Donnerstag, 29. August 2013

vertiefend ---> #Die #doppelte #Spaltung #der #Gesellschaft ... die Entwicklung in Deutschland

 
 

 
 
Die doppelte Spaltung der Gesellschaft
 
 
[via Nachdenkseiten]
 
 
 

Wirft man einen oberflächlichen Blick auf die Entwicklung in Deutschland, so fällt eines sofort ins Auge. Die Gesellschaft ist seit der Jahrtausendwende erheblich ungleicher geworden.

Wies Deutschland im internationalen Vergleich lange Jahrzehnte eine relativ ausgeglichene Einkommensstruktur auf, lag international im unteren Mittelfeld, nahe bei den für ihre geringen Einkommensunterschiede bekannten skandinavischen Ländern, so hat sich das binnen eines Jahrzehnts dramatisch verändert.

Heute liegt Deutschland zwar immer noch im Mittelfeld, jetzt aber am oberen Rand, weit weg von den skandinavischen und relativ nahe an den angelsächsischen Staaten wie Großbritannien, Irland oder den USA. Nach OECD-Angaben hat sich im letzten Jahrzehnt nur in zwei europäischen Ländern die Einkommenskluft zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel noch stärker geöffnet, in Bulgarien und Rumänien.

Von Michael Hartmann

Die Agenda 2010 und die Steuerpolitik – Wege zur Spaltung

Ausschlaggebend für diese gravierende Verschlechterung sind in erster Linie zwei Maßnahmen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, die sog. Hartz-Reformen und die Reduzierung der steuerlichen Belastung für hohe Einkommen und Unternehmen. Die steuerlichen Beschlüsse sorgten für eine Anhebung der Nettoeinkommen bei den oberen zehn Prozent der Bevölkerung, die Agenda 2010 für eine Senkung bei der unteren Hälfte. Sie verschlechterte nicht nur die Situation für Arbeitslose (deutliche Verkürzung des Bezugszeitraums für Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), sie öffnete, was noch wichtiger ist, außerdem den Weg für einen (staatlich subventionierten) Niedriglohnsektor und bewirkte eine starke Lohnzurückhaltung bei den Beschäftigten. Die Angst, in Hartz IV abzustürzen, erhöhte sowohl deren Bereitschaft, schlecht oder sehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, als auch die Akzeptanz geringer Nominallohnerhöhungen, die dann gerade einmal die Verluste durch die Inflation ausgleichen konnten.

Diese Entwicklung wurde durch die starke Zunahme von befristeten und Leiharbeitsverhältnissen, die durch gesetzliche Neuerungen erst ermöglicht wurde, noch weiter verstärkt. Erstere haben seit 1996 von 4,7 auf 8,9 Prozent zugenommen, letztere von 0,6 auf 2,9 Prozent (Gundert/Hohendanner 2011: 2). Bei den Realeinkommen ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Nur das obere Zehntel der Beschäftigten hat bei den Löhnen und Gehältern zwischen 2000 und 2010 real zugelegt. Die restlichen neun Zehntel haben verloren, je weiter unten, umso stärker, insgesamt um 2,5 Prozent. In den untersten drei Zehnteln betrugen die Reallohnverluste sogar zwischen 15,6 und 21,9 Prozent (Angaben des DIW).

Die Bezieher geringer Einkommen und die Arbeitslosen spüren die Folgen der Arbeitsmarktreformen am stärksten. Sie sind die eindeutigen Verlierer der letzten zehn Jahre. Mittlerweile gilt jeder sechste bis siebte Bundesbürger als arm. Eine wachsende Zahl von ihnen, insgesamt fünf Prozent der Beschäftigten, zählt zu den „working poor". Sie bleiben arm, obwohl sie arbeiten, häufig sogar in Vollzeit. Das ist die Konsequenz der massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. In ihm sind mittlerweile fast 22 Prozent der Beschäftigten tätig, verglichen mit nur knapp 15 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Von den Vollzeit arbeitenden Jugendlichen und Leiharbeitern sind es sogar knapp 50 bzw. 75 Prozent. Die Löhne liegen im Niedriglohnsektor vielfach unterhalb der Hartz IV Sätze – zehn Prozent der Beschäftigten müssen für Bruttostundenlöhne von weniger als sieben Euro arbeiten – und müssen deshalb durch staatliche Transferzahlungen ergänzt werden.

Am anderen Ende der Skala ist genau das Gegenteil zu beobachten, und das gleich aus zwei Gründen. Zum einen profitieren diejenigen, die Aktien oder Unternehmen besitzen, in Form höherer Gewinne oder Dividenden von der Lohnzurückhaltung der Beschäftigten und der Senkung der Lohnnebenkosten. Zum anderen ist die steuerliche Belastung aller höheren Einkommen im letzten Jahrzehnt deutlich gesunken. So ist der Spitzensteuersatz zwischen 2000 und 2005 von 53 auf nur noch 42 Prozent gesenkt worden. Dann sorgt die 2008 beschlossene 25prozentige Abgeltungssteuer dafür, dass höhere Einkommen ihre Kapitaleinkünfte nicht mehr mit dem persönlichen Steuersatz von bis zu 42 Prozent versteuern müssen. Schließlich ist auch die Erbschaftssteuer immer weiter reduziert worden, für Firmenerben unter bestimmten Voraussetzungen sogar auf null Prozent. All diese gesetzlichen Maßnahmen begünstigen die Wohlhabenden und, noch stärker, die Reichen. Die reale steuerliche Belastung der 450 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von damals neun Mio. Euro hat sich nach Untersuchungen des DIW allein zwischen 1998 und 2002 durch die Steuerreformen der ersten rot-grünen Bundesregierung von 41 auf 34,3 Prozent verringert (Bach u.a. 2008: 17).

Für die Einkommensverteilung in Deutschland liegen die Folgen auf der Hand. Die Anteile der oberen wie die unteren Einkommen nehmen auf Kosten der mittleren Einkommen (zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens) zu. Letztere haben von 1999 bis 2009 einen deutlichen Rückgang von 64,3 auf 58,7 Prozent erfahren, während die unteren Einkommen um mehr als ein Viertel von 17,7 auf 22,5 Prozent und die oberen Einkommen leicht von 18 auf 18,8 Prozent zugelegt haben (aktuelle Informationen des DIW). Im gleichen Zeitraum haben aber außerdem auch noch die Abstände zwischen den Medianeinkommen dieser drei Bevölkerungsgruppen zugenommen. Der Mittelwert der unteren Einkommen lag 1999 46,1 Prozent unterhalb des Mittelwerts der mittleren Einkommen. 2009 waren es bereits 48,3 Prozent. Bei den hohen Einkommen ist derselbe Prozess zu beobachten, nur in umgekehrter Richtung und noch ausgeprägter. Ihr Abstand auf die mittleren Einkommen ist in diesen zehn Jahren von 91,7 auf inzwischen 103,7 Prozent angewachsen (Goebel u.a. 2010: 5). Die Einkommenskluft hat sich gleich in doppelter Hinsicht deutlich vergrößert.

Die Einkommensunterschiede bei den Nettoeinkommen, also nach Steuern und Sozialabgaben, sind dabei erheblich schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen (inkl. Rentenzahlungen). Der Anteil der Haushalte mit hohen Einkommen hat zwischen 1998 und 2006 netto mehr als doppelt so stark zugelegt wie brutto, der der Haushalte mit niedrigen Einkommen sogar mehr als dreimal so stark (Goebel/Krause 2007: 828). Die Umverteilungswirkung des Sozial- und Steuersystems hat also ganz offensichtlich spürbar abgenommen. Das macht sich zusammen mit der massiven Reduzierung der Erbschaftssteuer auch bei der Vermögensverteilung deutlich bemerkbar. Auf das oberste Prozent der Bevölkerung entfallen mittlerweile 35,8 Prozent des Gesamtvermögens, allein auf das oberste Promille 22,5 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2011: 11). Das entspricht fast US-amerikanischen Verhältnissen, wo auf das oberste Prozent der Bevölkerung ca. 40 Prozent des Vermögens entfallen.

Mehr Bildung – tatsächlich die Lösung?

Die große Mehrheit der politischen Elite wie auch der anderen Eliten präsentiert angesichts dieser Entwicklung immer dieselbe Lösung: mehr Bildung. Bildung stellt für sie so etwas wie ein Passepartout für die ungelösten und an Schärfe immer weiter zunehmenden Verteilungsprobleme dar. Dass Bildung ein wichtiger Faktor bei der Vermeidung von Armut und Arbeitslosigkeit ist, soll hier nicht bestritten werden. Wie die hohe Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen in den südeuropäischen Ländern zeigt, darf die Wirkung von Bildung aber auch nicht überschätzt werden. Außerdem ist in Bezug auf Bildungswege und -abschlüsse in Deutschland dieselbe Entwicklung zu beobachten wie in Hinblick auf die Einkommen. Die Spaltung nimmt bei ihnen ebenfalls deutlich zu.

Viele Beobachter erwarteten nach der öffentlichen Diskussion über die PISA-Ergebnisse Anfang des letzten Jahrzehnts, dass sich die politischen Anstrengungen darauf richten würden, die im internationalen Vergleich sehr enge Bindung zwischen Bildungsabschlüssen und sozialer Herkunft zumindest zu lockern. Die Entwicklung seither weist aber vielfach eher in die entgegengesetzte Richtung. Am deutlichsten wird das beim Übergang zum Gymnasium, der nach wie vor die entscheidende Weichenstellung im Bildungsverlauf markiert. Hier ist eine eindeutige Polarisierung zu konstatieren. Der Gymnasialbesuch ist entgegen dem allgemeinen Trend bei Kindern aus dem unteren Viertel der Bevölkerung zwischen 2003 und 2006 nicht gestiegen, sondern weiter gesunken, und zwar von 12,5 auf 11,6 Prozent. Beim oberen Viertel gab es demgegenüber eine nochmalige Steigerung von 58,6 auf 59,7 Prozent. Genau umgekehrt verhält es sich bei den Hauptschulen, die nur noch von 7,1 Prozent der Kinder aus dem oberen Viertel, aber von 36,8 Prozent der Kinder aus dem unteren Viertel besucht werden. Dieser Trend zur Polarisierung zeigt sich auch bei der mittleren Hälfte der Bevölkerung. Hier gibt es sowohl bei den Hauptschülern als auch bei den Gymnasiasten einen Zuwachs, und zwar auf Kosten der Realschule als mittlerem Schultyp (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 247).

Grundsätzlich gilt: Je kürzer die gemeinsame Schulzeit ist, desto stärker schlägt die im familiären Zusammenhang erworbene oder eben auch nicht erworbene Bildung zu Buche. Kinder aus den „bildungsfernen" Familien haben dann weniger Zeit, familiär bedingte Defizite auszugleichen. Arbeiterkinder, besonders die aus Migrantenfamilien, haben daher in der Regel einen Nachteil gegenüber Akademikerkindern. Für die unterschiedlichen Bildungschancen sind allerdings nicht nur die herkunftsbedingten Leistungsunterschiede verantwortlich, sondern ebenso auch die Tatsache, dass die für den Gymnasialbesuch erforderlichen schulischen Leistungen bei Kindern aus Arbeiterfamilien von den Lehrkräften deutlich schlechter bewertet werden als bei Kindern aus Akademikerfamilien. Die Lehrkräfte an den Grundschulen geben Akademikerkindern fast achtmal so häufig eine Gymnasialempfehlung wie Kindern un- und angelernter Arbeiter. Berücksichtigt man die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und in der Lesekompetenz zwischen diesen Schülergruppen, so verringert sich der Abstand zwar, er bleibt aber immer noch beim Viereinhalbfachen.

Auch hier ist zudem eine starke Polarisierung zu verzeichnen. 2001 reichten für ein Akademikerkind in der Lesekompetenz 551 Punkte für eine Gymnasialempfehlung, während ein Arbeiterkind es auf gut 600 Punkte bringen musste. Bis 2006 ist der Wert für das Kind eines Arztes oder eines höheren Beamten auf 537 Punkte gesunken. Für die Empfehlung reichte bei ihm nun eine Leistung aus, die nicht einmal dem Durchschnittswert aller Schüler von 548 Punkten entsprach. Die Kinder un- und angelernter Arbeiter mussten demgegenüber mit 614 Punkten deutlich bessere Leistungen als 2001 erbringen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Sie mussten jetzt ungefähr eine ganze Kompetenzstufe (von insgesamt nur fünf) besser sein als Akademikerkinder oder, anders ausgedrückt, ihnen mehr als eineinhalb Schuljahre voraus sein, um von den Lehrkräften ebenfalls als geeignet für den Besuch eines Gymnasiums gehalten zu werden. Zur Begünstigung durch die Lehrkräfte kommt dann noch hinzu, dass Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss ihrem Nachwuchs auch weniger zutrauen als Akademikereltern und deshalb dem Rat der Lehrer und Lehrerinnen folgen, wenn es um die Einschätzung der weiteren Schullaufbahn ihrer Kinder geht. Bei Eltern mit Hochschulabschluss oder hoher beruflicher Position sieht das ganz anders aus. So genügten Eltern mit Hochschulabschluss 2006 bereits 498 Punkte (530 Punkte 2001) auf der Skala der Lesekompetenz, um ihre Kinder für geeignet zu halten (Bos et. al. 2007: 19).

Als Konsequenz dieser Entwicklung findet man an den Hauptschulen und Realschulen eine erhebliche Anzahl von Schülern, die die Fähigkeit hätten, eine höhere Schulform zu besuchen. So erreicht jeder vierte der Haupt- und Realschüler Leistungen oberhalb des Realschul- bzw. Gymnasialdurchschnitts. Jeder vierte Hauptschüler und jeder zweite Realschüler ist sogar besser als das untere Viertel der Gymnasiasten (Uhlig u.a. 2009: 428 ff.). Die frühe Verteilung auf unterschiedliche Schultypen beinhaltet nicht nur erhebliche Fehleinschätzungen der Leistungen und eine gravierende soziale Schieflage, sie nimmt Kindern auch die Möglichkeit zu lernen. Bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen erreicht man von Klasse 7 bis Klasse 10 in der Mathematik auf dem Gymnasium einen Lernfortschritt von 91 Prozent, auf der Hauptschule dagegen nur einen von 41 Prozent, nicht einmal halb so viel (Veith u.a. 2009: 28). Die Chance, bei einer Leistungssteigerung später noch einen höheren Schulabschluss anzusteuern, ist zudem sehr gering. Die Wechselquote pro Jahr liegt gerade einmal bei drei Prozent. Was aber noch entscheidender ist. Es kommen auf einen, der den Aufstieg von der Realschule auf das Gymnasium schafft, zwölf, die den umgekehrten Weg gehen müssen. Wechsel bedeutet also ganz überwiegend Bildungsabstieg, nicht Bildungsaufstieg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 66).

