Dienstag, 30. Juli 2013

"Die #Verarmung #wird #überhaupt #nicht #wahrgenommen" -->> #Armut und #Ernährung in #Deutschland.

 
 

„Die Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen"
 
 
[via Linke Zeitung]
 
 
 
 

Armut und Ernährung in Deutschland. Interview mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg.

Die wachsende soziale Ungleichheit spiegelt sich auch in der Ernährungssituation wider. Laut Studien ernähren sich Menschen mit niedrigem Einkommen schlechter als Reiche, was sich auch in einer durchschnittlich niedrigeren Lebenserwartung niederschlägt. Die DA sprach mit Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) über Tafelwirtschaft und Widerstand gegen die Monopole in der Nahrungsmittelindustrie.

Im Gegensatz zu früher führt Armut in den Industriestaaten heute eher zu Über- als zu Unterernährung. In den Medien wird das häufig mit mangelnder Bildung erklärt, wie siehst du diesen Zusammenhang?

Einerseits kommt es darauf an, welche Ernährung man sich leisten kann, und andererseits, ob man weiß, was zu einer guten Ernährung gehört. Aber selbst wenn einem das bewusst ist, bringt es nicht viel, wenn man es sich nicht leisten kann. Betrachtet man nun, was Menschen mit den untersten Einkommen, Hartz-IV oder Sozialhilfe, an Geld für die Ernährung zugestanden wird - AsylbewerberInnen erhalten noch viel weniger -, dann ist klar, dass die Menschen, die sich halbwegs gesund ernähren wollen, immer zum Billigsten greifen müssen.

Inzwischen weiß man ja auch, dass satt werden alleine nicht genügt. Es kommt auch auf die Qualität der Lebensmittel an, also etwa auf ihren Nährstoffgehalt. Das kann zu Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen führen. Solche Mangelerscheinungen sind in anderen Teilen der Welt viel weiter verbreitet, es gibt sie aber auch in der Bundesrepublik.

Ein weiterer Aspekt ist, dass diese Billignahrung eben auch unter billigen Bedingungen produziert wird, so dass die ProduzentInnen kaum etwas daran verdienen. Armut in der Landwirtschaft gibt es auch in Europa, die KollegInnen in den Gewächshäusern in Almería leben unter elenden Bedingungen, und wir bekommen hier das billige Gemüse auf deren Kosten.

Vor einigen Jahren gab es mehrere sog. Selbstversuche, in denen meist selbst nicht von ALG-II lebende Menschen versuchten, sich über einen bestimmten Zeitraum nur vom Regelsatz gesund zu ernähren. Geht das überhaupt?

Das kann man mit der Realität gar nicht vergleichen. Natürlich kann ich mal für einen Monat alle Anschaffungen zurückstellen und dann 200 oder 250 Euro im Monat für Ernährung ausgeben. Aber wenn man wirklich alles davon zahlen muss, etwa Möbel, Textilien, Zeitschriften und Bücher, dann bleiben nur noch 130 Euro für die Ernährung. Und wenn ich mich davon über Jahre hinweg halbwegs gesund ernähren will, dann muss ich immer die billigsten Schnäppchen kaufen und komme gerade so aus. Das heißt auch, dass ich vor jedem Einkauf gucken muss, wo es in der Stadt am billigsten ist. Das ist aber nicht realistisch, weil man als ALG-II-Bezieher gar nicht so viel Geld zum hin- und herfahren hat.

Würde es denn etwas bringen, wenn sich mehr Leute Wissen über gesunde Ernährung aneignen, oder ist mehr Geld die einzige Lösung?

Ich denke, man muss beide Seiten sehen und sollte an die Frage, wie sich Menschen ernähren, nicht unmaterialistisch herangehen. Wenn ich den ganzen Tag schuften muss, lange Arbeitswege und wenig Lohn habe, dann habe ich auch keine Zeit und Energie dafür, meine Familie mit frischem Gemüse zu ernähren, das ich mir vom Markt oder vom Produzenten direkt hole. Und dann wird eben zu Fertigprodukten oder Junkfood gegriffen.

