Montag, 28. November 2011

Jenseits des Homo oeconomicus - Der Wirtschaftsjournalist Martin Wolf im Gespräch mit Stefan Fuchs [via Deutschlandfunk]


Jenseits des Homo oeconomicus

Wirtschaftsweise ratlos? (1/3)

[via Deutschlandfunk]
 
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Der Wirtschaftsjournalist Martin Wolf im Gespräch mit Stefan Fuchs

Als im Herbst 2008 die größte Weltwirtschaftskrise seit 1929 hereinbrach, stand die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler nackt da. Kaum einer hatte die Katastrophe kommen sehen. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem unbeirrbaren Glauben an die Rationalität der Wirtschaftssubjekte wurde zum ersten Opfer der Krise.

Nach der Krise wissen wir, dass von Vorhersagen und quasi Naturgesetzen nicht mehr die Rede sein kann. In unserer heute beginnenden Gesprächsserie "Wirtschaftsweise ratlos" will Stefan Fuchs die Versäumnisse der Nationalökonomie und die politischen Folgen zur Sprache bringen. Sein erster Gesprächspartner ist der britische Wirtschaftsjournalist Martin Wolf. Er ist Chefkommentator der "Financial Times".


Stefan Fuchs: Herr Wolf, hier auf der vierten Lindauer Ökonomietagung, zu der sich die Mehrheit der noch lebenden Wirtschaftsnobelpreisträger versammelt hat, scheinen die Widersprüche innerhalb der Disziplin nach wie vor unüberbrückbar. Robert B. Myerson zum Beispiel von der Universität Chicago zeigte sich überzeugt, die moderne Makroökonomie habe die Welt besser gemacht - eine Bemerkung, die fast an die Bemerkung des ehemaligen US-Präsidenten Bush erinnert, die Intervention im Irak habe die Welt besser gemacht. Jacob Stiglitz von der Columbia Universität in New York dagegen macht die neoklassischen Standardmodelle der Wirtschaftswissenschaften direkt verantwortlich für die Finanzkrise von 2008.

Wie stehen Sie in diesem Konflikt? Ist der Streit der ökonomischen Schulen durch die größte Krise seit 1929 nicht tatsächlich entschieden?

Martin Wolf: Ob die Irakinvasion des Präsidenten Bush die Welt besser gemacht hat, will ich nicht kommentieren. Das ist nicht mein Thema. Im Streit der Nobelpreisträger dagegen können beide Seiten Argumente für die jeweilige Position ins Feld führen. Die sehr kritische Stellungnahme von Stiglitz überzeugt mich aber mehr als der fröhliche Optimismus eines Vertreters der Neoklassik wie Myerson.

Als die Krise im Herbst 2008 mit der Insolvenz von Lehman Brothers über uns hereinbrach, reagierte der wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand sehr viel effizienter als in den 30er-Jahren, als die Industriestaaten von der Weltwirtschaftskrise heimgesucht wurden. Man wusste diesmal durchaus, wie man reagieren musste. Man vergaß die Doktrin der wirtschaftlichen Selbstheilungskräfte und begann, die Finanzmärkte durch beherzte, massive, währungspolitische und fiskalpolitische Maßnahmen zu stabilisieren. Dabei nahm man bewusst riesige Defizite in Kauf und pumpte große Geldmengen zur Belebung der Konjunktur in den Wirtschaftskreislauf. So konnte das Schlimmste zumindest verhütet werden.

Allerdings sollte man diese Erfolge nicht den Fortschritten der modernen Makroökonomie zurechnen. Alles, was man dazu brauchte, ist spätestens seit den 70er-Jahren bekannt, insbesondere die Krisenbewältigungsstrategien, wie sie von John Maynard Keynes aufgrund der Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise entwickelt wurden. Die theoretische Grundlage bildete also eine ältere Makroökonomie.

Die neoklassische Wirtschaftswissenschaft der letzten vierzig Jahre dagegen hat die Krise weder vorhergesehen noch konnte sie etwas zu ihrer Bewältigung beigetragen. Ihre Grundannahmen vom Modell rationaler Erwartungen, über die Theorie der realen Konjunkturzyklen, für die es eine ganze Reihe von Nobelpreisen gab, bis zur Hypothese über die Effizienz der Märkte haben die Politiker im trügerischen Optimismus bestärkt, die Wirtschaft sei im Prinzip stabil, wenn man sie nur sich selbst überlasse.