Besonders betroffen von dieser Benachteilung sind die Kinder von hier lebenden Migranten. Nur gut jeder achte besucht ein Gymnasium. Fast die Hälfte eines Jahrgangs bleibt nach dem Ende der Pflichtschulzeit sogar ohne jegliche weitere Ausbildung. Hier schlägt sich besonders nieder, dass Kinder aus Migrantenfamilien seltener vorschulische Bildungseinrichtungen besuchen und diese für Kinder bis zu drei Jahren auch in völlig unzureichendem Maße zur Verfügung stehen. Gerade einmal 12 Prozent dieser Altersgruppe können in Westdeutschland, wo die überwiegende Mehrheit der Migranten wohnt, in eine Kindertageseinrichtung gehen. Deutsche Kinder nehmen das Angebot zudem fast doppelt so häufig in Anspruch wie Migrantenkinder. Bei den Kindern zwischen drei und sechs Jahren verbessert sich die Situation zwar erheblich, indem die generelle Besuchsquote auf ungefähr 90 Prozent steigt und sie bei Kindern aus Migrantenfamilien nur noch etwa ein Viertel niedriger als bei deutschen Kindern liegt. Angesichts der sprachlichen und sozialen Nachteile dieser Bevölkerungsgruppe ist das Angebot aber auch in dieser Altersgruppe unzureichend. Dies gilt vor allem für die im Durchschnitt zu kurzen Öffnungszeiten. Ganztägige Angebote existieren in Westdeutschland gerade einmal für ein Drittel der Kindergartenkinder (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 49 ff.; 235f.)

Generell haben die Kinder und Jugendlichen aus der unteren Hälfte der Bevölkerung deutlich schlechtere Bildungschancen. Das setzt sich beim Übergang ins Berufsbildungssystem fort. Von den deutschen Hauptschulabsolventen schaffen gerade einmal 48 Prozent den direkten Übergang in eine duale Ausbildung. Bei denen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, ist es sogar nur ein Viertel. Für die Jugendlichen aus Migrantenfamilien sieht es noch schlechter aus. Zwei Drittel der Hauptschulabsolventen und sogar 88 Prozent derjenigen, die keinen Abschluss geschafft haben, landen in staatlichen Übergangsmaßnahmen, deren Bildungsangebote unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen und zu keinen anerkannten Ausbildungsabschlüssen führen. Überraschend und ein Beleg für die begrenzte Wirksamkeit von Bildung ist aber, dass selbst bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen Realschulabschluss aufweisen, knapp ein Drittel keinen Ausbildungsplatz bekommt, sondern im Übergangssystem endet (ebd.: 99).

Diese Perspektiven schlagen sich dann folgerichtig in der Motivation der Hauptschüler nieder. Das gilt ganz besonders für städtische Ballungsgebiete mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil. Wenn dort aus den gesamten Abschlussklassen der Hauptschulen so gut wie niemand mehr einen Ausbildungsplatz bekommt, dann ist nicht verwunderlich, dass die Schüler sich auch nicht mehr sonderlich anstrengen. Es macht aus ihrer Sicht einfach keinen Sinn. Diese Einschätzung wird im Kern zunehmend auch von den Lehrern geteilt. Eine Befragung von Lehrkräften in den Jahren 2000 und 2011 zeigt ein drastisches Auseinanderdriften zwischen den Hauptschul- und den Gymnasiallehrkräften, was ihre Sicht auf die Zukunftsaussichten der jeweiligen Schülerschaft angeht. War 2000 jeweils ein Viertel der Meinung, die Perspektiven seien für diese besser als früher, und 42 (Gymnasium) bzw. 49 Prozent (Hautschule) hielten sie für schlechter, sieht es elf Jahre später vollkommen anders aus. Bei den Hauptschullehrern hat sich die Stimmung noch einmal, und zwar dramatisch verschlechtert. 60 Prozent sehen die Zukunft für ihre Schüler düsterer und nur noch 18 Prozent positiver. Bei den Gymnasiallehrern ist es genau umgekehrt. Nur noch ein Viertel schaut pessimistisch in die Zukunft, 43 Prozent dagegen optimistisch (Institut für Demoskopie Allensbach 2011: 15).

Gefahren und politische Folgerungen

Die geschilderten Tendenzen, sowohl in Hinblick auf Beruf und Einkommen als auch in Bezug auf die Bildungschancen, sind ein Alarmsignal. Deutschland droht dauerhaft eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft, weil die gesetzlichen Änderungen bei den Sozialleistungen und die Strukturen des Bildungssystems vielfach Hand in Hand greifen, und das nicht im positiven, sondern im negativen Sinne.

Die Hartz-Reformen haben nicht gehalten, was ihre Befürworter stets versprochen haben. Der Weg aus der Arbeitslosigkeit ist nicht leichter geworden, weder durch die Maßnahmen der Arbeitsagenturen unter dem Motto „Fördern und Fordern", noch durch die massive Ausweitung von befristeten Arbeitsverträgen und Leiharbeit. Wie aktuelle Untersuchungen des IAB zeigen, ist es von den Arbeitslosen, die als Leiharbeiter Beschäftigung fanden, gerade einmal sieben Prozent gelungen, in den nächsten zwei Jahren ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis außerhalb der Leiharbeit zu finden. Die Masse verblieb in der Leiharbeit oder wurde wieder arbeitslos (Lehmer/Ziegler 2010: 4). Fast jedes zweite Arbeitsverhältnis, das arbeitslose Hartz-IV-Empfänger antraten, war binnen eines halben Jahres schon wieder beendet und ebenfalls fast jedes zweite musste aufgrund der geringen Löhne durch Leistungen der Arbeitsagentur aufgestockt werden (Koller/Rudolph 2011: 3). Außerdem hat nur jeder achte Geringverdiener innerhalb der nächsten sechs Jahre den Ausstieg aus dem Niedriglohnsektor geschafft (Schank u.a. 2008: 5). Ganz generell stellen Fehr und Vorbruba in ihrer Untersuchung der Hartz-Reformen fest: „Seit der Hartz-Reform haben sich die Arbeitslosigkeitsepisoden der Sozialtransferbezieher nicht verkürzt. Im Gegenteil verweilen Alg-II-Bezieher bei Berücksichtigung soziodemografischer Effekte und der Arbeitsmarktsituation eher länger in Arbeitslosigkeit als Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher vor der Einführung des SGB II." (Fehr/Vobruba 2011:216)

Im Bildungsbereich sieht es nicht ganz so düster aus. Die Hauptschule als Restschule wird mittlerweile fast überall, selbst in der CDU, in Frage gestellt und durch neue integrierte Modelle ersetzt, die sie mit der bisherigen Realschule und der Gesamtschule kombinieren. Allerdings gibt es hier enorme Unterschiede in der länderspezifischen Umsetzung. Es gibt Varianten wie in Nordrhein-Westfalen, die nur bis zur 10. Klasse reichen, das Abitur also ausschließen, und Varianten, die wie etwa in Hamburg auch das Abitur ermöglichen. Was allen gemein ist, das ist allerdings die Bestandsgarantie für das Gymnasium. Eine Zweiteilung wird also in jedem Falle beibehalten. Wie scharf sie ausfallen wird, das muss man abwarten. Außerdem besteht die Gefahr, dass die alte Dreigliedrigkeit zumindest teilweise auf dem Weg der Sonderschulen wieder Einzug hält. Ein Blick auf die neuen Bundesländer, die die Hauptschule nicht kennen, lässt das Problem erahnen. Dort besuchen mittlerweile fast sieben Prozent der Schüler eine Sonderschule, mit Spitzenwerten von knapp zehn Prozent (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 70). Sie ist damit auf dem besten Weg, die neue Restschule zu werden.

Deutschland gehört international mittlerweile zu den wenigen Industrieländern, die sowohl ein sozial stark selektives Bildungssystem als auch eine eher restriktive Handhabung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen aufweisen. Dabei zeigt die Analyse, dass die Verknüpfung großzügiger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen mit einem durchlässigen Bildungssystem die besten Perspektiven für gesellschaftlichen Fortschritt bietet (Allmendinger/Nikolai 2010: 116f.). Was bei einer Fortsetzung der bisherigen Sozial- und Bildungspolitik dagegen zu erwarten ist, zeigen die bisherigen Ausführungen. Außerdem hat die Spaltung der Gesellschaft auch Konsequenzen für die Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen. Die Wahlbeteiligungen signalisieren das mehr als deutlich. Sie gehen ja nicht einfach ganz allgemein zurück, die Quote hängt vielmehr außerordentlich stark von der sozialen Lage ab. Wie Wahlanalysen immer wieder bestätigen, ist in den bürgerlichen Stadtteilen kaum ein Rückgang zu verzeichnen, in den sogenannten „sozialen Brennpunkten" dafür ein umso größerer. Lag die Differenz zwischen diesen Wahlbezirken früher bei zehn Prozent, beträgt sie bei Bundestagswahlen mittlerweile 50 bis 70 Prozent und bei Landtags- und Kommunalwahlen teilweise sogar mehr als 100 Prozent (Schäfer 2009). Wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter, ist damit zu rechnen, dass dieser Prozess voranschreitet, dass die Verlierer der Entwicklung sich noch stärker als bisher politisch abstinent verhalten werden.

Um solche Entwicklungen zu verhindern oder zumindest zu bremsen, müsste zunächst der Konsens durchbrochen werden, der in den letzten zehn Jahren innerhalb der Eliten, nicht zuletzt aufgrund ihrer zunehmenden Homogenisierung, wie auch in großen Teilen der intellektuellen und bürgerlichen Kreise zu beobachten war (Hartmann 2010; 2012). Die Verteilungsfrage ist (gerade angesichts der Finanzkrise und ihrer Folgen) im Gegensatz zur dort vorherrschenden Meinung kein Thema von gestern, die Hartz-Reformen sind keine Erfolgsgeschichte und das Gymnasium ist keine sakrosankte Institution. Das wäre ein Anfang für eine produktive Diskussion über gesellschaftlichen Fortschritt. Findet sie nicht statt, kann es sein, dass wir in Deutschland in zehn oder 15 Jahren eine Debatte über Jugendunruhen und ihre Ursachen führen müssen, wie sie aktuell in Großbritannien Politik und Medien beherrscht.

Literatur:

Hinweis:

Michael Hartmann ist Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Elitesoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie sowie Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.


Er hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.



Pflege: Immer mehr Heimbewohner rutschen in die Sozialhilfe - in #MONITOR am 29.08. um 21:45 Uhr im #Ersten

MONITOR
 
Sendung am 29.08.2013 um 21:45 Uhr im Ersten
 
[via wdr.de]
 
 
 
 
Die Themen
 
  • Unkontrolliert
    Wie bayerische Abgeordnete Steuermittel missbrauchen

  • Bericht: Stefan Stuchlik, Kim Otto

  • Pflege:
    Immer mehr Heimbewohner rutschen in die Sozialhilfe

    Bericht: Nikolaus Steiner, Andreas Maus

  • Umstritten:
    Der designierte IOC-Präsident Thomas Bach

    Bericht: Hajo Seppelt, Robert Kempe

  • Syrien:
    Die deutsche Verantwortung

    Bericht: Isabel Schayani, Marc Adler




  • Vorläufige Thesen zu einem System der Angst --->>> Kapital rennt rund um den Globus auf der Suche nach billigen Löhnen


     

    G. M. Tamás: Vorläufige Thesen zu einem System der Angst

     

    [via Grundrisse - Heft 45]

     

    http://www.grundrisse.net/grundrisse45/system_der_angst.htm

     


    Kapital rennt rund um den Globus auf der Suche nach billigen Löhnen. Es rennt auch in die Gegenrichtung auf der Jagd nach konkurrierender Konsumentennachfrage. Es rennt Gelegenheiten für lukrative Investitionen nach. Es rennt zu Plätzen mit niedrigen Steuern. Es rennt, um stabile Regierungen oder Bürgerkriege zu finden, die nach Waffen und Waren verlangen. Außer es stolpert über nationale Grenzen, also Gesetze, rennt es mit solcher Geschwindigkeit, dass es ortsungebunden erscheint, unmöglich, lokalisiert zu werden. Es ist so schnell, dass es überall zu sein scheint, was es nicht ist. Gesetze, also nationale Grenzen, bringen nicht wirklich seine in alle Richtungen gehende, multidimensionale Bewegung zum Stillstand, seine Geschwindigkeit verschärft sich durch die fast völlige Leere des verdünnten Mediums, durch das es lautlos zischt.

    Arbeit versucht, um den Globus zu wandern auf der Suche nach höheren Löhnen und billigeren Preisen. Sie taumelt andauernd gegen nationale Grenzen, also Gesetze. Sie kann es sich nicht leisten, niedrige Steuern zu befürworten, da sie sich dessen bewusst ist, dass sie den Staat brauchen könnte, also das Arbeitslosengeld. Sie braucht den Staat, mit seinen Grenzen, also Gesetzen, genau den Staat und die Gesetze, die sie davon abhalten, mit einer entsprechenden Geschwindigkeit ein würdiger Rivale des Kapitals zu sein, da Kapital nicht nur ein Gegner und Konkurrent ist, sondern auch eine Quelle von Überfluss, die gesucht wird. Arbeit wird ihr Einkommen mit dem Staat teilen müssen, um das Kapital zu bremsen. So wird sie Geschwindigkeit mehr brauchen als eben zuvor. Aber Arbeit ist langsam, sehr langsam, aus eigener Schuld. Sie hat sich mit den Gesetzen, also Steuern verbunden. Kapital, in seiner Geschwindigkeit nun praktisch unbeschränkt, gleichbedeutend mit Unsichtbarkeit, Abstraktion und Eleganz (und bitte beachtet einfach nicht die Widersprüche in diesen Ausdrücken), wird jung, elegant und streng, in seinen formalen Prinzipien ähnlich der minimalistischen, schlanken, sogar magersüchtigen Architektur der besten Museen für Neue Kunst. Es ist revolutionär. Es ist klug. Es ist richtungslos. Man hört es nicht. Was man hört, ist das Klickklack der Highheels auf Fliesen, das modische Gewimmel seiner abstrakten, schlanken Bewunderer in Schwarz. Arbeit ist furchtbar langsam, sie ist rückständig. Ihre Intelligenz wird zurückgewiesen, da nur eine Art von Intelligenz gebraucht wird, die, die nicht gebremst wird. Vor allem nicht nur Gesetze, die nun ausgerichtet sind, den Verkehr zu fördern, also Geschwindigkeit. Arbeit ist fett, Arbeit ist Bermudashorts und Hawaiishirts, die Kleidung des späten Fordismus. Sehr bunt und laut. Sehr sichtbar. Sehr reaktionär, sehr rückschrittlich. Sesshaft und ängstlich. So ist auch der Staat. Noch immer gestützt auf physische Gewalt, daher auf körperlichen Kontakt, auf Nähe. Lärm. Gerüche. Um weiterzukommen, muss man jemanden zur Seite schieben, der einem auf die Zehen steigen könnte. Der Staat ist nun kein Etwas. Er ist ein Hindernis für etwas. Daher wird er mit Radaubrüdern ausgestattet.

    Wie neu aber das Medium, der Stil, die Dringlichkeit und die Ausstattung sein mögen, das Bedürfnis des Kapitals, Produktionskosten zu reduzieren und Profite zu maximieren, ist ewig.