Von daher kann die Frage, ob sich breite Teile der Bevölkerung gesund ernähren, nicht moralisierend oder pädagogisierend im Hinblick auf den Einzelnen beantwortet werden. Wir müssen gucken, wie in dieser Gesellschaft überhaupt gelebt wird, wenn wir morgens früh raus müssen, auf wechselnde Baustellen gekarrt werden, spät abends zurückkommen. Wo bleibt denn da noch was vom Kopf frei, um wirklich drauf zu achten?

Manche Selbstorganisationsansätze gehen ja genau in die Richtung, dass man sich nicht zu sehr von der Lohnarbeit verheizen lässt und guckt, dass wir halbwegs fair mit den ProduzentInnen umgehen und eigenen Tausch organisieren und ähnliches.

Das ist doch aber gerade bei Lebensmitteln schwierig. Du hast das ja vorher schon angesprochen, also dass es ja kaum möglich ist, faire Preise zu bezahlen.

Im ALG-II-Satz sind 130 Euro für Ernährung vorgesehen. Ich weiß nicht, was ein fairer Preis wäre, aber ich denke, wenn man faire Preise an die ProduzentInnen - nicht an die Konzerne - zahlen würde, dann müsste man zwischen 250 und 300 Euro im Monat ausgeben. Dafür müsste aber auch mehr von dem, was in dieser Gesellschaft an Reichtum da ist, in diesen Bereich reingehen, anstatt die ProduzentInnen, Landwirte oder PlantagenarbeiterInnen auszupressen und immer nur die Löhne zu drücken.

Viele Menschen decken einen Teil ihres Bedarfs an Lebensmitteln über die Tafeln. Seit den Hartz-Gesetzen ist die Anzahl der Tafeln sprunghaft angestiegen, von 320 im Jahr 2003 auf etwa 870 im Jahr 2010. Sind die Tafeln sinnvoll, weil sie immerhin einige der schlimmsten Auswirkungen der Armut lindern helfen oder dienen sie nur dazu, Großkonzernen ein soziales Image zu verschaffen?

Für die Konzerne ist es kostengünstiger, die abgelaufenen Artikel einfach zur Tafel zu geben, als die Entsorgung zu bezahlen. Andererseits ist es für alle, die wenig Knete haben, ganz praktische Selbsthilfe in der finanziellen Not, wenn man denn bei der Tafel fair behandelt wird. Es gibt ja solche und solche Tafeln. Manche sind von Erwerbslosen selbst organisiert, da geht man fair und solidarisch auf einer Ebene miteinander um. Dann gibt es solche Tafeln wie die hier in Oldenburg, wo man einfach von oben herab etwas zugeteilt kriegt, die Tafelchefin im dicken Sportwagen vorfährt und dann die bürgerliche Mildtätigkeit für die scheinbar unfähigen Armen organisiert. Tafel ist also nicht gleich Tafel.

Der Bundesverband der Tafeln hat im letzten Jahr erklärt, dass ihnen bewusst ist, dass die Tafeln missbraucht werden, um Leistungssätze und Mindestlöhne zu drücken. Das Statistische Bundesamt hat bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) im letzten Jahr festgestellt, dass es Familien gibt, die überhaupt nichts für die Ernährung ausgeben. Die ernähren sich nur über die Tafel. Trotzdem geht das in die Statistik ein, über die der Bedarf berechnet wird. Das ist natürlich Betrug, weil die Erhebung ergeben soll, welchen Bedarf die BezieherInnen wirklich haben. Wenn sich vielleicht Hunderttausende anteilig oder ganz so ernähren müssen, verfälscht das die Statistik. Außerdem sorgt das Tafelwesen nicht für eine anständige Bezahlung derjenigen, die Lebensmittel produzieren und verteilen.

Welche Perspektiven siehst du, um diese Situation zu ändern?