Seit den späten Siebzigern haben die dominierenden ökonomischen Theorien zur Deregulierung und einer gewaltigen Ausdehnung der Finanzmärkte geführt. Sie haben wesentlich zur monetaristischen Fixierung auf die Steuerung der Geldmenge und zu massiven Ungleichgewichten in der Einkommensverteilung beigetragen. Ihr Diktat hat die soziale Ungleichheit extrem verstärkt. Und auch Handelsbilanzdefizite wurden auf der Grundlage dieser Modelle einfach ignoriert.

Die grundsätzliche Kritik eines Joseph Stiglitz ist deshalb berechtigt. Als eine mit der Weltwirtschaftskrise von 1928 vergleichbare Krise über uns hereinbrach, mussten wir all diese abstrakten Modelle vergessen und uns von der Vorstellung sich selbst regulierender Märkte verabschieden. Wir mussten uns unversehens an das erinnern, was unsere Vorväter in den Dreißigern, Vierzigern, Fünfzigern und Sechzigern gelernt hatten.

Fuchs: Wir haben überraschend keynesianisch reagiert. Jetzt scheint das Pendel wieder zurückzuschwingen und wir sind plötzlich wieder in einer Situation, wo die alten Erklärungsmuster der Neoklassik wieder gültig sein müssen, nämlich Sparen! Ist das richtig? Würden Sie das auch so sehen? Haben wir jetzt eine zweite Stufe in der Krisenbewältigung?

Wolf: Die erste Frage ist natürlich, warum hat die Welt Keynes verworfen. Die Antwort ist ein Musterbeispiel für das wechselvolle Schicksal von Ideen im Bereich der Sozialwissenschaften, zu denen die Ökonomie zweifellos gehört. Das keynesianische Paradigma, das unter bestimmten historischen Bedingungen von großem Nutzen war, wurde dann fälschlicherweise unter Bedingungen angewandt, für die es keine Gültigkeit mehr besaß. Das führte schließlich dazu, dass man es verwarf. In den Sechzigern und Siebzigern kam es zur sogenannten "Stagflation", die mit der traditionellen keynesianischen Theorie nicht mehr erklärt werden konnte. Milton Friedman dagegen schien mit seinen Modellen ein besseres Verständnis dieses Phänomens einer Kombination von Inflation und stagnierenden Wachstums zu ermöglichen. Nationalökonomien wie die deutsche, die keynesianischen Rezepten traditionell skeptisch gegenüberstanden, kamen sehr viel besser durch die 70er-Jahre als etwa Großbritannien oder die USA. Das führte zu einem tief greifenden Paradigmenwechsel in der Makroökonomie. Keynes wurde durch eine Wiederauflage klassischer Wirtschaftsmodelle ersetzt. Deregulierung, ein größeres Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte, Inflationsbekämpfung. Wir folgten alle dem deutschen Beispiel! Wir glaubten alle, dass die Bundesbank das richtige Modell vorgebe. Die deutsche Zentralbank schien eine Zitadelle der Orthodoxie. Das führte zu dieser dreißigjährigen Vorherrschaft der neoklassischen Makroökonomie.

