteiligung der Beschäftigten gelingen.

Ein solcher Entwicklungspfad zielt auf gesellschaftliche Verhältnisse, die Selbstbestimmung ermöglichen, ohne Solidarität zu verletzten, in also denen „jeder ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno). Ein solcher Pfad kann den berechtigten Autonomiewünschen der Menschen sinnvoll begegnen, ohne sie zu bevormunden. Und er ist von Verbesserungen im alltäglichen Leben abhängig, für die die Gewerkschaften ein entscheidendes Forum sind und bleiben werden.

Der Beitrag erschien erstmals in "Blätter für deutsche und internationale Politik" 10/2011, S. 75ff.

[1] Otto Brenner, Demokratie, Freiheit und Menschenwürde, in: ders., Ausgewählte Reden 1946-1971, Frankfurt a.M. 2007, S. 204.


[2] Zit. nach Heinz-J. Bontrup, Die Wirtschaft braucht Demokratie, in: Heinz-J. Bontrup, Julia Müller u. a., Wirtschaftsdemokratie, Hamburg 2006, S. 19.


[3] Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.


[4] Friedrich von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003, S. 221 f.


[5] Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a.M. 1995, S. 207.


[6] Martin Allespach, Alex Demirovic´ und Lothar Wentzel, Demokratie wagen! Gewerkschaftspolitik wider die Krise, in: „Blätter“, 2/2009, S. 95-105.

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