Es wäre wichtig, dass man dieses ganze System wirklich umstellt, von der zentralisierten Produktion zu einer regionalen und unter fairen Bedingungen für ProduzentInnen und KonsumentInnen. In der Bundesrepublik können sich 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung nur anständig ernähren, wenn sie immer die billigsten Angebote kaufen. Diese Verarmung wird überhaupt nicht wahrgenommen. Wohnen ist teuer, auch für Mobilität muss man viel Geld ausgeben. So bleiben einem Haushalt mit 1.300 bis 1.500 Euro Nettoeinkommen nur noch 150 Euro im Monat für die Ernährung. In unserer Region haben wir Milcherzeuger, mit denen man über so etwas diskutieren kann.

Das Entscheidende ist, dass verschiedene Gruppen, die rund um ein Thema wie Ernährung aktiv sind, das Gemeinsame sehen. Im Januar gab es die „Wir haben es satt"- Demo zur Grünen Woche, da haben Landwirtschaftsverbände, Umwelt- und TierschützerInnen, GentechnikkritikerInnen und Erwerbslose gemeinsam demonstriert. Das war eine gute Mischung, nicht jeder für sich, sondern bunt durcheinander. Wenn eine Bewegung von unten erfolgreich sein will, sollten auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten. Das müssen wir alle - und da schließe ich mich durchaus mit ein - viel mehr lernen.

Danke für das Interview!

http://www.direkteaktion.org/208/interview-arbeitslosenselbsthilfe-oldenburg





#Die #Aussperrung #der #Armen [Pressemeldung von 2001 und 2013 aktueller den je!!]

 

 

 
 

Informationsdienst Wissenschaft (idw) - Pressemitteilung
Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), 19.12.2001

Die Aussperrung der Armen

Eine Untersuchung der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) zum Umgang mit
Armen und Randgruppen in Deutschlands Städten


"Alles, was wir erreichen können, ist nichts anderes, als das Elend auf
Trab zu halten und im Kreise herumzuführen." (ein für die öffentliche
Ordnung einer Großstadt verantwortlicher Polizist)

Trotz rückläufiger Fallzahlen im Bereich der Straßenkriminalität wird
seit längerem das Thema "Sicherheit im öffentlichen Raum" diskutiert.
Eine von der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) im Auftrag der
Katholischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW) durchgeführte
Untersuchung zeigt laut Prof. Dr. Titus Simon, dem Verfasser der Studie,
"dass die aus dem Gefahrenabwehr- bzw. Straßenrecht resultierenden
Instrumente vor allem gegen deklassierte und verarmte
Bevölkerungsgruppen  in Anwendung gebracht werden".

Repressives Übermaß

Titus Simon, Professor am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen,
bezeichnet einige der in der Befragung geschilderten Vorgänge sogar als
"repressives Übermaß". Bei den Bemühungen um eine "saubere Stadt" komme
es keineswegs nur zu problematischen rechtlichen Konstrukten. In einer
Vielzahl von Einzelfällen gebe es willkürliche Maßnahmen, die nur schwer
mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Einklang zu bringen sind.
Einige Beispiele aus der Studie:
* In Ulm und in anderen Städten wurden Wohnungslose von der Polizei
aufgegriffen und mit Polizeifahrzeugen über den Stadtrand gebracht und
"nach den Ortsschildern" ausgesetzt.
* In Düsseldorf verglich eine Stadtmarketing-Firma, die unter dem Namen
"Pro Düsseldorf" ein Konzept für die Aufwertung der Innenstadt
entwickeln
sollte, im Rahmen der ersten Präsentation ihres Vorhabens Taubenkot und
Graffiti mit "Berbern und Pennern".
* Stuttgarter Polizisten verstießen 1999 gegen den § 221 StGB, indem sie