Dieses erneuerte klassische Modell wurde dann weit über seinen historischen Gültigkeitsbereich hinaus angewandt. Man glaubte, man hätte so etwas wie absolute Naturgesetze des Ökonomischen gefunden. Aber schon die Verhältnisse in den Neunzigern und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts konnten damit nicht mehr richtig verstanden werden. Es gibt in den Wirtschaftswissenschaften keine ehernen Gesetze. Alles ist historisch bedingt, alles hängt von den Umständen ab. In der Folge dieser Fehleinschätzungen entstanden Verhältnisse, für die Keynes erneut Gültigkeit besaß. Keine Inflation - tatsächlich ist die Inflation weltweit so gut wie ausgestorben, sieht man mal von spekulativen Blasen bei den Rohstoffpreisen ab - enorme Arbeitslosigkeit, chronische Nachfrageschwäche, Zusammenbruch des Finanzsystems: Das sind typisch keynesianische Verhältnisse. Und ich stimme mit Ihnen überein, wir haben das nach der ersten Phase des Krisenmanagements viel zu schnell verdrängt. Die riesigen staatlichen Haushaltsdefizite, die durch die Krisenbewältigung unvermeidlich entstehen mussten, versetzten uns in eine blinde Panik. Dabei sind sie in den meisten Ländern keine Folge staatlicher Verschwendung, sondern das unmittelbare Ergebnis der Krise von 2008. Von dem Augenblick an, da der private Sektor in den USA, in Großbritannien, in Spanien begann, seine extreme Verschuldung zurückzuführen, war ein Anwachsen der Staatsschulden unvermeidlich. Griechenland ist da eher eine Ausnahme. Die Hauptursache in allen anderen Ländern ist der Zusammenbruch der privaten Nachfrage, der Anstieg der privaten Sparrate, dem dann notwendigerweise ein Anstieg der staatlichen Ausgaben entsprechen muss. Wenn wir uns jetzt auf Teufel komm raus aufs Sparen verlegen und sowohl die privaten als auch die öffentlichen Haushalte in den Industriestaaten ihre Ausgaben zurückfahren, geraten wir in das, was Keynes treffend das "Paradox des Sparens" nannte. Wenn jeder nur spart, vermehren sich nicht etwa die Ersparnisse, sondern die Einkommen sinken, weil die Nachfrage zurückgeht, was wiederum zum Anwachsen der Defizite führt. Das ist es, was jetzt in Europa geschieht. Selbst Deutschland ist davon betroffen, weil es auf die Nachfrage in seinen Exportmärkten angewiesen ist. Die USA sind ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Das heißt, wir fallen zurück in eine zweite Abwärtsspirale. Es gibt ein großes Risiko, dass wir den Fehler des US-Präsidenten Roosevelt wiederholen, der 1937 das Defizit zu früh zurückführen wollte und die Zentralbank in der Folge nicht darauf reagierte.

Fuchs: Ist dahinter nicht ein fundamentales hermeneutisches Problem zu sehen, dass die Wirtschaftswissenschaften als eine Sozialwissenschaft ihre Gegenstände eigentlich erst konstituiert, das heißt, dass es ein bestimmtes Feedback, eine bestimmte Wechselbeziehung zwischen der wissenschaftlichen Wahrnehmung dieser Gegenstände und den Gegenständen selbst gibt?

Wolf: Die überragende Bedeutung der Wirtschaft ist symptomatisch für die Moderne. Vor 200 Jahren war die Wirtschaft für die Politik eher zweitrangig. Vor allem, weil man sie kaum für beeinflussbar hielt. Sie war einfach da, ein sekundäres Ergebnis anderer Faktoren. Sicher dachte man über die Wirtschaft nach, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß wie heute. Die Wirtschaftswissenschaften haben sich also mit der Moderne entwickelt.

Natürlich beeinflusst der Fortschritt der wirtschaftswissenschaftlichen Reflexion die Politik, verändert die Märkte, die Mechanismen der Preisfindung, die Rolle und die Entwicklungstendenzen der Finanzmärkte. Die modernen Finanzinstrumente wie Derivate, Optionen, die Preisfindung für Optionen sind Nebenprodukt wirtschaftswissenschaftlicher Modellbildung. Wenn wir als Menschen menschliches Verhalten erforschen und Theorien darüber aufstellen, verändern wir die Menschen zugleich. Dieser Rückkopplungseffekt, den George Soros in einem anderen Zusammenhang als "Reflexivität" bezeichnet hat, ist unvermeidlich.

Es stimmt also, dass der Triumph des Marktoptimismus in den letzten 30 Jahren zu entscheidenden Veränderungen in der Funktionsweise der Wirtschaft geführt hat. Das Ergebnis ist eine exzessive Liberalisierung, die Dominanz des Finanzsektors, radikal veränderte Werte in der Unternehmensführung, wachsende Ungleichheit der Einkommen, Zurückdrängung des Primats der Politik. Vielleicht haben sich die Menschen in ihren Empfindungen und Werten sogar ein Stück weit dem Modell des verhärteten, nur auf Profitmaximierung ausgerichteten Homo oeconomicus angenähert.