    Die Geschwindigkeit der Jagd nach vorteilhaften Verwertungen des Werts beschreibt nicht nur etwas im Raum (also digital oder sonst wie geschrumpfte Zeit), sondern beschreibt es auch qualitativ durch gesteigerte Produktivität, was natürlich eine andere Schrumpfung von Zeit, in diesem Fall von Arbeitszeit ist. Der globale Wettlauf oder Wettbewerb, immer schon ein Wesensmerkmal von Kapitalismus, hat sich jetzt nur insofern verallgemeinert, als es keine nicht kapitalistischen Nischen mehr gibt, die den Wettlauf in eine einzige Richtung gelenkt hatten (Kolonialismus). Die Jagd des Kapitals und der langsamere Fluss der Arbeitskraft (auch sie durch Technologie beschleunigt) lässt Beobachtern alle Hindernisse, alle Halte als widerlich und schmerzhaft erscheinen.

    Menschen haben aber solche Halte als Heim angesehen – zumindest bis jetzt. Das Heim ist, wo keine Eile ist. Daheim ist, wo äußerlicher Zwang verlangsamt oder zum Halten gebracht wird. Wo Wert im Marxschen Sinn draußen bleibt. Das Private steht vorgeblich nicht zum Verkauf, es wird nicht als produziert gedacht, es wird als einfach vorhanden vorgestellt, wie es immer war, natürlich: unbeweglich wie ein Baum. Wie uns Christopher Lasch erinnert, wurde Ehe als „Hafen in einer herzlosen Welt" betrachtet. Aber der Halt im globalen Rennen, der Heim genannt wird, war immer von bourgeoiser Doktrin bedrängt worden: Im Gewand der Familie war es der Ort von Fortpflanzung und Reproduktion, das Zentrum des Konsums und politisch betrachtet ein Element der Zivilgesellschaft, zusammen mit Markt, Öffentlichkeit, NGO, Parteien, Sportvereinen, Kirchen und dem ganzen Rest. Wahlsysteme basieren auf Wohnbezirken, wo Menschen Einwohner von Häusern, so gesehen private Bürger sind. Wohnungseigentum basiert auf der Differentialrente. So gesehen ist die Kommodifizierung und die Verdinglichung von Heim (also die Kolonialisierung des Privaten, die Verdünnung der bourgeoisen Individualität, die Mobilisierung der Bewohner von Daheim) nichts wirklich Neues[1].

    Vermittelt, wie es ist, durch Miete, Hypothek, Kredit, Verkehr, durch Heizung, Wasser, Kanalisation, Strom, Telefon, Post, Kabel- und Satelliten-TV, Radio, Internet, GPS, und andere Netzwerke, durch Bauindustrie, Polizeiüberwachung und Schulbezirk, ist das Heim dennoch ein Halt, ein Haltepunkt im globalen Rennen, mitten im Sturm von Produktion, Akkumulation, Zirkulation und Distribution. Denn es ist, einfach gesagt, das, wo Menschen schlafen. Das, wo auch immer, Familienmitglieder oder Zimmergenossen zusammenbringt, es ist nicht Produktion. Nicht Tätigkeit, sondern Untätigkeit. Eher biologische und affektive (wenn man Erbschaft mit ihrem bioökonomischen Charakter dazu nimmt) als finanzielle Bindungen. Mahlzeit, Sex, Ruhe, ein Gefühl von Sicherheit und Innerlichkeit und über allem eine alles umfassende, überspannende Idee von Anhalten. Drinnen sein, in den vier Wänden sein, zu Hause sein bedeutet hauptsächlich eine Unterbrechung ewiger Bewegung. In Analogie dazu wurde dann auch die Begrenzung – die Nation, der Staat, das Recht – als ein Haltepunkt, ein Schutzraum vor dem globalen Wettlauf, rundherum und rundherum, vor Kapital und Arbeit, vor der Geschwindigkeit der Verwertung (Produktion, Akkumulation, Zirkulation, Distribution) und der technologischen Innovation, vor dem „Wandel" (um die offizielle, ideologische, bourgeoise Bezeichnung zu verwenden) betrachtet. In Ausweitung des Begriffes wird sich das politische Analogon von Heim auf Grenze (Nation, Staat, Recht) übertragen, die auch eine Kontrolle der Geschwindigkeit ist, daher als Heim erscheint. Diese Analogie ist die Grundlage für romantisch-reaktionäre Gedanken, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die sich heute in Nischen einiger linker, populistischer (grüner und anderer) ideologischer Konstruktionen finden. Die Grenze – also eine politische Beschränkung für das Kapital – ist, weil sie institutionell und öffentlich ist, natürlich das genaue Gegenteil von Heim. Aber Grenzen sind ein Ausdruck davon, was sich in ihrem Inneren befindet. In diesem Fall ist, was innerhalb des Nationalstaats ist, eine Beschränkung und ein Zwang für das Kapital, hauptsächlich eine äußerliche Maßgabe für Kauf und Verkauf, für die Ungleichgewichte von Kapital und Arbeit, Preisen, Löhnen und ähnlichem, inklusive der Crux des Ganzen, des Arbeitsvertrages. Der Arbeitsvertrag, der, indem er Kapital und Arbeit zusammenbringt, wesentlich ist für den Beginn der Verschmelzung von Produzent und Produktionsmitteln, die Produktion und Zirkulation (von Wert) initiiert, ist notwendigerweise auf Freiheit gegründet (er findet statt zwischen freien Akteuren, um eine Übereinkunft zu beiderseitigem Nutzen zu besiegeln). Freiheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für Ausbeutung, vor allem, aber nicht nur, in einem Regime des Marktes.

    Der Nationalstaat erscheint zuerst als eine Kontrolle des freien Flusses von Kapital und Arbeit, insofern als Regulierung, ein Bremsen, ein Unterbrechen, ein Anhalten, wenn auch zeitweilig. Aber der moderne Staat möchte auch regulieren, um Geschwindigkeit zu garantieren, also die freie Bewegung der Subjekte in der Produktion und im Tauschprozess ohne Behinderungen durch irreguläre Kräfte ungerechtfertigter Gewalt oder unvernünftiger Traditionen. Wenn die Grenze (Staat, Nation, Recht) überhaupt ein Heim ist, ist sie eine Heimstatt für einen Widerspruch: für Freiheit (sie befreit von der biopolitischen Gebundenheit wie etwa dem Privileg hoher oder niedriger Geburt, was durch die Zufälligkeiten des Wettbewerbs, gedämpft durch Hierarchien, die sich Erbschaften und „sozialem" und  „kulturellem Kapital" verdanken) und für soziale Schutzbestimmungen, die sehr streng die Vertragsfreiheit beschränken (durch Besteuerung und Umverteilung und durch Arbeiterrechte, Konsumentenrechte, durch affirmative Handlungen, durch Gendergerechtigkeit und ökologische Gesetzgebung).

    Heim im Spätkapitalismus stellt sich als Freiheit von der Bewegung dar. Heim, das heißt Familie und ihr gesellschaftlicher Schutz durch Gesetzgebung, verteidigt durch staatlichen Zwang, scheint standfest, ein Synonym für permanent. Freiheit von Wandel, begriffen als zwingende, aber willkürliche Wurzellosigkeit. Unnötig zu sagen, dass das eine Illusion ist, aber eine bemerkenswerte Illusion. Bemerkenswert vor allem wegen seiner jüngsten Transformation, wobei der gesellschaftliche Schutz (der Wohlfahrtsstaat und Egalitarismus der Verteilung) nunmehr schon eine furchterregende Bedrohung für die Sicherheit von Heim bedeutet.

    Eine der wichtigsten Paradoxien des Zeitalters ist die gleichzeitige Verwandlung des Egalitarismus – vorgeblich eine Sichtweise im Interesse der Mehrheit – in eine elitäre Doktrin als einen Minderheitenstandpunkt. Politische Siege (bei Wahlen oder ideologisch) und Mehrheiten bei Meinungsumfragen, irriger- aber verständlicherweise als „populistisch" tituliert, wurden durch Widerstand gegen sogenannte Sozialgesetzgebung (hauptsächlich verschiedene Formen von Hilfe für Bedürftige) erreicht, einen Widerstand, der von jenen unterstützt wird, die von dem profitierten, das abzulehnen sie nun geneigt sind. Menschen, die sich vor der rücksichtslosen Energie des globalen Wettlaufs fürchten, scheinen bereitwillig zur Demolierung ihres eigenen (sozialen und nationalen) Heims beizutragen.

    Es handelt sich um eine große, ideologische Transformation mit schwerwiegenden politischen und kulturellen Konsequenzen, die dringend genaue Analyse erfordert.

    Es ist nicht nur Klassenkampf von oben (obwohl es das auch ist, und zwar sehr), aber die Analyse muss auch die Transformation des strukturellen Hauptkonflikts der bürgerlichen Gesellschaft in Rechnung stellen – das Ergebnis einer mächtigen „passiven Revolution" –, die ihn entschieden biopolitisch[2] macht. Diese biopolitische Wendung ist teilweise definitiv rückschrittlich – sie rehabilitiert Herkunft und Stand als Grundlage der Bildung von Schichten, wogegen die bürgerliche Revolution gekämpft hat – und teilweise fortgeschritten, ultramodern, indem sie die Sistierung oder Aufhebung des Klassenkampfes vortäuscht und das Zentrum der fundamentalen Auseinandersetzung vom Eigentum zur Bedingung des Menschseins verschiebt.

    Zählen wir erst diese Veränderungen, wie sie in den doxa des Zeitalters erscheinen, auf und machen dann ein paar verstreute kritische Anmerkungen:

    1) Technologische Veränderungen – von der Automatisierung und Robotik über Digitalisierung und Nanotechnologie bis zu den Wundern der Biochemie – haben zum ersten Mal in der Geschichte die menschliche physische (körperliche) Anstrengung in der Produktion von Gütern unbedeutend gemacht. Das wurde von einem noch nie da gewesenen Wachstum von Produktivität und Arbeitsintensität begleitet, was die Mehrheit der globalen Arbeitskraft für immer überflüssig macht. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist nicht länger ein Problem, wenn auch allgemein, verderblich und notwendig, sondern wesentliche Bedingung des Menschseins. Die Mehrheit der Menschheit wird nie wieder wertproduktiv sein.

    2) Arbeit – als das hauptsächliche Sozialisationsmodell im Kapitalismus – hört zu bestehen auf. Die Institutionen im Kapitalismus wurden eingerichtet, um die Mobilisierung des durchschnittlich begabten Menschen zur Teilnahme an entfremdeter Arbeit sicherzustellen, also an Tätigkeiten, die von den individuellen Absichten getrennt, aber das einzige Mittel zum Überleben für die Habenichtse sind. Mobilisierung und Zwang haben diesen Zweck unter legal und juristisch gleichen Bürgern bedient, wobei sie Nischen von Subsistenz, Handwerk, unabhängigen Höfen und so weiter zerstörten. In der klassischen bürgerlichen Gesellschaft haben die Leute ihr Leben in Institutionen verbracht: Schule, Armee, Kirche, Verein, Gewerkschaft, Massenpartei, Sportklubs, organisierte Freizeitaktivitäten, kommerzielle Popkultur, Boulevardpresse und Radio, Fangruppen, Nationen, Familien und so weiter. Kollektive Mitgliedschaft in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen war vorrangig. Dieser institutionelle Charakter des fordistischen Kapitalismus wurde weggefegt, in Stücke geschlagen durch die schwindende Nachfrage nach Beschäftigten.

    3) Trotz dieser Veränderungen ist eine fundamentale Gegebenheit dieser Gesellschaften gleichgeblieben: Es gibt weiterhin nur zwei anerkannte Quellen für Einkünfte, nämlich Kapital und Arbeit. Beide werden immer marginaler, werden Minderheitsphänomene.

    4) Was immer auch durch gesteigerte Produktivität und Abbau der Beschäftigung, was zu einem drastischen Rückgang der globalen Reallöhne führt, also durch die radikale Kürzung der globalen Produktionskosten gewonnen wird, befrachtet die Ressourcen, die für den Konsum gebraucht werden (konkurrierende Nachfrage), mit Unsicherheit. Verbrauchermärkte brauchen noch immer die Teilnahme der Massen, die für immer vom Einkommen in der Lohnform abgeschnitten sind. Damit Produktion und Handel weitergehen können, wird die Verbrauchernachfrage irgendwie finanziert werden müssen. Die erste panische Lösung – daraus auch die aktuelle Schuldenkrise – war die immense Kreditfinanzierung auf der Grundlage fiktiven Kapitals gewesen. Arbeit als eine legitime Quelle des Konsums, also des Unterhaltes, wurde weitgehend durch Kredit ersetzt, eine Vergesellschaftung von Zirkulation und Nachfrage auf zweiter Ebene. Ähnliche Fragen wurden früher durch eine staatliche Version (Wohlfahrtsstaat) dieses Angebots von Anreizen für Akkumulation, Investition und Reinvestition in einer geordneten, regulierten Art gelöst. Dieser gesellschaftliche Kreditvorschuss wurde durch souveräne Staatsmacht und territoriale Expansion (Kolonialismus) garantiert, die unproduktive Löhne in den fortgeschrittenen Ökonomien (sprich weißen Nationen) hautsächlich im Staatssektor finanzieren sollten, was Frieden und Ordnung im Inneren möglich machte, während das zunehmend imaginäre Modell von Vergesellschaftung durch Arbeit intakt gehalten wurde. Der Abbau solcher staatlicher Ressourcen und sozialdemokratischer politischer Maßnahmen zur Finanzierung von Konsum (inklusive Wohnung, öffentlicher Verkehr, Erziehung, etc.) durch die neokonservative Konterrevolution (von den 1970ern bis jetzt) ließ ein noch nie dagewesenes Rätsel auftauchen.

    5) Die gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte der Staaten wurden genau zu dem Zeitpunkt radikal beschnitten, da es keine andere Macht gab, an die sich die neue nicht produktive Mehrheit wenden konnte, um zu fordern, dass ihr Überleben (Lebensstandard, Aufstiegsmöglichkeit, materielle Verbesserung) als Bedingung menschlicher Existenz in organisierter Gesellschaft (Zivilisation) aufrecht erhalten bliebe. Dies also war der Moment, in dem die mächtige herrschende Ideologie ernsthaft damit begonnen hat, zwischen bürgerlicher und sozialer Gleichheit zu unterscheiden, deren Synthese von der nun vergessenen Katharsis von 1945 versprochen worden war (man denke an die Reihe sozialer Verfassungen, die von antifaschistischen Wählermehrheiten in Italien, Österreich, Frankreich, Deutschland, etc. in den 1940ern und 1950ern angenommen wurden, vom Sowjetblock ganz zu schweigen). Das war die Zeit, da der alte Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit (vorgetragen von einem altertümlich aristokratischen Liberalismus, eine Reaktion auf die Französische Revolution) wiederbelebt wurde, da, Gleichheit wieder als Neid und Missgunst definiert wurden, was von gerissener totalitärer List in Anschlag gebracht wurde. Das war ein recht erfolgreicher Kniff, um den Forderungen nicht produktiver, aber empirisch schwer arbeitender Mehrheiten nach unbegrenztem Kredit zuvorzukommen, da Löhne für unproduktive Arbeit nichts als (vermummter) Kredit und Lohnerhöhungen nicht als erweiterter Kredit sind. Neokonservative Regierungen (und alle gegenwärtigen Regierungen der entwickelten Länder sind neokonservativ) sind nicht in der Lage, dies zu gewährleisten. Zeit, die mit fremder Tätigkeit verbracht wird, wie in der Verwaltung, im Staatssektor, ist keine Arbeitszeit irgendeiner „natürlicher" Art, sie kann es sein und dann wieder nicht.