einen volltrunkenen Wohnungslosen in der Stuttgarter Innenstadt
aufgriffen
und in der Nähe der Autobahnraststätte "Sindelfinger Wald" an der viel
befahrenen Autobahn Stuttgart-Singen aussetzten. Der Mann wurde später
in hilflosem Zustand auf dem Standstreifen der gefährlichen Strecke
aufgegriffen.
* Speziell in touristisch attraktiven Städten und Gemeinden werden in
die Standardpolizeiverordnungen zusätzliche Sonderbestimmungen
aufgenommen,
die - um zahlungskräftigen Gästen einen möglichst ungestörten Genuss zu
ermöglichen -  Personengruppen in diskriminierender Weise ausgrenzen. So

beinhalten die Verordnungen mehrerer Bodenseegemeinden folgende
Bestimmung: "Der Aufenthalt am Seebereich nicht gestattet
(ist)...Personen
mit abstoßenden Krankheiten."

Einfluss der Sozialarbeit

Rund ein Fünftel der Projekte gab an, dass auf eine für ihr Klientel
günstigere Ausgestaltung entsprechender Satzungen und Verordnungen
Einfluss genommen werden konnte. Simon bezeichnet angesichts gängiger
inhaltlicher Ausführungen den Zustand nur als "Vermeidung von
Verschlimmerung". Dies sei für Sozialarbeit nicht unüblich. Zu
problematisieren sei allerdings die hohe Zahl derer, die sich zu keiner
Antwort entschließen konnten.

Der Magdeburger Professor schlussfolgert an Hand der empirischen
Befunde: "Der Sicherheitsdiskurs hat ungeachtet der Tatsache, dass keine
kriminologischen Befunde die These von der erhöhten Gefahr für die
öffentliche Sicherheit und für die Sicherheit des einzelnen Bürger
belegen, zu einer Einschränkung von Grundrechten (insbesondere der
Artikel 2 Abs. 1 und des Artikels 11 GG) geführt. Die Zugänglichkeit
attraktiver kommunaler Zonen wird für missliebige Personenkreise
eingeschränkt. Von den alten Armenordnungen bis zu "Zero Tolerance"
besteht eine nahezu bruchlose Kontinuität des repressiven Umgangs mit
Gruppen, die die vormals feudalistische und heute bürgerliche Ordnung
des öffentlichen Raums zu stören drohen. Die Geschichte hat gezeigt,
dass die erzielten Effekte eher mäßig sind."

Für die Untersuchung waren insgesamt 616 Einrichtungen der
Wohnungslosenhilfe mit Hilfe eines knappen Fragebogens befragt worden.
Die Angaben von insgesamt 288 Einrichtungen  waren auswertbar.


Eine Kurzfassung der Studie kann über die Pressestelle der Hochschule
Magdeburg-Stendal (FH) bezogen werden. Die Langfassung erschien im
Herbst 2001 unter dem Titel "Wem gehört der öffentliche Raum? Zum Umgang
mit Armen und Randgruppen in Deutschlands Städten" im Verlag Leske +
Budrich, ISBN 3-8100-3279-4.

Rückfragen bitte an:
Prof. Dr. Titus Simon
Tel.: (0391) 886 42 76


Hochschule Magdeburg-Stendal (FH)
Pressestelle
Norbert Doktor
Tel: (0391) 886 4144
Fax: (0391) 886 4145

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---> #Die #doppelte #Spaltung #der #Gesellschaft ... die Entwicklung in Deutschland [und auch im #SiliconSaxony #Dresden]

 
 

 

Die doppelte Spaltung der Gesellschaft
 
 
[via Nachdenkseiten]
 
 

Wirft man einen oberflächlichen Blick auf die Entwicklung in Deutschland, so fällt eines sofort ins Auge. Die Gesellschaft ist seit der Jahrtausendwende erheblich ungleicher geworden.

Wies Deutschland im internationalen Vergleich lange Jahrzehnte eine relativ ausgeglichene Einkommensstruktur auf, lag international im unteren Mittelfeld, nahe bei den für ihre geringen Einkommensunterschiede bekannten skandinavischen Ländern, so hat sich das binnen eines Jahrzehnts dramatisch verändert.