Wirtschaftswissenschaftler verdrängen das gerne und halten sich an der Illusion fest, ihre Gegenstände seien unveränderlich wie in einer Naturwissenschaft und eben nicht gesellschaftlich geprägt.

Dabei liegt dem Modell rationaler Erwartungen durchaus ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Das Problem ist nur, dass es auf der Annahme der uneingeschränkten Rationalität menschlichen Verhaltens basiert. Der Homo oeconomicus ist eine Art Rechenmaschine auf zwei Beinen, die unablässig persönlichen Nutzen und Gewinn berechnet. Sein Verhalten folgt dem Modell rationaler Erwartungen und geht davon aus, dass auch alle anderen Menschen ohne Einschränkungen diesem Modell folgen. Wenn alle Marktteilnehmer ihr Verhalten am Modell uneingeschränkter Rationalität ausrichten, ist die Stabilität der Wirtschaft kein Problem. Das ist aber eine unzulässig vereinfachte, sehr lebensfremde Abstraktion menschlichen Verhaltens und menschlichen Wissens.

Es gibt für die ökonomische Disziplin keinen Ausweg aus diesen Rückkopplungsprozessen zwischen Wissenschaft und ihrem wissenschaftlichem Gegenstand. Wirtschaftswissenschaftler müssen sich bewusst machen, dass ihre Theorien die Gesellschaft auch verändern. Das darf sie aber grundsätzlich nicht am weiteren Nachdenken hindern.

Fuchs: Das heißt, die Wirtschaftswissenschaften sind eine Sozialwissenschaft, die eine "Soft Science" ist, entspricht nicht den Idealen einer naturwissenschaftlichen "Hard Science"?

Wolf: Eine Grenzlinie zwischen "Soft" und "Hard Science" ist schwer zu ziehen. Ganz sicher handelt es sich um eine "Hard Science" im Sinne von "schwierig". Es gibt zwei Aspekte, die diese besondere Schwierigkeit in den Wirtschaftswissenschaften begründen. Zum einen geht es um höchst komplizierte Systeme. Darin ist die Ökonomie mit der Klimaforschung vergleichbar. In Bezug auf derart komplexe Systeme mit unendlichen vielen Wechselwirkungen sind Vorhersagen sehr schwer möglich. Und es ist, wie wir gesagt haben, eine Wissenschaft, die den Menschen zum Gegenstand hat. Menschen haben höchst unterschiedliche Motive und Werte, die ihr Verhalten beeinflussen, die sich nicht auf das Motiv des abstrakten Eigennutzes reduzieren lassen. Sie werden von einer bestimmten Interpretation der Welt geleitet. Diese verändert die Welt und das hat wiederum Auswirkungen auf ihre Weltsicht. Damit ist eine Komplexität erreicht, die selbst die Unschärferelation der Quantenphysik noch übertrifft. Schließlich verbergen Elementarteilchen ihre wahre Natur nicht absichtlich vor dem Auge des Forschers. Menschen dagegen und gesellschaftliche Institutionen tun das beständig. Das stellt die Disziplin vor ein erkenntnistheoretisches Dilemma. Sie muss extrem vereinfachen. So ist man davon ausgegangen, dass Menschen im Wesentlichen auf ihren Eigennutz aus sind, im Wesentlichen nach der Vermehrung von Profit trachten und im Wesentlichen intelligent genug sind, diese Ziele auch zu erreichen. Wir wissen, dass das nicht die volle Wahrheit ist. Es ist dennoch erstaunlich, wie weit wir in den letzten 250 Jahren mit diesen extremen Vereinfachungen gekommen sind, wie viel ökonomisches Verständnis damit immerhin möglich war. Aber natürlich hat die Gültigkeit dieses abstrakten Modells auch klare Grenzen. Die Schwierigkeit ist, diese Grenzen zu erkennen und auf Vorhersagen zu verzichten, wenn diese Grenzen überschritten wurden. Geschieht das nicht, wird aus einer nützlichen Wissenschaft eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Für mich war es eine der ganz großen Leistungen von Keynes, dass er diese Grenzen aufgezeigt hat. Sein Begriff der radikalen Unsicherheit zieht die Vorhersagbarkeit zukünftiger wirtschaftlicher Prozesse in Zweifel. Wenn die Unsicherheit ein bestimmtes Maß übersteigt, entsteht Panik. Allgemeine totale Panik setzt alles normale wirtschaftliche Verhalten außer Kraft. Das genau ist in der Krise von 2008 geschehen.