    6) Der Verfall sozialer und ökonomischer Macht des Staates bedeutet nicht den Verfall all seiner Mächte, also der Fähigkeit des Staates, gesetzlichen Zwang der einen oder anderen Art auszuüben. In diesem Fall ganz im Gegenteil. Der Staat findet sich in einer Lage, wo er entscheidet, gezwungen ist, zu entscheiden, wer staatliche Mittel zum Überleben erhält und wer nicht, was in der gegenwärtigen Gesellschaft bedeutet, dass er die Pflicht und das Vorrecht hat, über Leben und Tod zu entscheiden.

    7) Denn es ist ein Gebot der Stunde, dass gegenwärtige Staaten – in einer Situation, wo Produktion und Akkumulation sich schnell steigern und die Masse der Produzenten sich ebenso schnell verringert – die Kriterien finden, nach denen manche Gruppen zu staatlichen Mitteln (jenseits von Kapital und Arbeit) durch gesetzliche und gerichtliche Bescheide legitimerweise berechtigt sind und manche nicht.

    8) Die Legitimation zu gesellschaftlichem Leben und zu gesellschaftlichem Tod, die den Betroffenen zugeteilt wird, ist den Regierungen aufgezwungen. Ein typischer Fall ist die Subprime-Hypothekenkrise in den Vereinigten Staaten. Da die Finanzierung der nicht produktiven niedrigen Mittelschicht durch Lohnerhöhungen und direkte Unterstützungen durch die Regierung kulturell unmöglich war, hat die US-Regierung durch staatliche Institutionen wie Fanny Mae und indirekt unterstützte Banken und Versicherungen für diese sozialen Gruppierungen Wohnraum durch Hypothekarkredite finanziert. Als das Kapital dazu nein sagte (die Verluste waren beträchtlich), wurde die Klassenherrschaft durch das Fälligstellen der Kredite und den Zusammenbruch der Kreditinstitute, die den Staatszielen diente, die Mittelschicht über Wasser zu halten, wieder bestätigt. Die Krise – ein Instrument kapitalistischer Disziplinierung – hat gezeigt, dass es vor den rigiden Entscheidungen, denen der Staat gegenübersteht, kein Entkommen gibt. Die Entscheidungen sind bedrückend. Entweder würden sie den Kredit zerschlagen und Hunderte Millionen zu erbärmlicher Armut verurteilen und so den Konsum beschränken, was die Nachfrage reduzieren und die Produktion und Profite und Vermögen zerstören wird, oder sie würden den Kredit finanzieren durch Schaffung und Neuschaffung von fiktivem Kapital, was die Erhöhung von Steuern erforderlich macht mit Kapitalflucht und folgendem Zurückfahren der Produktion, also im Wesentlichem demselben Ergebnis.

    9) Die einzige Möglichkeit ist, die Anzahl der Leute, die von staatlich garantiertem Kredit abhängen, zu reduzieren und die Verbrauchernachfrage durch verschärfte Ungleichheit auf einem akzeptablen Niveau zu halten – indem produktive Löhne in den neu industrialisierten Ländern (wie China, Indien, Vietnam, etc.) extrem niedrig gehalten werden.

    10) Aber wie können die Regierungen entscheiden, welche Gruppen sozialer Rechte beraubt werden, das heißt nicht marktgebundener Mittel für nicht produktive Bevölkerung (der im öffentlichen Dienst, in den Dienstleistungsindustrien, die in keiner Weise Industrien sind, in den Pflegeberufen, in Erziehung, Forschung und Kunst und anderen, weiter unten beschrieben)?

    11) Die Antwort ist zweifach: moralisch und biopolitisch. In einer der größten Wenden in der westlichen (oder europäischen) Geschichte  wurde eine gründliche Neuformulierung der politischen Legitimität vorgenommen, ohne dass die gewöhnlichen Beobachter und Auguren davon eine Ahnung hätten – wie üblich.

    12) Zuerst wurde der gute alte Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen ideologisch zum Verschwinden gebracht, wobei die mit legitimem Einkommen (Kapital und Arbeit) auf der einen und die ohne legitimes Einkommen auf der anderen Seite sich fanden. In Kontinentaleuropa wird von tätiger und untätiger Bevölkerung gesprochen. Die untätige Bevölkerung – Arbeitslose, Alte und Pensionisten, Studenten, Kranke, die, die sich um Kinder oder alte Verwandte kümmern (vornehmlich natürlich alleinerziehende Mütter), Marginalisierte, Unvermittelbare, körperlich oder geistig Behinderte, Obdachlose, fahrendes Volk, urbane Nomaden, manchmal unnütze Künstler, Forscher, Lehrer – wird, manchmal unter Einschluss des Prekariats, für wertlos, parasitär, unwürdig erklärt. Die Maßnahmen von Inklusion, positiver Diskriminierung, sozialer Unterstützung sind – vielleicht mit den Ausnahmen von ineffizienter Umschulung und lebenslangem Lernen – gründlich kompromittiert. Diese Teile der Bevölkerung werden bestraft, diskriminiert, verfolgt und drangsaliert, vorsätzlich dem Hunger ausgesetzt, ermuntert, bald zu sterben. In einer Gesellschaft, in der Arbeit als Sozialisationsmodell schon längst nicht mehr funktioniert, wird Arbeit als Kardinaltugend hochgepriesen, ohne Eudämonismus und Hedonismus (oder die demotische subbourgeoise Variante des Konsumismus) zu verleugnen. Frühere Versionen des Liberalismus anerkannten die Rolle von Glück, von zufälliger Verteilung von Verdiensten als Nebenprodukt von Freiheit, aber sie nahmen üblicherweise Abstand davon, Glück für eine Tugend zu halten – sonst hätten sie keinen Anlass gehabt, es zu verteidigen. Heutige Regierungen meinen, Unglück bestrafen zu müssen und sind bereit, in reinster Nietzscheanischer Manier zu erklären, dass die gesellschaftliche Stellung (mit jedweder Position innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) ein Ausdruck von innerer Energie und Verdienst ist. Aber wo Nietzsche Sklaverei vorschlug und pries, haben es zeitgenössische Regierungen mit Nichtarbeitern zu tun. Worum es geht, ist nicht die Repression untergeordneter, niedriger Arbeiter, sondern die Rechtfertigung des gesellschaftlichen und in der Folge biologischen Todes derer, die nicht arbeiten können, da ihre Arbeit von Maschinen vollbracht wird.

    13) Die Selektion – ich bin mir der nicht Darwin'schen Konnotationen des Begriffs wohl bewusst, da wir hier nicht von natürlicher Selektion sprechen – derer, die entsprechend ihrer körperlichen Merkmale und ihres instinktiven Verhaltens (Gesundheit, Alter, manchmal Geschlecht und sexuelle Ausrichtung) und entsprechend ihrer kulturellen Stigmata zu gesellschaftlichem Tod verurteilt sind, ist rein biopolitisch. So sind es auch die Bestrafungen – Reduktion von körperlichem Wohlbefinden, Wohnung, Heizung, Licht, Nahrung, frischer Luft, medizinischer Versorgung, Hygiene, Bewegung, wärmender Kleidung, psycho-physiologischer Genüsse durch Alkohol und Drogen, etc. Moralisch schneiden der Entzug von gleicher Würde, die stigmatisierenden Vorurteile, die offene, öffentliche und offizielle Geringschätzung für die Unglücklichen (die in diesen Konkurrenzgesellschaften umso heftiger ausfällt) die Gesellschaft entzwei. Hier erscheint das ausgebeutete Proletariat als eine privilegierte Klasse, da es im Gegensatz zu den Neuen Müßiggängern als solid und achtbar angesehen wird. Wenn auch unterdrückt wird es als Vollmitglied des Kapital-Arbeit-Kontinuums betrachtet. Es ist nicht unbezahlt.

    14) All dem würde natürlich die Überzeugungskraft fehlen, wenn es nicht mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Spielarten des Ethnizismus, einherginge. Ethnizismus ist nicht einfach eine politische Meinung oder Ideologie. (Dazu gleich mehr in einer Minute.) Ethnizismus ist zumindest zu diesem Zeitpunkt eine symbolische Strategie, die das zufällig ausgewählte Ziel biopolitischer Selektion als fremd, das heißt als Nichtmitglied der politischen Gemeinschaft auszeichnet. Da die typischen Empfänger sozialer Zuwendungen, immer als Schnorrer, kriminell, „welfare queen", Sozialschmarotzer, illegal eingereist, „sans-papier" dargestellt, symbolisch fremd sind, ist seine oder ihre wirkliche Herkunft ohne Bedeutung. So werden Egalitaristen – in der offiziellen Ideologie – zu Vertretern von kleinen bevorzugten Gruppen, weil sie als Verteidiger der Abgeschiedenen, der Atypischen, der Minderheiten gegen „uns" dargestellt werden, was Unsinn ist, aber Egalitaristen und Progressive werden provoziert, sich als gegen den ethnizistischen Mainstream eingestellt aufzuführen, der keine Mehrheit, sondern eine Meinung ist (obwohl nicht nur schlicht eine Meinung). Das Problem ist, dass die nicht produktiven Schichten zusammengenommen die Mehrheit sind, nur die Sündenböcke darunter sind eine Minderheit. So also wird „unsere Gemeinschaft" geschützt. Eine spezifische, aber recht wichtige Form der Delegitimation von Gleichheit und Egalitarismus ist Antikommunismus. Das Schema ist dasselbe: eine sinistre, gefährliche, doktrinäre Elite mit Heilsversprechungen, weit weg von den realen, diesseitigen Beschäftigungen der einfachen Menschen. Just wie die verachteten Menschenrechtsaktivisten, die „Berufsantifaschisten" oder, in Anders Behrens Breiviks Mundart, „die Kulturmarxisten" (er hat geradewegs recht, das ist es, was wir sind), die sich der neuen biopolitischen Aufteilung entgegenstellen. Die Funktion des Antikommunismus in Abwesenheit einer kommunistischen Weltbewegung ist jedoch etwas Komplexeres als eine entlegitimisierende Ideologie. Er erledigt die Aufgabe, die Grenzen neu zu bezeichnen, vornehmlich den Staat (oder die Regierung) als die Alternative oder den Gegner des Kapitalismus, dargestellt als schiere Marktwirtschaft – was er nicht ist und niemals war –, vorzuführen, also Repression und Regulierung (in ihrer legalen Form: Recht) mit Kommunismus zu identifizieren und den Staat als Gefahrenquelle für Freiheit zu malen und so beide zu kastrieren. So wird Befreiung wieder als eine Vorstellung von Unterjochung eingeführt, als Gegenspieler von Spontaneität (Kreativität, Initiative, kreatürlichem Geist und ähnlichem). Die Macht, zu beschränken, zu unterdrücken und zu beherrschen, auch auf wohlwollende Art, (also den Staat) erfolgreich mit der Macht, das weltliche und körperliche Wesen von der unpersönlichen Gewalt abstrakter Arbeit zu befreien, (also dem Kommunismus) zu identifizieren, heißt, vor allem jene, die aus dem Kapital-Arbeit-Kontinuum herausgezwungen werden, ihr Verlassensein verehren zu lassen als ihren Eintritt in wirkliche, keinem Zwang ausgesetzte Menschheit.

    15) Krise und Mainstreampolitik (beide sind des anderen Schöpfer und Schöpfung) haben es geschafft, eine doppelte Gesellschaft zu entwerfen: die von mangelhafter Körperlichkeit und Moralität und den gesunden Kern von Gesellschaft. Die Aufgabe ist, die ersteren auszuschließen und ihre Inferiorität akzeptieren zu lassen – und das übrige Proletariat zu veranlassen, den Gendarm biopolitischer Macht zu spielen.

    16) Die Synthese von Produzenten und Nichtproduzenten sollte dem entgegentreten, was das Konzept der Ausbeutung verdoppelt und zur gleichen Zeit relativiert, das in seiner direkten und augenscheinlichen Form innerhalb der engen Grenzen dessen, was man als den privilegierten Mikrokosmos des Kaptal-Arbeit-Kontinuums verstehen kann, verbleibt. Der Ausgang der marxistischen Debatte, ob es „das Kapital" ist, das das wirkliche Subjekt der Geschichte der Moderne ist, oder „der proletarische Klassenkampf" (das erstere wohl der Standpunkt der Kritischen Theorie und letzteres der von Mario Tronti und des operaismo), wird, wenn sie fortgesetzt wird, von einer neuen Definition von Entfremdung abhängen, die Ausschluss von Produktion und somit von gesunder und gewürdigter Körperlichkeit, vom Kapital vorgetragen und vom Staat sanktioniert, mit einschließt. Die betrügerische Unterscheidung von Lohn und Transferzahlung – zu beobachten in der gegenwärtigen Auseinandersetzung gewerkschaftlich orientierter Alter Linker und humanitärer, auf Umverteilung abzielender neuer sozialer Demokratie, die sich der „Diskriminierung" und „Grausamkeit" entgegenstellt (beide verfehlen das Thema) – und das daraus resultierende Schisma unter den Intellektuellen führt zu einer doppelten, nicht zugegebenen und manchmal nicht einmal bewussten Akzeptanz eines postfaschistischen staatlichen Kommandos über biologisierte und ethnisierte Energien, die von der Krise ausgelöst wurden. Wenn sich die Kräfte der Befreiung dazu bereitfinden, die postfaschistische Betonung von „Arbeit" (oder „entlohnter Beschäftigung") hinzunehmen, die die echte menschliche Spezies dem untermenschlichen Abfall derer, die untätig sind, eine üble Widerspiegelung der tatsächlichen nazistischen Identifikation von Kapitalismus mit parasitärer „Finanz" oder, einfacher, „den Banken" (nicht ohne Einfluss auf die naive und populistische Linke), entgegenstellt, dann wird es keine theoretische und politische Darstellung einer Unterdrückung geben, die wieder einmal die höchste Leistung vollbringt, die Klasse gegen sich selbst in Stellung zu bringen. Das richtige Verständnis von Löhnen ist entscheidend für eine Synthese, die gegen die neue Dynamik des Kapital-Arbeit-Kontinuums gesetzt werden kann, die das beklagenswert einfache Geheimnis des Postfaschismus ist.