Heute liegt Deutschland zwar immer noch im Mittelfeld, jetzt aber am oberen Rand, weit weg von den skandinavischen und relativ nahe an den angelsächsischen Staaten wie Großbritannien, Irland oder den USA. Nach OECD-Angaben hat sich im letzten Jahrzehnt nur in zwei europäischen Ländern die Einkommenskluft zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel noch stärker geöffnet, in Bulgarien und Rumänien.

Von Michael Hartmann

Die Agenda 2010 und die Steuerpolitik – Wege zur Spaltung

Ausschlaggebend für diese gravierende Verschlechterung sind in erster Linie zwei Maßnahmen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, die sog. Hartz-Reformen und die Reduzierung der steuerlichen Belastung für hohe Einkommen und Unternehmen. Die steuerlichen Beschlüsse sorgten für eine Anhebung der Nettoeinkommen bei den oberen zehn Prozent der Bevölkerung, die Agenda 2010 für eine Senkung bei der unteren Hälfte. Sie verschlechterte nicht nur die Situation für Arbeitslose (deutliche Verkürzung des Bezugszeitraums für Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), sie öffnete, was noch wichtiger ist, außerdem den Weg für einen (staatlich subventionierten) Niedriglohnsektor und bewirkte eine starke Lohnzurückhaltung bei den Beschäftigten. Die Angst, in Hartz IV abzustürzen, erhöhte sowohl deren Bereitschaft, schlecht oder sehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, als auch die Akzeptanz geringer Nominallohnerhöhungen, die dann gerade einmal die Verluste durch die Inflation ausgleichen konnten.

Diese Entwicklung wurde durch die starke Zunahme von befristeten und Leiharbeitsverhältnissen, die durch gesetzliche Neuerungen erst ermöglicht wurde, noch weiter verstärkt. Erstere haben seit 1996 von 4,7 auf 8,9 Prozent zugenommen, letztere von 0,6 auf 2,9 Prozent (Gundert/Hohendanner 2011: 2). Bei den Realeinkommen ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Nur das obere Zehntel der Beschäftigten hat bei den Löhnen und Gehältern zwischen 2000 und 2010 real zugelegt. Die restlichen neun Zehntel haben verloren, je weiter unten, umso stärker, insgesamt um 2,5 Prozent. In den untersten drei Zehnteln betrugen die Reallohnverluste sogar zwischen 15,6 und 21,9 Prozent (Angaben des DIW).

Die Bezieher geringer Einkommen und die Arbeitslosen spüren die Folgen der Arbeitsmarktreformen am stärksten. Sie sind die eindeutigen Verlierer der letzten zehn Jahre. Mittlerweile gilt jeder sechste bis siebte Bundesbürger als arm. Eine wachsende Zahl von ihnen, insgesamt fünf Prozent der Beschäftigten, zählt zu den „working poor". Sie bleiben arm, obwohl sie arbeiten, häufig sogar in Vollzeit. Das ist die Konsequenz der massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. In ihm sind mittlerweile fast 22 Prozent der Beschäftigten tätig, verglichen mit nur knapp 15 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Von den Vollzeit arbeitenden Jugendlichen und Leiharbeitern sind es sogar knapp 50 bzw. 75 Prozent. Die Löhne liegen im Niedriglohnsektor vielfach unterhalb der Hartz IV Sätze – zehn Prozent der Beschäftigten müssen für Bruttostundenlöhne von weniger als sieben Euro arbeiten – und müssen deshalb durch staatliche Transferzahlungen ergänzt werden.