Fuchs: Aber da gibt es dann auch den historischen Aspekt. Durch das Auftreten der modernen Informationstechnologien, durch die neuen Finanzinstrumente, die Derivate zum Beispiel, ist dieses gesamte System in den letzten 30, 40 Jahren noch komplexer geworden. Und das bedeutet, dass der Versuch der Wirtschaftswissenschaften, hier einzugreifen, zu erkennen noch schwieriger wird.

Wolf: Das ist richtig, aber nicht so neu, wie man annehmen möchte. Wenn man die letzten 600 Jahre der Wirtschaftsgeschichte aus großer Distanz betrachtet, kann man den Trend zu immer komplexeren gesellschaftlichen Vereinbarungen nicht übersehen. Das schließt eine immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung ebenso ein wie ein immer geschickterer Umgang mit Risiken. Das Risiko einer Hungersnot beispielsweise gehört in den entwickelten Gesellschaften heute der Vergangenheit an. Vor 300 Jahren war das in Europa noch ganz anders. Heute sind Risiken nicht mehr so sehr Folge von Naturereignissen, sondern sind im Wesentlichen menschengemacht. Schon vor 400 Jahren gab es schwere Finanzkrisen. Charles Kindleberger beschreibt das sehr schön in seinem berühmten Buch Manien, Paniken, Crashs. Die ansteigende Komplexität begleitet uns seit Langem. Regulierungs- und Steuerungsversuche geraten in diesem Prozess regelmäßig ins Hintertreffen. Es kommt zu Krisen. Sie werden überwunden und kehren dennoch immer wieder. Gleichzeitig können wir uns durch immer komplexere Instrumente auch vor immer mehr Risiken schützen. Nehmen wir das Beispiel der Lebensversicherung. Das ist ein sehr kompliziertes Produkt. Es setzt eine ganze Reihe mathematischer Techniken und statistischen Wissens über die Lebenserwartung voraus.

Mit dem Computer ist dann weit mehr möglich. Und natürlich steigt damit auch wieder das Risiko, dass irgendetwas schief geht. Ob das System als Ganzes heute tatsächlich instabiler ist als in den 30er-Jahren, ist für mich eine offene Frage. In gewissen Bereichen aber ist ein Anstieg der Volatilität nicht zu übersehen. Ein Teil davon ist eindeutig auf politische Fehler zurückzuführen. Vor allem, dass wir das Bankensystem mit viel zu geringer Kapitaldeckung, mit völlig falschen Anreizen operieren lassen. Ein anderer Teil wird durch die technologisch verstärkten Rückkopplungsprozesse in den Finanzmärkten verursacht, die Sie beschrieben haben.

Aber auch im 19. Jahrhundert gab es eine große Zahl von Zusammenbrüchen, Börsen- und Bankenkräche und jede Menge Rezessionen. Der Unterschied ist, dass wir diese Katastrophen heute nicht mehr hinnehmen wollen. Wir haben den Ehrgeiz, das Wirtschaftsgeschehen möglichst reibungsfrei zu steuern. Aber marktbasierte Systeme sind prinzipiell instabil, und es ist sehr schwer, den Märkten diese Instabilität zu nehmen. Zugleich ist es sehr schwer, ohne Märkte auszukommen. Das ist nicht allein ein Dilemma der Wirtschaftswissenschaften, sondern der Menschheit überhaupt. Wie so oft erzeugt der Fortschritt große Gefahren.

Fuchs: Die Sozialwissenschaften insbesondere sind immer auch beeinflusst durch Interessen, durch politische Strömungen, durch soziale Gruppen, die sie tragen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die moderne Makroökonomie ein Exportartikel amerikanischer Universitäten ist. Was sind die gesellschaftlichen Interessengruppen, die hinter dieser Dominanz der modernen Makroökonomie mit der rationalen Erwartungstheorie, mit der Befreiung der Märkte usw. verbunden sind?