    Der Ausnahmezustand, der Freund und Feind nun innerhalb nationaler Gesellschaften und Nationalstaaten neu definiert, bleibt das fundamentale Wesensmerkmal des Postfaschismus, wie ich ihn in einem Aufsatz vor zehn Jahren definiert habe. (In dieser Ausgabe der Grundrisse ebenfalls abgedruckt – Anm. die Red.) Sein Vorbild ist die Annullierung der jüdischen Emanzipation durch das Dritte Reich. Die Verwandlung von Nichtstaatsbürgern in homines sacri ist gleichwohl unverändert. Die Errichtung hoher Deiche gegen die Migration, selbst um den Preis der Verlangsamung des kapitalistischen Flusses, ist noch immer sein Hauptinstrument. Aber die Verwandlung von Staatsbürgern in Nichtstaatsbürger aus moralischen und biopolitischen Gründen – in dieser Wildheit – ist eher neu. Solange es keine Synthese zwischen der transzendentalen Identität von Arbeitenden und nicht Arbeitenden gibt, sondern nur zwischen den produktiven Gruppen und den nichtproduktiven als dem Kapital als solchem entgegengestellt, wird etwas dem Faschismus sehr Ähnliches überwiegen. Die Einberufung der ausgebeuteten und unterdrückten Produzenten als Vollstrecker der Kapitalherrschaft bleibt wie in den 1920ern und 1930ern die Hauptgefahr. Es ist die weithin akzeptierte, scheinbare Einheit zwischen berechtigten Verdienern – Kapitalisten und Produzenten –, politisch vereinigt gegen die Untätigen und Fremden, die alle bedroht.

    Um diese erschwindelte Einheit zu zerschlagen, brauchen wir Menschen, die den Mut zur Uneinigkeit haben und Streit lieben, einen Streit, der sich aus der Opposition gegen moralisierende Biopolitik erklärt.


    [1] Die geografischen Dimensionen der "home"-Frage wird am besten beschrieben von David Harvey, Justice, Nature and the Geography of Difference, Oxford: Oxford University Press, 1996 und ders., Spaces of Hope, Berkeley: University of California Press, 2000,  pp. 73-96 & passim.

    „Home‟ im englischen Orignaltext umfasst hier ein anderes Begriffsfeld als das deutsche „Heim‟. Es ist hier nicht nur Wohnung im Sinne von „Das ist mein Heim‟ gemeint, das den Bereich des Privaten recht abstrakt umfasst zuzüglich zu einer konkreten Komponente, es reicht auch über Wohnungen bis zum Eigenheim und den Hervorbringungen der Häuslbauer.

    [2] im Sinne Foucaults und Agambens




    Hartz IV transportierte die unterschwellige Botschaft, dass die Steuern vor allem an die Unterschicht umverteilt würden.

     
     
     
     

    Hartz IV verlagerte die Schuld an der Arbeitslosigkeit auf die Arbeitslosen und transportierte die unterschwellige Botschaft, dass die Steuern vor allem an die Unterschicht umverteilt würden.
     
     
    [Ulrike Herrmann - Hurra, wir dürfen zahlen - DER SELBSTBETRUG DER MITTELSCHICHT (2010)]
     


    Heinrich Alt betreibt plumpe Stimmung gegenüber Hartz IV-Familien [via scharf-links.de]


     
     
    Heinrich Alt betreibt plumpe Stimmung gegenüber Hartz IV-Familien
     
     
    Von Erwerbslosenforum Deutschland
     
    [via scharf-links.de]
     
     
     


    Bonn - Die Bundesagentur für Arbeit will laut einem Zeitungsbericht offensichtlich noch mehr Druck auf Familien ausüben, die auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind. Mit der bundesweiten Aktion "Jobs für Eltern" sollen Eltern schulpflichtiger Kinder schneller wieder eine Arbeit finden, so BA-Vizepräsident Heinrich Alt gegenüber "Leipziger Volkszeitung". Das Erwerbslosen Forum Deutschland zeigte sich irritiert und warf Heinrich Alt eine plumpe Stimmungsmache gegen Hartz IV-Beziehende in Wahlkampfzeiten vor.

    Dazu Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland:

    „Wenn schon Druck ausgeübt werden soll, dann doch gerade gegenüber den Unternehmen, die sich dank Hartz IV hemmungslos bereichern konnten, indem sie sich Hungerlöhne auch noch subventionieren ließen „Ganz bestimmt sind nicht die Eltern mit Hartz IV-Leistungen für die hausgemachten Probleme der Unternehmen zuständig. Den angeblichen Fachkräftemangel haben sich die Betriebe selbst zu zuschreiben, weil sie sich aus der Verantwortung für Aus- und Weiterbildung und der Bezahlung eines auskömmlichen Lohns verabschiedet haben.

    Erneut müssen wir feststellen, dass Heinrich Alt wieder mal plumpe Stimmung gegenüber Eltern mit Hartz IV-Leistungen macht und die Realität verdreht. Jetzt bringt er auch deren Kinder mit ins Spiel und tut scheinheilig so, dass deren Eltern nie gelernt hätten, dass Lernen und Arbeiten zum Leben gehört. Deshalb sind sie schlechte Vorbilder und brauchen Druck. Für uns ist die Aktion 'Jobs für Eltern' zu einere miesen Kampagne gegenüber Eltern mit Hartz IV-Leistungen verkommen.




    --->>> #Jobcenter will #unbequemen #Hartz-IV-Bezieher in die #Klappse #stecken. [via Junge Welt]


     

    »Das hat mit Rechtsprechung nicht viel zu tun«

    Vorwurf eines Anwalts:

    Jobcenter will unbequemen Hartz-IV-Bezieher in die Klappse stecken.

    Ein Gespräch mit Jens Kadner

    Interview: Gitta Düperthal
     
     
    [via Junge Welt]
     
     
    Jens Kadner ist Rechtsanwalt in ­Frankfurt am Main

    Als Anwalt vertreten Sie einen Hartz-IV-Bezieher, dessen Rechte vom Jobcenter des Landkreises Mayen-Koblenz in Rheinland-Pfalz angeblich beschnitten wurden. Eine Hexenjagd »à la Mollath« sei gegen ihn betrieben worden, sagen Sie. Was ist vorgefallen?

    Einiges: Ich vertrete diesen Mandanten gegenüber dem Jobcenter Rheinland-Pfalz und dem Sozialgericht in Koblenz. Als ich das Mandat übernahm, hatte das Jobcenter bereits veranlaßt, ihn amtsärztlich zu untersuchen, und mehrfach versucht, ihm vor seiner Wohnung aufzulauern. Daß jemand sich nicht gefügig zeigt, sondern seine Rechte einklagt, ist man dort offenbar nicht gewohnt. Amtsvertreter klingelten und rannten um sein Haus herum. Weil er sich sein Hausrecht nicht nehmen und sich nicht hat provozieren lassen, hat das Jobcenter gedroht, ihm seine monatliche Hartz–IV-Leistung in Höhe von 384 Euro zu reduzieren.

    Immer neue Schikanen gab es: Er muß fünf Bewerbungen monatlich abliefern, hat dafür aber nach einem Jahr noch immer keine Kosten erstattet bekommen. 25 Cent pro Bewerbung – ein Witz! Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seines Hausarztes wurden nicht anerkannt, Energiekosten nicht übernommen; Umzugskosten auch nicht. Und das, obwohl er gezwungen war, die Wohnung zu wechseln – die ehemals mit seiner Frau bewohnte war mit etwa 80 Quadratmetern zu groß, sie hätte nur 50 haben dürfen. Argumentiert wurde: Es hätte zuvor einer Genehmigung bedurft.

    All das hat das Sozialgericht ausgesessen; ein von mir gegen den Richter gestellter Befangenheitsantrag wurde abgeschmettert. Indes kreieren Jobcenter-Mitarbeiter ständig neue Streitpunkte. »Sie müssen ihre Unterkunftskosten weiter senken«, hieß es, es gebe neue örtliche Richtlinien. Man legt es auf die Zwangspsychiatrisierung an. Mein Mandant ist mit den Nerven am Ende.

    Wie ist die Situation eskaliert?

    Man versucht, ihn mundtot zu machen, lädt ihn aber ständig zu Meldeterminen. Durch die Kostenversagung herrscht gereizte Stimmung. Bei einer solchen Gelegenheit hat sich mein Mandant gegenüber einem »Fallmanager« möglicherweise unglücklich geäußert. Er habe letzteren bedroht, hieß es. Das Gespräch wurde zu Ende geführt; aber trotzdem ein Strafverfahren gegen ihn angestrengt, das aber erst gegen Ende des Jahres stattfinden soll – so groß kann die Bedrohung also nicht gewesen sein. Einen Tag später erging vom Landrat ein Hausverbot für das Jobcenter. Er schriebe mir, ich solle auf meinen Mandanten einwirken, sich zwangspsychiatrisch untersuchen zu lassen. Tags darauf erscheint ein Amtsarzt mit Polizeiaufgebot vor der Tür meines Mandanten! Er hat aber die Tür nicht geöffnet, sich im Jobcenter nicht mehr persönlich gemeldet.

    Das kann er doch auch gar nicht, wenn er Hausverbot hat – oder?

    Aufgrund »besonderer Anforderungen« hat das Jobcenter das Verbot eingeschränkt und wieder drei Einladungen verschickt. Gegen jede haben wir uns gewehrt; in keinem Fall hat das Sozialgericht entschieden. Eine hat das Jobcenter wegen formaler Fehler zurückgenommen, um sie gleich darauf erneut auszusprechen. Mein Mandant wird beim Gericht mittlerweile als Querulant abgestempelt – ich als sein Anwalt übrigens auch.

    Woran ist das zu merken?

    Das Gericht kollaboriert mit dem Antragsgegner, der Informationsfluß zum Jobcenter ist schneller als zu mir. Letzterem sind großzügige Fristen gesetzt: Sechs Wochen im Eilverfahren – für mich nur fünf Tage! Kostenerstattung wird selbst dann abgelehnt, wenn wir obsiegt haben.

    Ich habe erfahren, daß andere Anwälte ebenso ausgebremst wurden. Mit dem zuvor zuständigen Richter beim Sozialgericht Koblenz war alles ganz normal verlaufen. Gegen den für Koblenz-Mayen zuständigen Richter jedoch habe ich mittlerweile vier Befangenheitsanträge gestellt, einen Ablehnungsantrag an das Gericht; vor zehn Tagen eine Dienstaufsichtsbeschwerde an den Präsidenten des Sozialgerichts Koblenz, mit Durchschrift an das Justizministerium Rheinland-Pfalz. Ich habe Mails von ähnlich betroffenen Bürgern erhalten. Erschreckend sei, heißt es darin, wie schnell man bei der Hand ist, Zwangspsychiatrisierung zu betreiben.

    Der Richter hat eine große Unabhängigkeit. Ich suche die Öffentlichkeit, damit kein Gemauschel im kleinen Kreis entstehen kann. All das hat mit Rechtsprechung nicht mehr viel zu tun.


    Freitag, 23. August 2013

    Klar ist: Die kritische Personalsituation im DB Konzern ist kein Novum, sondern besteht schon lange


    Schluss mit der Schmierenkomödie!
     
    [via gdl.de]
     
     
     

     
     
    Der Vorhang ist gefallen, das Sommertheater schließt seine Pforten. Die Schmierenkomödie „Mainzer Stellwerk" hat ihre vorerst letzte Aufführung erlebt, doch mit weiteren Inszenierungen ist leider zu rechnen.
     

    Wochenlang haben die Vorkommnisse in Mainz die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt. Mit Windeseile griffen Parteien, Politiker und Verbände das Thema Personalmangel bei der Bahn auf, um im Bundeswahlkampf noch schnell zu punkten. Und auch die EVG versuchte geschmeidig, Honig aus der Situation zu saugen. Doch das großartige „Gipfeltreffen" mit der DB erbrachte - erwartbar - nur ein klägliches Ergebnis: „Die letztendliche Verantwortung für die Personalplanung bleibt beim Unternehmen", so der entlarvende Kernsatz der zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft getroffenen Vereinbarung. Kurzum, von der EVG haben die Beschäftigten auch in dieser Sache nichts zu erwarten.

    Klar ist: Die kritische Personalsituation im DB Konzern ist kein Novum, sondern besteht schon lange. Seit Jahren fallen durch Personalmangel etwa bei Lokomotivführern und Zugbegleitern immer wieder Züge aus oder fahren unterbesetzt. Die GDL hat bereits im Tarifabschluss 2011 Elemente einer bedarfsgerechten Personalplanung verankert, die im Rahmen des ZukunftTV endgültig tarifiert werden sollten. Doch hier wie andernorts zeigt die DB ihr wahres Gesicht und hat bisher eine Einigung verhindert, um weiterhin budgetgesteuert am Bedarf vorbei unrealistisch planen zu können.

    Was also bleibt, nachdem der Vorhang gefallen ist? Außer vollmundigen Versprechungen hat sich nichts getan. Die DB hat noch immer zu wenig Personal, Leidtragende sind und bleiben die Mitarbeiter. Doch die GDL und ihre Betriebsräte werden die Interessen der Beschäftigten weiterhin konsequent vertreten und mit der Durchsetzung des ZukunftTV weitere Aufführungen der Schmierenkomödie verhindern.


    » Download Aushang als PDF http://www.gdl.de/uploads/Aktuell-2013/AushangReport-1377156725.pdf


    » Download Aushang als Einfach-PDF (ohne Farbflächen zum Ausdruck auf GDL-Vordrucken)

    http://www.gdl.de/uploads/Aktuell-2013/AushangReport-1377156725-E.pdf




    --->>> Gewerkschaftliche und gewerkschaftsnahe Kampagnenpolitik (Lesebefehl!!!) [via scharf-links.de]


     
     
    Ein Scherbenhaufen
     

    von Kai aus der Kiste

     

    [via scharf-links.de]

    http://scharf-links.de/47.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=38205&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=ba4bc79804

     


    Gewerkschaftliche und gewerkschaftsnahe Kampagnenpolitik

    Seit Sommer letzten Jahres müht sich ein Bünd- nis von Teilen der deutschen Gewerkschaftsbe- wegung, Attac und Teilen der Sozialverbände sowie weiterer Akteure unter dem Label „Umfa- irteilen" um politische Aufmerksamkeit und Mobi- lisierung.

    Kernforderung ist die Neueinführung einer Vermögenssteuer, ausgehend von der Er- kenntnis, daß der Verarmung des unteren Drittels der Bevölkerung die Bereicherung des oberen Drittels, vor allem aber der oberen drei Prozent gegenübersteht. Die Krise des Sozialstaats wird als Verteilungskrise gesehen, die grundsätzliche Krise der kapitalisti- schen Produktionsweise wird von den Akteuren entweder ganz ausgeblendet oder spielt nur am Rande eine Nebenrolle.

    Da radikale Antikapitalisten nie gegen Reformen sein können, die die tatsächliche Lage der Menschen verbessern und nie vergessen sollten, daß ein Schritt wirklicher Beweg- ung mindestens genau so wichtig ist wie eine richtige Analyse, sollten sie trotz der pro- grammatischen Schwächen an diesen Aktionen teilnehmen und gleichzeitig die radikale Kapitalismuskritik in die Aktionen tragen.

    Nun plant „Umfairteilen" seit Monaten einen zentralen Aktionstag am 14. September mit einer Menschenkette in Berlin und einer zentralen Demonstration in Bochum. Die Mobili- sierung dazu muß leider bisher eher als sehr müde eingeschätzt werden, auch wenn sich die Akteure alle Mühe geben, das zu ändern (1). Die große Hoffnung ist natürlich, mit einem großen Anteil an Gewerkschaftern vor der Bundestagswahl ein Zeichen zu setzen.