Am anderen Ende der Skala ist genau das Gegenteil zu beobachten, und das gleich aus zwei Gründen. Zum einen profitieren diejenigen, die Aktien oder Unternehmen besitzen, in Form höherer Gewinne oder Dividenden von der Lohnzurückhaltung der Beschäftigten und der Senkung der Lohnnebenkosten. Zum anderen ist die steuerliche Belastung aller höheren Einkommen im letzten Jahrzehnt deutlich gesunken. So ist der Spitzensteuersatz zwischen 2000 und 2005 von 53 auf nur noch 42 Prozent gesenkt worden. Dann sorgt die 2008 beschlossene 25prozentige Abgeltungssteuer dafür, dass höhere Einkommen ihre Kapitaleinkünfte nicht mehr mit dem persönlichen Steuersatz von bis zu 42 Prozent versteuern müssen. Schließlich ist auch die Erbschaftssteuer immer weiter reduziert worden, für Firmenerben unter bestimmten Voraussetzungen sogar auf null Prozent. All diese gesetzlichen Maßnahmen begünstigen die Wohlhabenden und, noch stärker, die Reichen. Die reale steuerliche Belastung der 450 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von damals neun Mio. Euro hat sich nach Untersuchungen des DIW allein zwischen 1998 und 2002 durch die Steuerreformen der ersten rot-grünen Bundesregierung von 41 auf 34,3 Prozent verringert (Bach u.a. 2008: 17).

Für die Einkommensverteilung in Deutschland liegen die Folgen auf der Hand. Die Anteile der oberen wie die unteren Einkommen nehmen auf Kosten der mittleren Einkommen (zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens) zu. Letztere haben von 1999 bis 2009 einen deutlichen Rückgang von 64,3 auf 58,7 Prozent erfahren, während die unteren Einkommen um mehr als ein Viertel von 17,7 auf 22,5 Prozent und die oberen Einkommen leicht von 18 auf 18,8 Prozent zugelegt haben (aktuelle Informationen des DIW). Im gleichen Zeitraum haben aber außerdem auch noch die Abstände zwischen den Medianeinkommen dieser drei Bevölkerungsgruppen zugenommen. Der Mittelwert der unteren Einkommen lag 1999 46,1 Prozent unterhalb des Mittelwerts der mittleren Einkommen. 2009 waren es bereits 48,3 Prozent. Bei den hohen Einkommen ist derselbe Prozess zu beobachten, nur in umgekehrter Richtung und noch ausgeprägter. Ihr Abstand auf die mittleren Einkommen ist in diesen zehn Jahren von 91,7 auf inzwischen 103,7 Prozent angewachsen (Goebel u.a. 2010: 5). Die Einkommenskluft hat sich gleich in doppelter Hinsicht deutlich vergrößert.

Die Einkommensunterschiede bei den Nettoeinkommen, also nach Steuern und Sozialabgaben, sind dabei erheblich schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen (inkl. Rentenzahlungen). Der Anteil der Haushalte mit hohen Einkommen hat zwischen 1998 und 2006 netto mehr als doppelt so stark zugelegt wie brutto, der der Haushalte mit niedrigen Einkommen sogar mehr als dreimal so stark (Goebel/Krause 2007: 828). Die Umverteilungswirkung des Sozial- und Steuersystems hat also ganz offensichtlich spürbar abgenommen. Das macht sich zusammen mit der massiven Reduzierung der Erbschaftssteuer auch bei der Vermögensverteilung deutlich bemerkbar. Auf das oberste Prozent der Bevölkerung entfallen mittlerweile 35,8 Prozent des Gesamtvermögens, allein auf das oberste Promille 22,5 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2011: 11). Das entspricht fast US-amerikanischen Verhältnissen, wo auf das oberste Prozent der Bevölkerung ca. 40 Prozent des Vermögens entfallen.

Mehr Bildung – tatsächlich die Lösung?

Die große Mehrheit der politischen Elite wie auch der anderen Eliten präsentiert angesichts dieser Entwicklung immer dieselbe Lösung: mehr Bildung. Bildung stellt für sie so etwas wie ein Passepartout für die ungelösten und an Schärfe immer weiter zunehmenden Verteilungsprobleme dar. Dass Bildung ein wichtiger Faktor bei der Vermeidung von Armut und Arbeitslosigkeit ist, soll hier nicht bestritten werden. Wie die hohe Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen in den südeuropäischen Ländern zeigt, darf die Wirkung von Bildung aber auch nicht überschätzt werden. Außerdem ist in Bezug auf Bildungswege und -abschlüsse in Deutschland dieselbe Entwicklung zu beobachten wie in Hinblick auf die Einkommen. Die Spaltung nimmt bei ihnen ebenfalls deutlich zu.