Wolf: In der Mitte des 20. Jahrhunderts verlagerte sich das Zentrum wissenschaftlicher Aktivitäten von Europa nach Westen über den Atlantik. Die Wirtschaftswissenschaften bilden hier keine Ausnahme. Europa war durch den Krieg geschwächt, viele seiner Intellektuellen waren ins Exil gegangen. Die USA gingen aus dem Krieg als Sieger hervor. Das amerikanische Universitätssystem wurde reformiert und beherrschte viele, wenn auch nicht alle Forschungsdisziplinen. Die Dominanz der US-Universitäten wurde im Kalten Krieg zum erklärten Ziel der amerikanischen Politik. Es ist wichtig, sich diesen Kontext vor Augen zu führen, weil sonst Verschwörungstheorien ins Kraut schießen.

In Bezug auf die Wirtschaftswissenschaften als Gesellschaftswissenschaft stellt sich dann aber auch die Frage, in wieweit diese US-Dominanz der Disziplin einen kulturellen Stempel aufgedrückt hat. Da muss man zwei Strömungen unterscheiden.
Einmal die sogenannte "Salzwasser-Schule" der Ökonomie, die an Universitäten an der Ostküste wie Harvard, MIT, Princeton gelehrt wurde. Dort wurden die Institutionen befürwortet, die mit Roosevelts "New Deal" entstanden sind. Das heißt, man ist für steuernde Eingriffe des Staates, die mehr soziale Gleichheit ermöglichen sollen. Deshalb betont man die Dysfunktion der Märkte und die ihnen zugrunde liegende Unsicherheit über künftige Entwicklungen. Die Gewerkschaften und Teile der alten Großindustrie sind die gesellschaftlichen Interessengruppen, die hinter dieser Sicht der Dinge stehen.

Die so genannte "Süßwasser-Schule" der Ökonomie dagegen, deren Mekka sicher die Universität Chicago bildet, vertritt die Richtung eines geradezu extremistischen Individualismus. Der Staat soll sich höchstens um den Schutz des Eigentums und die innere Sicherheit kümmern, die Märkte würden von ganz allein für allgemeinen Wohlstand sorgen. Und natürlich sind die gesellschaftlichen Interessengruppen, die diese Theorien unterstützen, eher an der Wall Street als bei den großen Automobilherstellen in Detroit zu suchen.

Das sind die beiden großen Strömungen der US-Wirtschaftswissenschaften, die zugleich für zwei diametral entgegengesetzte Gesellschaftsmodelle in der amerikanischen Ideengeschichte stehen. Das erklärt diese Theorien nicht, aber es erklärt die Akzeptanz, die sie gefunden haben, und den Einfluss, den sie ausüben.

Fuchs: Herr Wolf, lassen sich mich dieses Gespräch beenden mit einer Frage nach der Zukunft der Disziplin. Sie waren einer der Mitbegründer des Instituts für neues ökonomisches Denken. Wo sehen Sie die Felder, in denen die Ökonomie sich engagieren muss in der Zukunft? Interdisziplinarität ist sicher ein wichtiges Stichwort. Das gilt für die Ökonomie genauso wie für alle anderen Wissenschaften. Wo sind die neuen Forschungsgebiete, Neuroökonomie, der Einbezug der Psychologie, also Verhaltensökonomie? Wo, würden Sie sagen, sind die Hauptbaustellen, mit denen man sich in Zukunft beschäftigen muss?

Wolf: Ich wünschte mir, ich wüsste die Antwort. Aber wenn ich sie wüsste, wäre das Problem nicht so diffizil, wie es offensichtlich ist. Die Aufgabe, den Herausforderungen der heutigen Ökonomie gerecht zu werden, ist unglaublich schwer lösbar. Eine komplette Neugründung der Disziplin nicht in allen, aber doch in einer ganzen Reihe von Bereichen, ist unerlässlich. Insbesondere, was die Makroökonomie und die Mechanismen der Finanzmärkte betrifft, brauchen wir ganz neue Ansätze. Das hat sich dieses neue Institut auch vorgenommen. Es fällt mir also leichter, die Problemfelder zu benennen, als Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen.