    Doch seit einigen Tagen ist bekannt geworden, daß der DGB Niedersachsen unter dem Motto: „Gute Arbeit. Sichere Rente. Soziales Europa. Aktiver Staat" für den 7. Septem- ber eine zentrale Demonstration in Hannover plant.
    Dieser Aufruf wird auf der DGB Homepage prominent platziert, sodaß die niedersächsi- sche Aktion den Charakter einer bundesweiten Mobilisierung annimmt. (2) Gleichzeitig veranstaltet der DGB Hessen am selben Tag ähnliche Aktionen in Frankfurt.

    Der Aufruf entspricht in etwa der inhaltlichen Tendenz von „Umfairteilen".
    Die Schwäche des Aufrufs ist natürlich seine Widersprüchlichkeit zur gewerkschaftlichen Tagespolitik. Wer beispielsweise ohne sichtbaren Widerstand Leiharbeit und Werkver- träge in die Betriebe sickern lässt, dessen Parolen dagegen werden zur Phrase.

    Nun ist für „Umfairteilen" eine bedrohliche Situation entstanden.
    Fast niemand wird innerhalb von sieben Tagen zu zwei Demos anreisen, viele werden sagen: „einigt Euch erstmal" und an keiner teilnehmen. Der Scherbenhaufen liegt da.

    Für die Akteure im Bündnis „Umfairteilen" ist die ganze Sache ein klarer Tritt vor's Schienbein. Die linken Gewerkschafter im Bündnis, vor allem von Ver.di, aber auch Attac und die Sozialverbände, sehen nun, was sie der DGB – Spitze als Bündnispartner wert sind – nämlich nichts.

    (1) www.scharf-links.de/47.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=38134&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=eaf65e24e1

    (2) „Zwei Wochen vor Bundestagswahl wollen DGB und Mitgliedsgewerkschaften ein starkes Signal für einen konsequenten Politikwechsel setzen. Sie rufen deshalb gemeinsam auf zu einer Demonstration und Kundgebung am 7. September in Hannover." siehe: www.dgb.de/termine?day_search=2013-09-07&month=09&year=2013


    VON: KAI AUS DER KISTE



    Mittwoch, 21. August 2013

    Schröder fand Gefolgsleute auch in den Gewerkschaften" - Ursula Engelen-Kefer über d. Abriss d. Sozialstaates u. Voraussetzungen

     
     
     

    Schröder fand Gefolgsleute auch in den Gewerkschaften" – Im Gespräch mit Ursula Engelen-Kefer
     
    [via Wirtschaft und Gesellschaft]
     
     
     

    Ursula Engelen-Kefer über den Abriss des Sozialstaates und Voraussetzungen für dessen Rettung. Dr. Ursula Engelen-Kefer war von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Von 1980 bis 1984 leitete sie die Abteilung Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Internationalen Sozialpolitik beim DGB. Heute arbeitet sie als Publizistin in Berlin (www.engelen-kefer.de). Ursula Engelen-Kefer ist schon häufiger als Autorin bei Wirtschaft und Gesellschaft in Erscheinung getreten und hat den Aufruf "Farbe bekennen – gegen entwürdigende Hartz IV Praxis und für berufliche Förderung" als Erstunterzeichnerin unterstützt.

    Thorsten Hild: An politischen Großbaustellen mangelt es nicht: Eurokrise, Rente, Niedriglöhne, Zwei-Klassen-Medizin, rund 60.000 Schüler, die jedes Jahr ohne Schulabschluss ins Leben entlassen werden. Allein: Es scheint an fähigen Bauherren zu fehlen. Welche Baustelle wollen wir zuerst unter die Lupe nehmen, bzw. worunter ließen sich diese bündeln?

    Ursula Engelen-Kefer: Nun, ich würde den Abriss des Sozialstaates in den Mittelpunkt stellen. Es wird in den Finanzkrisen seit der Lehmann Pleite 2008 immer klarer: Initiatoren und Nutznießer sind vor allem die Finanzmächte, also nationale und internationale Banken, private Versicherungen, Hedge Fonds und Private Equity Fonds, sonstige große Finanzinstitute sowie die ihnen zuordnenbaren Finanzdienstleister. Das ist nicht neu, sondern  umfasst eine Entwicklung über viele Jahre bzw. Jahrzehnte.

    Holen Sie ruhig etwas weiter aus.

    Begonnen hat der Abriss des Sozialstaates während der Erdölkrisen Ende der 1970er Jahre und wurde nach dem Fall der Mauer beschleunigt fortgesetzt.

    Ich sehe darin keine Zufälligkeiten oder irgendeine ökonomische und demographische Zwangsläufigkeit. Das wird ja immer wieder vorgeschoben. Ich kann mich nur wundern, wie jede Politikergeneration erst die Globalisierung und jetzt die Demographie neu entdeckt – sozusagen als „Deus ex machina" zur Rechtfertigung des weiteren Sozialabbaus. Ich sehe darin vielmehr einen gezielten Angriff der zunächst besonders diskret agierenden und daher „diffus" erscheinenden neoliberalen Kreise, die sich immer mehr und ungenierter als nationale und internationale Finanzmächte herausstellen. Ihr Ziel war und ist es, die solidarische Sozialversicherung zu zerstören und die großen Lebensrisiken der Menschen für ihre privaten Kapitalanalagen und natürlich Gewinnerzielung zu nutzen. Unterstützt werden sie dabei von Teilen der Arbeitgeber, die durch die Privatisierung der Sozialversicherung sowie den Abbau des Arbeits- und Sozialrechtes die Arbeitskosten reduzieren wollen.

    Wir hatten in den 1980er Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und unter der schwarz-gelben Wende bereits erhebliche Verschlechterungen im Arbeits- und Sozialrecht wie auch bei der sozialen Sicherung. Das wurde dann aber noch weit übertroffen von den Angriffen auf den Sozialstaat nach dem Wirtschaftsboom im Gefolge der Deutschen Einheit ab Mitte der 1990er Jahre. Als der wirtschaftliche Nachholbedarf in den Neuen Bundesländern gedeckt war, setzte das große Jammern ein: der Verlust der Ostmärkte in der ehemaligen DDR, wobei fünf bis sechs Millionen Arbeitsplätze verloren gingen, die Übertragung der Krise auf den Westen und der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Ost und West. Daraus resultierte bereits ein beschleunigter Abriss des Sozialstaates noch unter schwarz-gelb, der schließlich im Abbau der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gipfelte. Damit war das Maß zunächst voll. Als dann 1998 rot-grün an die Regierung kam…

    Ganz kurz dazwischen gefragt bevor wir weiter gehen: Woran machte sich bis dahin der Sozialabbau noch fest?

    Der Kündigungsschutz wurde eingerissen. Auch das Rentenniveau sollte damals weiter abgesenkt werden mit der Einführung des demographischen Faktors – das war die Rentenreform unter Norbert Blüm – sozusagen als Vorläufer der Riester-Reform – zwar harmloser, aber eben auch bereits mit der eindeutigen Zielrichtung der Reduzierung des Rentenniveaus; und es wurden damals schon die Zuzahlungen bei der Krankenversicherung erhöht.

    Zum Sturz von Kohl aber hat maßgeblich mit beigetragen, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgebaut wurde. Das hat auch die Gewerkschaften mobilisiert. Die IG-Metall hat für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter 1957 monatelang gestreikt; für Angestellte gab es sie bereits. Kohl hatte mit seinem Angriff auf die Lohnfortzahlung für Arbeiter eindeutig die Schmerzgrenze überschritten.

    Als dann Rot-Grün 1998 an die Regierung kam, ging das die ersten Jahre gut. Die wesentlichen Verschlechterungen im Arbeits- und Sozialrecht sowie bei der Rentenversicherung wurden zurückgenommen. Schröder und Lafontaine standen damit zu ihren Versprechungen. Sie haben selbst den demographischen Faktor in der Rentenversicherung zeitweilig ausgesetzt.

    Das Interessante ist: Wir, der DGB, haben damals der rot-grünen Bundesregierung gesagt: Passt auf, ihr könnt in der Rentenversicherung nicht alles zurücknehmen, wir haben einen demographischen Wandel und der wirtschaftliche Wettbewerb nimmt weiter zu; wir werden daher auch Reformen in der Rentenversicherung brauchen. Als Gewerkschaften haben wir ja immer beide Seiten vertreten: Die Beitragszahler und die Rentner. Es sollte aber eine Balance gefunden werden, um die Zukunft der Rentenversicherung sicherzustellen. Deshalb war die Argumentation des DGB damals: Setzt den demographischen Faktor erst einmal für zwei Jahre aus. In der Zwischenzeit haben wir genügend Zeit, uns eine Lösung zu überlegen. Das hat Rot-Grün gemacht. Im Übrigen haben sie damals auch die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sozial besser abgesichert.

    Die gab´s schon unter Helmut Kohl?

    Ja, die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gibt es seit 1977. Die Verdienstgrenzen waren allerdings zunächst erheblich niedriger und natürlich in DM. Die Höchstzahl von 15 Arbeitsstunden pro Woche wurde 1979 eingeführt. Rot-Grün hat 1999 die Sozialversicherungs- und Steuerfreiheit für Minijobs, die zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit geleistet wurde, aufgehoben und Arbeitgeber zu einer Pauschale von zunächst 25 und jetzt 30 Prozent für Sozialversicherungsbeiträge und Steuern verpflichtet. Das minderte die Attraktivität dieser Beschäftigungsverhältnisse erheblich. Wir hatten damals zwar mit etwa 5,5 Mio. immer noch viel zu viele, aber weit weniger dieser Beschäftigungsverhältnisse als heute.

    Wie viele sind es heute?

    7,4 Millionen.

    7,4 Millionen Menschen, die in 400 Euro Jobs arbeiten.

    Die Schleusen dazu hat ja später Wolfgang Clement geöffnet. 2003 war das.

    Clement als Wirtschaftsminister.

    Als Superminister für Wirtschaft und Arbeit. Dies erfolgte im Rahmen der Hartz Gesetzgebung. Die vorherigen gesetzlichen Einschränkungen wurden abgeschafft. Seither gibt es keine Höchstarbeitsstunden mehr und auch keine Zusammenrechnung mit einem sozialversicherungspflichtigen Hauptjob für die Berechnung der Sozialversicherung. Daraufhin ist die Zahl dieser Beschäftigungsverhältnisse explodiert.

    Jetzt wird das Scheunentor von der schwarz-gelben Bundesregierung noch weiter aufgemacht. Sie hat gerade beschlossen, dass die Einkommensgrenze für die geringfügige Beschäftigung auf 450 Euro heraufgesetzt werden soll. Die Umkehr der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die betroffenen Arbeitnehmer ist doch nur „weiße Salbe".

    Heute können sie Beiträge zur Rentenversicherung entrichten, was allerdings kaum einer macht. In Zukunft gilt grundsätzlich die Rentenversicherungspflicht, von der sie sich allerdings befreien lassen können. Ich befürchte, dass sich die große Mehrheit der dann 450 Euro Jobberinnen für die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht entscheiden wird. Dann sind wir soweit wie vorher – nur mit noch mehr Minijobs: Per Gesetz wird nicht nur Armut bei Arbeit, sondern auch im Alter vorprogrammiert.

    Das Selbe gilt für die die Leiharbeit. Bestand zunächst noch die Verpflichtung für die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer beim Auslaufen des Leiharbeitsverhältnisses übernehmen zu müssen, also eine Beschäftigungspflicht, so hat Clement auch diese Hürde aufgehoben. Damit war der Arbeitgeber frei, den Leiharbeiter zu entlassen. Die Leiharbeit ist seitdem auf die Millionengrenze angestiegen.

    Begonnen hat der Paradigmenwechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik unter Rot-Grün mit dem Platzen der New Economy 2000 und den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001. Die Weltkonjunktur verschlechterte sich. Die Arbeitslosigkeit begann auch in Deutschland wieder zu steigen. Allerdings war dieser Politikwechsel  Schröders offenbar bereits von längerer Hand vorbereitet. Wie in dem gerade veröffentlichten Buch von Holger Ballodis und Dagmar Hühne „Die Vorsorge Lüge" eindrucksvoll dargestellt wird, war dies ein abgekartetes Spiel: Die sozialen Sicherungssysteme sollten abgebaut und der Finanzbranche zusätzliche Einnahmemöglichkeiten verschafft werden – mit dem damaligen Zweiten Vorsitzenden der IGMetall Walter Riester – nicht nur als willfährigem Arbeitsminister, sondern als Überzeugungstäter. Bereits in den Gesprächen mit Walter Riester vor seiner „Inthronisierung" als Bundesarbeitsminister trug er regelmäßig sein Credo vor, die kapitalgedeckte Altersversorgung sowie die Tarif- und Betriebsrenten zu stärken. Das Buch von Balodis/Hühne hat so richtig die Augen geöffnet.

    Wie aktuell, denkt man an das jetzige Konzept des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel.

    Gegen eine Stärkung der Tarif- und Betriebsrenten wäre nichts einzuwenden, wenn dies nicht zu Lasten der gesetzlichen Alterssicherung geht. Dies ist aber weiter der Fall, da die Absenkung des Rentenniveaus  in der Riesterreform nicht zurückgenommen werden soll. Darüber hinaus führt die Stärkung der Tarif- und Betriebsrenten zu Ausfällen bei den Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern. Dies geht zu Lasten der großen Mehrheit der Beschäftigten in den kleineren Betrieben sowie den Dienstleistungssektoren, die niemals in den Genuss von Tarif- und Betriebsrenten kommen. Allerdings müssen sie mit ihren Beiträgen und Steuern sowie der Verschlechterung der gesetzlichen Altersrenten für die staatliche Förderung der tariflichen und betrieblichen Altersversorgung zahlen. Und hinzukommt, dass es bei der Riester-Rente ja schließlich nicht um die betriebliche, sondern um eine private Zusatzversicherung geht. Dies ist vor allem ein Gewinnmehrungsprogramm für die private Finanzwirtschaft, die mit übermäßigen Gebühren und hohen Anlagerisiken die Rendite der privaten Altersversorgung für die betroffenen Arbeitnehmer häufig vollständig aufzehrt.

    Mit der Riesterrenten Reform erreichte der Sozialabbau eine neue Drehzahl. Da ging es dann ans Eingemachte. Die Solidarität wurde praktisch aufgekündigt durch den Paradigmenwechsel bei der Rente. Die Riester-Formel war da der ganz große Sündenfall. Damit wurde die dynamische, lohnbezogene Rente außer Kraft gesetzt, mit der Folge der schlimmsten Verschlechterung des Rentenniveaus, die es je gegeben hat.

    Bezeichnend ist die von Ballodis zitierte Äußerung des „Rentenpapst" Bert Rürup: "Das Rentenniveau kann ausfallen, je nachdem wie ich es berechne.. (es) ist also eine ziemlich manipulative Größe". So folgten denn auch dem Riesterfaktor weitere Manipulationen durch den Nachhaltigkeitsfaktor à la Rürup, der das Rentenniveau an die demographisch bedingte Verschlechterung des Verhältnisses von Beitragszahlern zu Rentnern anpasst – mit mittel- bis längerfristiger Tendenz nach unten, auch wenn derzeit infolge kurzfristiger konjunktureller Aufschwünge eine positive Entwicklung zu verzeichnen ist. Über den Rentnern und Rentenleistungen schwebt weiterhin das Damoklesschwert der sog. Nachholfaktoren nach dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, als Abschläge auf Rentensteigerungen dafür, dass die Riestertreppe nach unten für zwei Jahre vor den Bundestagswahlen 2009 ausgesetzt war. Nicht nur für die Millionen Rentner und die Zukunft der Rentenversicherung sondern auch für die Glaubwürdigkeit von Politikern und Politik ist es lebenswichtig, diese Manipulationen wieder zurückzunehmen.