Viele Beobachter erwarteten nach der öffentlichen Diskussion über die PISA-Ergebnisse Anfang des letzten Jahrzehnts, dass sich die politischen Anstrengungen darauf richten würden, die im internationalen Vergleich sehr enge Bindung zwischen Bildungsabschlüssen und sozialer Herkunft zumindest zu lockern. Die Entwicklung seither weist aber vielfach eher in die entgegengesetzte Richtung. Am deutlichsten wird das beim Übergang zum Gymnasium, der nach wie vor die entscheidende Weichenstellung im Bildungsverlauf markiert. Hier ist eine eindeutige Polarisierung zu konstatieren. Der Gymnasialbesuch ist entgegen dem allgemeinen Trend bei Kindern aus dem unteren Viertel der Bevölkerung zwischen 2003 und 2006 nicht gestiegen, sondern weiter gesunken, und zwar von 12,5 auf 11,6 Prozent. Beim oberen Viertel gab es demgegenüber eine nochmalige Steigerung von 58,6 auf 59,7 Prozent. Genau umgekehrt verhält es sich bei den Hauptschulen, die nur noch von 7,1 Prozent der Kinder aus dem oberen Viertel, aber von 36,8 Prozent der Kinder aus dem unteren Viertel besucht werden. Dieser Trend zur Polarisierung zeigt sich auch bei der mittleren Hälfte der Bevölkerung. Hier gibt es sowohl bei den Hauptschülern als auch bei den Gymnasiasten einen Zuwachs, und zwar auf Kosten der Realschule als mittlerem Schultyp (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 247).

Grundsätzlich gilt: Je kürzer die gemeinsame Schulzeit ist, desto stärker schlägt die im familiären Zusammenhang erworbene oder eben auch nicht erworbene Bildung zu Buche. Kinder aus den „bildungsfernen" Familien haben dann weniger Zeit, familiär bedingte Defizite auszugleichen. Arbeiterkinder, besonders die aus Migrantenfamilien, haben daher in der Regel einen Nachteil gegenüber Akademikerkindern. Für die unterschiedlichen Bildungschancen sind allerdings nicht nur die herkunftsbedingten Leistungsunterschiede verantwortlich, sondern ebenso auch die Tatsache, dass die für den Gymnasialbesuch erforderlichen schulischen Leistungen bei Kindern aus Arbeiterfamilien von den Lehrkräften deutlich schlechter bewertet werden als bei Kindern aus Akademikerfamilien. Die Lehrkräfte an den Grundschulen geben Akademikerkindern fast achtmal so häufig eine Gymnasialempfehlung wie Kindern un- und angelernter Arbeiter. Berücksichtigt man die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und in der Lesekompetenz zwischen diesen Schülergruppen, so verringert sich der Abstand zwar, er bleibt aber immer noch beim Viereinhalbfachen.

Auch hier ist zudem eine starke Polarisierung zu verzeichnen. 2001 reichten für ein Akademikerkind in der Lesekompetenz 551 Punkte für eine Gymnasialempfehlung, während ein Arbeiterkind es auf gut 600 Punkte bringen musste. Bis 2006 ist der Wert für das Kind eines Arztes oder eines höheren Beamten auf 537 Punkte gesunken. Für die Empfehlung reichte bei ihm nun eine Leistung aus, die nicht einmal dem Durchschnittswert aller Schüler von 548 Punkten entsprach. Die Kinder un- und angelernter Arbeiter mussten demgegenüber mit 614 Punkten deutlich bessere Leistungen als 2001 erbringen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Sie mussten jetzt ungefähr eine ganze Kompetenzstufe (von insgesamt nur fünf) besser sein als Akademikerkinder oder, anders ausgedrückt, ihnen mehr als eineinhalb Schuljahre voraus sein, um von den Lehrkräften ebenfalls als geeignet für den Besuch eines Gymnasiums gehalten zu werden. Zur Begünstigung durch die Lehrkräfte kommt dann noch hinzu, dass Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss ihrem Nachwuchs auch weniger zutrauen als Akademikereltern und deshalb dem Rat der Lehrer und Lehrerinnen folgen, wenn es um die Einschätzung der weiteren Schullaufbahn ihrer Kinder geht. Bei Eltern mit Hochschulabschluss oder hoher beruflicher Position sieht das ganz anders aus. So genügten Eltern mit Hochschulabschluss 2006 bereits 498 Punkte (530 Punkte 2001) auf der Skala der Lesekompetenz, um ihre Kinder für geeignet zu halten (Bos et. al. 2007: 19).