Der Erfolg der Wirtschaftswissenschaften war in den Strategien radikaler Vereinfachung begründet, die sie ins Feld führte. Sehr einfache Bilder über das Wesen des Menschen, das Funktionieren der Gesellschaft, die Verteilung des vorhandenen Wissens und der zur Verfügung stehenden Technologien. Aber dieser Erfolg ist zugleich eine große Gefahr. Denn in kritischen Phasen können diese heroischen Vereinfachungen den Blick auf die entscheidenden Faktoren verstellen. Die Frage ist also: Wie müssen und können die abstrakten Modelle ergänzt und erweitert werden, ohne dass eine nicht mehr zu handhabende Komplexität entsteht. Die beste Landkarte der Welt ist die Welt selbst. Alle anderen Karten lügen in der einen oder anderen Weise. Das heißt, alle von der Kartografie angefertigten Karten sind Vereinfachungen für bestimmte Anwendungen. Für manche Zwecke reicht eine flache Karte, obwohl die Welt eine Kugelform hat. Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft ist die Anfertigung vereinfachender Karten, die die unglaubliche Komplexität wirtschaftlicher Abläufe abbilden.

Zwei Forschungsfelder sind aus meiner Perspektive in diesem Zusammenhang wichtig. Eines betrifft eine tief greifende Revision des Homo oeconomicus. Die Handlungsantriebe und die Wahrnehmungsmuster des Menschen sind völlig unverstanden. Insbesondere die kognitive Dimension liegt im Dunkeln und dies hängt eng mit der fundamentalen Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte zusammen, über die wir gesprochen haben, die prinzipielle Unmöglichkeit einer Zukunftsprognose. Vielleicht bietet hier die Verhaltensökonomie Ansätze. Was die Neuroökonomie betrifft, bin ich etwas skeptischer. Aber sicher sind alle psychologischen Aspekte des menschlichen Verhaltens sehr wichtig, damit wir die unerträgliche Abstraktion des Homo oeconomicus hinter uns lassen können. Profitmaximierung ist bei Weitem nicht das wichtigste Motiv für menschliches Handeln. Wir streben nach sozialer Anerkennung, nach gesellschaftlichem Einfluss, nach harmonischen, zwischenmenschlichen Beziehungen.

Das andere Forschungsfeld, das mich sehr interessiert, sind die Institutionen. Alle Arten gesellschaftlicher Institutionen, Unternehmen, politische Regulierungsinstanzen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände. Sie werden durch bestimmte explizite und implizite Normen bestimmt, ihre komplexen wechselseitigen Beziehungen ermöglichen überhaupt erst das Funktionieren des Wirtschaftssystems. Institutionen haben ihre eigenen Gesetze. Sie schaffen Kontinuität, sie geben den Menschen Halt und können einen Teil der Unsicherheit über die Zukunft aufheben. Sie sind letztlich eine Organisationsform der Zukunftsplanung. Die Wirtschaftswissenschaften haben heute nur ein sehr rudimentäres Bild über die Funktion von Institutionen. Das Bild, das wir beispielsweise gegenwärtig von Unternehmen haben, ist eine unzulässige Vereinfachung. Wir sehen Unternehmen ausschließlich als ein Geflecht von Verträgen. Das ist völlig falsch!

Und es gibt noch eine ganz Reihe anderer Aspekte, die hier berücksichtigt werden müssten. Die Rolle der Macht zum Beispiel. Es wird die Aufgabe der kommenden Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern sein, sich diesen gewaltigen Herausforderungen zu stellen. Lassen Sie mich aber noch einmal mein Credo wiederholen. Die Disziplin wird auch in Zukunft nicht ohne Strategien der Komplexitätsreduktion auskommen. Die extreme Komplexität des Wirtschaftsgeschehens, das nicht etwa ein separates Feld darstellt, sondern unauflösbar mit dem gesamtgesellschaftlichen Geschehen verwoben ist, lässt sich anders nicht wissenschaftlich bearbeiten. Wir brauchen am Ende eine Karte, die nur ein vereinfachtes Abbild der Welt ist, weil man eine Karte, die so kompliziert wie die Welt selbst ist, nicht mehr lesen kann.



Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken

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