    Das erstaunliche daran ist ja, dass sich trotz der verheerenden Folgen steigender Altersarmut die Diskussion und die Argumente im Grunde genommen seitdem nicht geändert haben. Man denke nur an das aktuelle Rentenkonzept von Gabriel, in dem auch auf die betriebliche Altersvorsorge abgestellt wird und von Rücknahme der Absenkung des Rentenniveaus keine Rede ist, die betriebliche Altersvorsorge also den Ausfall bei der gesetzlichen Rentenversicherung kompensieren soll. An der Argumentationslinie hat sich also grundsätzlich nichts geändert.

    Richtig: Zwar beschwören CDU und SPD die Notwendigkeit, die Altersarmut zu bekämpfen. Aber ob Zuschussrente von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) oder Solidarrente von Sigmar Gabriel (SPD) – in beiden Fällen hängen die „Trauben" so hoch, dass die wirklich Bedürftigen sie gar nicht erreichen können. Außerdem ist dies nur die Reparatur nach dem Sündenfall der Riesterrente. An der massiven Absenkung des Rentenniveaus ändert dies nichts. Die Zukunft der solidarischen Rentenversicherung mit Pflichtbeiträgen bleibt weiterhin gefährdet, wenn das Netto-Rentenniveau vor Steuern bis 2030 auf 43 Prozent absinkt – für den Durchschnittsverdiener über 45 Jahre wohlgemerkt, für viele mithin noch erheblich weniger.

    Und das zieht sich auch durch den jüngsten Alterssicherungsbericht der Bundesregierung. Sie haben zu Recht darüber geschrieben, dass sich dieser liest, wie eine Werbebroschüre der privaten Versicherungswirtschaft. Ich habe das noch nie so drastisch gesehen. Es geht da nur noch um die gesamte Altersversicherung und überhaupt nicht mehr um die gesetzliche Rentenversicherung. Die Niveauabsenkung in verschiedenen Musterbeispielen wird als „gesetzt" und „alternativlos" hingenommen und durch die privaten Zusatzversicherungen hochgerechnet.

    Das kann ein riesiger Flop werden. Kein Mensch weiß doch, wie die Renditen der privaten Versicherungen zukünftig ausfallen werden, wie man es jetzt unterstellt.

    Und es ist klar, dass die am ehesten von Altersarmut betroffenen, damit gar nichts am Hut haben, weil sie sich private Zusatzversicherungen nicht leisten können – und dies evtl. auch gar nicht wollen, weil ja mittlerweile sattsam bekannt ist, dass beispielsweise die Riester-Rente sogar eine negative Rendite abwirft.

    Als ich in der Auseinandersetzung um die Riester-Rente die willkürliche Manipulation der Rentenformel und die daraus folgende drastische Absenkung des Rentenniveaus kritisierte und verhindern wollte, wurde mir ständig um die Ohren gehauen, was ich denn eigentlich wolle: Die Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung sei doch unter zwei Prozent und die der privaten Zusatzversorgung mehr als doppelt so hoch. Ob ich denn den Arbeitnehmern Geld vorenthalten wolle, lautete die rhetorische Frage damals. Das war die gängige Argumentation – auch bei den Tarifpolitikern in den Gewerkschaften.

    Dabei sagt schon der gesunde Menschenverstand: Die privaten Versicherungen müssen die kostspieligen Verwaltungsapparate  bezahlen.

    Die haben zum Teil zweistellige Verwaltungskosten, während sie bei der gesetzlichen Rentenversicherung bei etwa zwei Prozent liegen.

    Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat zwar angekündigt, dass sie die Verwaltungskosten bei den Riesterrenten begrenzen will. Das wird jedoch kaum klappen. Die Politik wird sich nur ein weiteres Mal von vorn bis hinten von der privaten Finanzwirtschaft austricksen lassen. Die Gesetze werden wieder von deren Lobby maßgeblich mitgestaltet werden.

    Es ist heute so, dass ein großer Teil derjenigen, die eine Riester-Rente abgeschlossen haben, keinerlei Rendite hat. Das einzige was wir, der DGB, durchsetzen konnten, ist, dass zumindest das wieder ausbezahlt werden muss, was einbezahlt wurde. Aber das heißt natürlich, dass die Rendite negativ ist, weil wir ja die Inflation noch heraus rechnen müssen.

    Die Erhöhung der Schlagzahl zum Abbau des Sozialstaates begann also 2001 mit der Riesterrente, der Manipulation des Rentenniveaus nach unten, dem Aussetzen der lohnbezogenen dynamischen Altersrente – und einer massive Verschlechterung der Erwerbsminderungsrenten. Wir haben heute ein hohes Maß an Armut bei den Menschen, die in Erwerbsminderungs-Rente gehen müssen. Nicht nur, dass die Zugangsvoraussetzungen erheblich verschärft wurden – die Leute müssen schon mit dem Kopf unter dem Arm zum Amtsarzt kommen, um überhaupt als erwerbsgemindert begutachtet zu werden –, sondern auch die Beträge sind durch Abschläge heruntergegangen. Das heißt, wenn jemand vor dem 63. Lebensjahr in die Erwerbsminderungsrente geht, muss er Abschläge bis zu 10,8 Prozent von der Rente in Kauf nehmen.

    Erwerbsminderung ist ja nicht nur mit dem Alter verbunden, sondern häufig durch arbeits- und betriebsbedingten gesundheitlichen Verschleiß oder Unfälle verursacht; das kann man sich ja nicht aussuchen. Es ist infam: Ein solch harter Schicksalsschlag wird noch mit Abschlägen von den sowieso äußerst kargen Erwerbsminderungsrenten bestraft. Auch dies ist Teil der Rentenreformen von 2001.

    Haben Sie darüber mit Schröder gesprochen.

    Natürlich. Ich habe mit Schröder offen im Parteivorstand gestritten.

    Das war ihm natürlich zu anstrengend.

    Er hat gesagt, ich solle endlich damit aufhören. Schließlich stünden jetzt alle hinter der Riester-Rente. Am Anfang gab es ja noch eine Gruppe der Aufrechten. Ottmar Schreiner, Andrea Nahles und noch ein oder zwei. Wir haben uns immer standhaft dagegen gewehrt und gesagt: Wir können zwar eine Zusatzrente machen, aber nicht auf Kosten der gesetzlichen Altersrente.

    Ich stand aber am Ende allein. Bei der letzten Bundesvorstandssitzung der SPD dazu war ich tatsächlich total allein.

    Das heißt, da waren dann auch keine Nahles und kein Schreiner mehr dabei?

    Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich keine Unterstützung.

    Wie ging es weiter?

    Als nächstes kamen dann die Hartz Reformen. Die politische und mediale Luft für Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde immer dünner, je näher die Bundestagswahlen im September 2002 rückten. Er selbst hatte in seiner ersten Amtsperiode vollmundig mitgeteilt, er lasse sich daran messen, dass er die Arbeitslosigkeit spürbar zurückführt. Tatsächlich ist aber die Zahl der Arbeitslosen seit 2001 wieder erheblich angestiegen. Es mußte also ein Schuldiger gefunden werden, den er in der Institution der damaligen Bundesanstalt für Arbeit (BA) ausmachte. Geradezu politisch und medial inszeniert wurde der Vermittlungsskandal, dem man dem damaligen Präsidenten Bernhard Jagoda, CDU, anhängte, da er angeblich die positiven Zahlen der Arbeitsvermittlungen nach oben manipulieren ließ. Zu Schuldigen wurden auch die Vorsitzenden des Vorstandes von Seiten der Arbeitgeber und der Gewerkschaften gleich mit in Haft genommen. Als damalige Vorsitzende des Vorstandes war ich als Stellvertretende Vorsitzende des DGB und hauptsächliche Kritikerin bei der Riesterrente für Schröder ein besonders willkommenes "Opfer". Zementkopf, Besitzstandwahrer waren nur einige der Schimpfwörter, mit denen unliebsame Kritiker mundtot gemacht werden sollten. Den Präsidenten der Bundesanstalt, Jagoda, hat er aus dem Amt treiben lassen. Dafür setzte Schröder den handverlesenen ehemaligen Sozialminister von Rheinland-Pfalz, Florian Gerster, an die Spitze des neu geschaffenen professionellen Vorstandes der BA. Allerdings währte die Freude über diesen gelungenen Coup nicht allzu lange. Florian Gerster hatte sich in kürzester Zeit mit seiner grenzenlosen Eitelkeit zwischen alle Stühle gesetzt und wurde vom Verwaltungsrat mit überwältigender Mehrheit, auch der Stimmen der Arbeitgeber und der öffentlichen Hand, abgewählt. Die Ernennung des damaligen Finanzvorstandes Frank Jürgen Weise zum Vorstandsvorsitzenden hat die BA wieder in ruhiges Fahrwasser und eine erfolgreiche Umsetzung der organisatorischen Reformen gebracht. Dies hat maßgeblich zu dem spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit und der finanziellen Konsolidierung der BA beigetragen. Die ebenfalls beabsichtigte Abschiebung des Vertreters der Arbeitgeber und mir als Vorsitzende des damaligen Vorstandes der BA ist nicht gelungen. Der damalige "Sozialpolitiker" der SPD, Rudolph Dressler wurde als Botschafter nach Israel geschickt. Bei  dieser "Modernisierungswelle" fand Schröder Gefolgsleute auch in den Gewerkschaften.

    Schröders nächster Schachzug war die Einsetzung der Hartz Kommission mit dem Vorsitzenden Peter Hartz, damals Personalvorstand im VW Konzern, wobei er uns als langjährige Arbeitsmarktpolitiker und Vertreter unserer Verbände in der BA ins Abseits stellte. Die Vertreter der Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Hartz Kommission waren ebenfalls "handverlesene Modernisierer". Der damalige Kommissionsvorsitzende Peter Hartz hat inzwischen nach Bekanntwerden persönlicher Verfehlungen als Personalvorstand die Bühne in Wirtschaft und Politik verlassen.

    2002 hat Schröder noch einmal knapp die Bundestagswahl gegen Stoiber gewonnen. Dies war im September. Im August erfolgte die Verkündung der Ergebnisse der Hartz Kommission im Französischen Dom in Berlin. Hartz verkündete vollmundig, dass seine Kommission, klare Vorschläge erarbeitet habe, wie die Arbeitslosigkeit mindestens halbiert werden könnte. Seine Vorstellungen liefen vor allem auf eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsrechts hinaus – vor allem durch Ausweitung der Leiharbeit – und hatten exotische Namen – wie "Ich AG".

    Nach der gewonnenen Wahl hatte Schröder keinerlei Hemmungen mehr. Am 16. Dezember 2002 veröffentlichte das Magazin Stern eine Cover –Story "Kanzler ohne Kleider", wobei Schröder auf der Titelseite nur mit einem rot gründen Feigenblatt bekleidet zu sehen war. Dann ging es erst richtig los mit der Ausweitung von prekärer Beschäftigung und Niedriglohnsektoren. Wolfgang Clement wurde Superminister; Riester mußte seinen Hut nehmen. Schröder verkündete seine Agenda 2010 mit dem Herzstück von Hartz IV. Und Clement begann sofort, die Vorschläge der Hartz Kommission und der Agenda 2010 in Gesetzesform zu gießen und noch eine Schippe drauf zu legen. Das waren einige Drehzahlen schärfer, als es von Hartz wirklich beabsichtigt war. Diese Brutalität der Lohnverschlechterung, des Ausbaus des Niedriglohnsektors, das trug die Originalhandschrift von Clement als Überzeugungstäter.

    Wie haben Sie weiter gemacht?

    Ich bin 2002 trotz der massiven Verleumdungskampagnen wieder als DGB-Vize gewählt worden. Die Vorwürfe gegen mich auch aus nicht namentlich genannten angeblichen Gewerkschaftskreisen  lauteten damals, dass ich ein Besitzstandswahrer, ein Betonkopf sei, und die Zeichen der Zeit nicht erkannt habe.

    Wurden diese Worte wirklich von Gewerkschaftern benutzt, das ist ja irre?

    Das war so. Schröder gab auch hier den Ton an. Er bezeichnete mich damals als Quengelen-Keifer.

    So hat er Sie tatsächlich genannt?

    Er ließ sich so zitieren.

    Unglaublich.

    Da gab es so Journalistenrunden…

    Hintergrundgepräche?

    Ja, mit Redakteuren von FAZ, Welt, Bild und anderen so genannten Leitmedien. Und da ging es immer mit dem Daumen rauf oder runter. Und da war ich eben irgendwann dran, runter geschrieben zu werden. Schröder hat die Musik dazu geliefert und liefern lassen. Auch Spitzengewerkschafter wurden genannt – allerdings ohne Namen.

    Aber es hat sich auch keiner hinter Sie gestellt?

    Ich habe die Gewerkschaftsvorsitzenden angerufen, und gefragt, ob das stimmt. Alle haben sich davon distanziert.

    Heute läuft beim DGB dann alles wieder in den gewohnten Bahnen. Wenn man überhaupt etwas von ihm mitbekommt, ist es Sommer, wenn er wie zuletzt mal das Willy Brandt Haus besucht. Na gut, jetzt in der Rentenfrage meldet sich auch Buntenbach zu Wort, allerdings ja sehr brav.

    Bei den Mitgliedsgewerkschaften liegt die Vertretung in der Öffentlichkeit bei den Vorsitzenden.

    Unheimlich irgendwie. Was machen die bloß alle, die anderen Vorstandsmitglieder. Wurschteln vor sich hin wahrscheinlich. Übrigens bei ver.di ist das etwas anders. Es melden sich auch andere Vorstandsmitglieder meinungsstark zu Wort. Achim Meerkamp, Vorstandsmitglied von ver.di, hat für Wirtschaft und Gesellschaft schon einmal, ohne dass ich lange bitten musste, einen sehr kritischen und inhaltsreichen Gastbeitrag geschrieben. Er hat auch wie Sie den Aufruf „Farbe bekennen – Gegen entwürdigende Hartz IV Praxis und für berufliche Förderung" als Erstunterzeichner unterstützt – der DGB-Vorstand hat mir nicht einmal geantwortet. Auch Elke Hannak, ebenfalls Vorstandsmitglied bei ver.di, hat erst jüngst einen Gastkommentar zum Armutsbericht der Bundesregierung für Wirtschaft und Gesellschaft verfasst. Aber ver.di ist da ja vielleicht die Ausnahme. Ihr Vorsitzender Bsirske scheint mir auch mit Abstand am konsequentesten zu argumentieren; er ist auch in den Medien durchaus präsent. Wenn man den DGB dagegen nimmt: Es werden dort ja durchaus gute und sorgfältige Texte beispielsweise zur Finanzkrise und anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Themen geschrieben. Aber die Vorstandsmitglieder, die dem doch am ehesten Durchschlagskraft verleihen könnten, sind kaum zu vernehmen. Wie würden Sie die Rolle der Gewerkschaften beim Abriss des Sozialstaats zusammenfassend bewerten?

    Die Gewerkschaften haben jenen weiteren Abriss des Sozialstaats nicht verhindert und verhindern können. Da beziehe ich mich als damalige stellvertretende Vorsitzende des DGB mit ein.

    Was ich mit diesem Aufriss zeigen wollte ist: Das, was wir heute sehen, ist keine neue Erscheinung, sondern ein längerfristiger Trend, hinter dem ganz konkrete Interessen stehen, die sich jetzt manifestieren im Ausrauben unserer Staaten durch die Finanzmächte. Die unvorstellbaren Billionenbeträge, die jetzt für die Krisenländer zur Verfügung gestellt werden, kommen ja nicht den Menschen zugute, sondern den Finanzinstituten und deren Gläubigern und erhalten die Regierungsmacht für teilweise unfähige bis korrupte Regierungen. Das ist eine Entwicklungslinie, die sich seit Jahrzehnten aufbaut. Heute geht es schon längst nicht mehr um den Sozialstaat, sondern ganz ungeniert nur darum, wer sich und wie am meisten bereichern kann.

    Ein wesentlicher Baustein des Sozialabbaus ist die Rente.

    Das wichtigste wäre jetzt, den Riester-Faktor aus der Rentenformel herauszunehmen und die Rente wieder als dynamische, lohnbezogene Alterssicherung zu gestalten.

    Olaf Scholz hatte dies als ehemaliger Bundesarbeitsminister in der Großen Koalition eingeleitet – allerdings mit Motivation für den Wahlkampf. Zwei Jahre vor der Bundestagswahl 2009 hat er den Riester-Faktor ausgesetzt. Ansonsten wären die Renten ins Minus gerutscht. Damals gab es einen großen Streit mit Steinbrück. Und Steinbrück hat erst vor kurzem wiederholt, dass er mit der Zustimmung zu der Initiative von Olaf Scholz einen großen Fehler gemacht habe. Er sagte immer, dass sei ein ordnungspolitischer Sündenfall, finanziell nicht zu verkraften und würde die ganze Rentenreform in Gefahr bringen.

    Aber man muss sich auch hier das Niveau einmal vor Augen führen. Selbst der Vorschlag von Scholz beinhaltete ja, dass alles was als Ausgleich im Falle einer negativen Rentenentwicklung gezahlt würde, später dann wieder abgezogen werden sollte. Die Riester-Reformen wurden von ihm also gar nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Man kann sein Handeln damals wohl als reines Wahlkampfmanöver einordnen. Das ist doch zynisch.

    Das ist richtig. Dieser so genannte Nachholfaktor führt dazu, dass die Rentensteigerungen derzeit bei guter Konjunktur und Lohnzuwächsen nicht stärker steigen. Und selbst das war Steinbrück schon zu viel.

    Und zu so einem Kanzlerkandidaten sagt die SPD-Linke: Ja. Hilde Mattheis, Klaus Barthel sitzen ja im Parteivorstand und hätten Nein sagen können.

    Und dann dieses Hin und Her bei der Rente jetzt. Das ist ja alles wachsweich, was Gabriel da bringt. Er sagt ja überhaupt nichts bzw. nur: Wenn die Beschäftigungschancen für die Älteren nicht besser werden, dann müsse man die Aussetzung der Rente mit 67 prüfen.

    Das war ein Beschluss des letzten Parteitags.

    Nehmen wir einmal den heute häufigsten Fall an, ein Arbeitnehmer scheidet mit 60 aus; dann hätte er bei der Rente mit 67 Abzüge von 7 mal 3,6 Prozent; bei einer Rente für einen, der fünfundvierzig Jahre lang Durchschnittsverdiener war, also keinen Tag ausgesetzt hat mit der Rentenzahlung, also immer durchgehend beschäftigt war; der erhält dann gerade einmal ungefähr 1.110 Euro gesetzliche Rente, abzüglich dieses Abschlags von rund 25 Prozent. Die meisten haben aber gar keine solchen durchgängigen Erwerbsbiographien  mehr – schon heute nicht und noch weniger in Zukunft.

    Das eigentliche Problem ist, dass in der SPD keine Kraft erkennbar ist, die mit Durchsetzungswillen und Durchsetzungsfähigkeit diese dramatischen Verschlechterungen, die im Grunde genommen eine Gefährdung der gesetzlichen Rentenversicherung bedeuten, korrigieren könnte.

    Alles andere sind doch Nebenkriegsschauplätze.

    Ja. Zu den entscheidenden Fragen hat Gabriel geantwortet: Die Erhöhung des Rentenniveaus sei viel zu teuer. Und er sagt, im Grundsatz bleibt er bei der Rente mit 67.

    Was müsste sozialdemokratische Politik stattdessen leisten, auch die Gewerkschaften?

    Sie müssten zusammen wirken und ein Gegengewicht zur Politik von Merkel aufbauen. Sie müssten in den Parlamenten viel stärker inhaltlich arbeiten. Die Abgeordneten können doch gar nicht mehr durchschauen,  was sie entscheiden. Mir hat sehr gut gefallen, was Sie einmal geschrieben haben: Eigentlich müssten die ganzen Einnahmen aus Nebentätigkeiten der Abgeordneten von ihren Diäten abgezogen werden. Damit könnten dann genügend Fachleute finanziert werden, die eine sachgerechte Vorbereitung der schwierigen Themen erleichtern. Denken sie nur an die Eurokrise. In den jeweiligen Abstimmungssitzungen gibt es nur wenige kundige Koordinatoren, die teilweise mit markigen Sprüchen aufzeigen, wo es lang gehen soll. Auch Steinbrück kann hervorragend reden.

    Aber nichts sagen…

    Das will ich nicht behaupten. Aber für ihn unangenehme Themen wie z.B. die seiner Verantwortung bei der milliardenschweren Pleite der Westdeutschen Landesbank spricht er nicht an.

    Das müsste im Grunde genommen geändert werden.

    Bevor eine konzertierte Aktion gegen die Kanzlerin funktionieren könnte, müssten die Karpaten von der SPD ja so gesehen erst einmal gegen sich selbst konzertieren.

    Sie müssten zunächst sicherstellen, dass sie genügend Sachverstand aufbauen, mit denen sie Themen beurteilen können. Die schwierigen Finanzfragen sind anders nicht zu lösen. Und ohne dies wird alles zu Makulatur. Es geht dabei um die massivsten Verteilungsfragen seit Bestehen des Deutschen Bundestages.

    Was mich beunruhigt ist, dass die SPD oder auch die Gewerkschaften dies mit der notwendigen Konsequenz nicht leisten.

    Es wird ja noch nicht einmal thematisiert. Inzwischen haben sich einige außerparlamentarische Bündnisse gebildet, z.B. das Bündnis umFAIRteilen. Diese sind jedoch viel zu schwach, um ein wirksames Gegengewicht aufbauen zu können – z.B. bei der Durchsetzung einer gerechten Besteuerung hoher Einkommen, Unternehmensgewinne, Vermögen, Erbschaften und Finanztransaktionen. Dies muss zudem auch auf europäischer und internationaler Ebene abgestimmt und durchgesetzt werden.

    Aber wo rutschen wir hin, wenn wir ganz offensichtlich keine Partei haben, die dies durchzusetzen in der Lage ist?

    Die Frage ist auch, ob hierbei zivilgesellschaftliche Courage hinreichend großer und durchsetzungsfähiger Gruppen in der Gesellschaft aufgebaut werden kann.

    Man muss sehen: Es geht immer noch sehr vielen gut. Zwanzig Prozent, denen es schlecht geht, haben derzeit keine Mächtigkeit. Sie sind nicht organisiert. Das würde dann zu rutschen beginnen, wenn bei uns beispielsweise die Betriebsrenten oder die Beamtenpensionen in die Krise kämen. Wenn also die mittlere Ebene in Gefahr gerät, oder wenn die Arbeitslosigkeit steigen sollte, was ich nicht hoffe, was man aber nicht ausschließen kann.

    Dabei stellt sich dann natürlich auch die Frage nach der Rolle der Tarifparteien, die in der Bundesrepublik traditionell eine besonders starke Rolle in ihren jeweiligen Organisationsbereichen haben. Nach der Lehmann Pleite und einem gewaltigen Wachstumseinbruch von fünf Prozent haben sie mit Unterstützung der Politik ein gutes und erfolgreiches gemeinsames Krisenmanagement geleistet. Für mich stellt sich die entscheidende Frage, ob dies bei dem nächsten Wirtschaftseinbruch, der hoffentlich nicht mehr so gravierend ausfallen wird wie 2009, wieder gelingt. Die Bundesagentur für Arbeit hat damals über ihre großen finanziellen Reserven die Kurzarbeit zur Verhinderung von Entlassungen mit weit über 10 Mrd. Euro finanzieren können. Infolge des ständigen finanziellen "Raubzuges" durch willkürliche Kürzungen bei Arbeitsmarktpolitik und Verwaltung sowie den steuerlichen Zuschüssen gibt es derartige Reserven, über die Arbeitgeber und Gewerkschaften als Beitragszahler entscheiden können, nicht mehr.

    Was ich mich auch frage: Der rechte Flügel in der SPD, nehmen sie Steinbrück und den Seeheimer Kreis, artikulieren sich klar und vernehmlich, während bei der SPD-Linken eher vereinzelte und verhaltene Stimmen zu vernehmen sind. Wie kann das sein? Das ist doch eine demokratische Schieflage!

    Aus meiner Erkenntnis und Erfahrung ist das schon verständlich. In den Gewerkschaften hat sich eine gewaltige Machtverschiebung entwickelt. Die Branchengewerkschaften, wir haben ja nur noch acht DGB-Gewerkschaften insgesamt, sagen: Uns interessiert, dass wir einen hohen Organisationsgrad haben. Gewerkschaften sind Interessengruppen, sind Lobby-Gruppen. Sie vertreten die Interessen ihrer Mitglieder. Und zwar tun sie dies aus ihrer Sicht durchaus folgerichtig und erfolgreich: Die IG-Metall ist exportorientiert, die Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (BCE), ist ebenfalls exportorientiert und braucht die jeweiligen Regierungen, insbesondere für die Finanzierung des gravierenden Niedergangs im Bergbau, egal welcher Couleur. Ver.di hat keinen so starken Organisationsgrad, mit Ausnahme der großen öffentlichen Versorgungsunternehmen und Kommunen, wo sie gut aufgestellt sind.

    Das Problem ist doch, dass die Gewerkschaften einfach nicht mehr viele Leute erreichen, nicht mehr stark mobilisieren können.

    Nein. Die IG-Metall hat den Umschwung geschafft. BCE und ver.di sind auf gutem Wege. Das Problem ist: Erforderlich wäre ein starker DGB als wirksames Koordinierungszentrum. Das ist aber von den großen und mächtigen Mitgliedsgewerkschaften nicht gewünscht.

    Wenn das so ist, fällt wiederum alles auf die Politik zurück. Die Politik aber ist zurzeit nicht in der Lage, ein alternatives Konzept zu entwickeln.

    Das stimmt, und das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.

    Jürgen Kuttner, der gerade im Deutschen Theater Berlin das Stück Demokratie auf die Bühne gebracht hat, hat dies einmal mit Anspielung auf die Zeit von Willy Brandt mit den Worten auf den Punkt gebracht: Damals gab es wenigstens noch Politik, heute gibt es nur noch alternativlose Sacharbeit.

    Es ist noch nicht einmal alternativlose Sacharbeit; es ist alternativloser Aktionismus.

    Angesichts der großen Baustellen, mit denen wir das Interview eingeleitet haben, kann einem da schon schwarz vor Augen werden.

    Wenn es nicht gelingt, dass über jene außerparlamentarischen Gruppen ein zivilgesellschaftliches Gegenkonzept entsteht, dann sieht es düster aus. Diejenigen, die noch am ehesten politische Inhalte vermitteln, sind die Grünen; aber auch da ist das personelle Machtgerangel ausgeprägt. Für mich ist es bezeichnend, dass Fritz Kuhn als prominenter Politiker der Grünen jetzt die Wahl zum Oberbürgermeister von Stuttgart gewonnen hat, nachdem die Grünen auch schon den Ministerpräsidenten stellen und der "Fukoshima" Effekt verpufft sein dürfte. Die Vertreterin der SPD ist gleich nach dem ersten Wahlgang ausgeschieden.

    Wer geht heute eigentlich noch in Parteien?

    Sie haben das ja zu Recht auch aus dem Armuts- und Reichtums Bericht herausgefiltert, dass das politische Engagement zurückgegangen ist.

    Es ist ein bisschen so wie bei Subsistenzbauern: Frustriert über einen unvorteilhaften Austausch mit der Stadt, ziehen die sich wieder auf ihre eigene Scholle zurück; frustriert über einen fehlenden Gedankenaustausch und die politische Kultur ziehen sich die Menschen in ihr Privatleben zurück – was natürlich keine Lösung ist, weil die von außen gesetzten Verhältnisse ja auch und gerade das Privatleben nicht verschonen; man denke nur an die zunehmende Altersarmut oder den Niedriglohnsektor.

    Rechts und links spielen in diesem Zusammenhang auch gar keine Rolle mehr. Junge Leute, die heute häufig ohne Berufserfahrung in die Politik gehen, sehen den Politikbetrieb vorwiegend als Karriereleiter. Sie schlagen diesen Weg nicht mehr vorwiegend aus Idealismus oder aus politischem Engagement ein. Ich denke, das ist auch eine Folge der „geistig-moralischen Wende", die Kohl in den 80er Jahren eingeleitet hat.

    Wie lässt sich das fassen?

    Entsolidarisierung, Vereinzelung, Ellenbogengesellschaft, Karriereorientierung – keine inhaltliche Ausrichtung mehr, keine Werteorientierung. Letztere waren ja einmal gerade bei der SPD besonders ausgeprägt. Von der CDU hat man das ja gar nicht erwartet. Heute scheint das manchmal eher umgekehrt zu sein.

    Die SPD hatte engagierte Sozialpolitiker wie Rudolph Dressler, und teilweise auch Ottmar Schreiner, die für ihre Überzeugung auch in schwieriger Zeit gestanden haben. Heute scheint es vor allem um die Verteilung von Mandaten und Funktionen zu gehen. Für mich ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass der SPD Fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier eine bestimmte Funktion in der großen Koalition anstrebt…

    Außenminister.

    Außenminister und Vizekanzler.

    Gabriel wird Umweltminister.

    Oder Fraktionsvorsitzender. Und Steinbrück – vielleicht lässt er sich doch noch überreden, wieder Finanzminister zu werden.

    Abschließend noch einmal gefragt: Sie sehen jetzt keine Leute in der SPD, die zu einer alternativen Politik fähig wären?

    Die Fähigkeit will ich niemandem absprechen. Vielmehr scheint mir die Bereitschaft nicht sonderlich ausgeprägt zu sein, dafür zu streiten – und im Zweifel eben auch die negativen Konsequenzen zu tragen.