Als Konsequenz dieser Entwicklung findet man an den Hauptschulen und Realschulen eine erhebliche Anzahl von Schülern, die die Fähigkeit hätten, eine höhere Schulform zu besuchen. So erreicht jeder vierte der Haupt- und Realschüler Leistungen oberhalb des Realschul- bzw. Gymnasialdurchschnitts. Jeder vierte Hauptschüler und jeder zweite Realschüler ist sogar besser als das untere Viertel der Gymnasiasten (Uhlig u.a. 2009: 428 ff.). Die frühe Verteilung auf unterschiedliche Schultypen beinhaltet nicht nur erhebliche Fehleinschätzungen der Leistungen und eine gravierende soziale Schieflage, sie nimmt Kindern auch die Möglichkeit zu lernen. Bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen erreicht man von Klasse 7 bis Klasse 10 in der Mathematik auf dem Gymnasium einen Lernfortschritt von 91 Prozent, auf der Hauptschule dagegen nur einen von 41 Prozent, nicht einmal halb so viel (Veith u.a. 2009: 28). Die Chance, bei einer Leistungssteigerung später noch einen höheren Schulabschluss anzusteuern, ist zudem sehr gering. Die Wechselquote pro Jahr liegt gerade einmal bei drei Prozent. Was aber noch entscheidender ist. Es kommen auf einen, der den Aufstieg von der Realschule auf das Gymnasium schafft, zwölf, die den umgekehrten Weg gehen müssen. Wechsel bedeutet also ganz überwiegend Bildungsabstieg, nicht Bildungsaufstieg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 66).

Besonders betroffen von dieser Benachteilung sind die Kinder von hier lebenden Migranten. Nur gut jeder achte besucht ein Gymnasium. Fast die Hälfte eines Jahrgangs bleibt nach dem Ende der Pflichtschulzeit sogar ohne jegliche weitere Ausbildung. Hier schlägt sich besonders nieder, dass Kinder aus Migrantenfamilien seltener vorschulische Bildungseinrichtungen besuchen und diese für Kinder bis zu drei Jahren auch in völlig unzureichendem Maße zur Verfügung stehen. Gerade einmal 12 Prozent dieser Altersgruppe können in Westdeutschland, wo die überwiegende Mehrheit der Migranten wohnt, in eine Kindertageseinrichtung gehen. Deutsche Kinder nehmen das Angebot zudem fast doppelt so häufig in Anspruch wie Migrantenkinder. Bei den Kindern zwischen drei und sechs Jahren verbessert sich die Situation zwar erheblich, indem die generelle Besuchsquote auf ungefähr 90 Prozent steigt und sie bei Kindern aus Migrantenfamilien nur noch etwa ein Viertel niedriger als bei deutschen Kindern liegt. Angesichts der sprachlichen und sozialen Nachteile dieser Bevölkerungsgruppe ist das Angebot aber auch in dieser Altersgruppe unzureichend. Dies gilt vor allem für die im Durchschnitt zu kurzen Öffnungszeiten. Ganztägige Angebote existieren in Westdeutschland gerade einmal für ein Drittel der Kindergartenkinder (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 49 ff.; 235f.)

Generell haben die Kinder und Jugendlichen aus der unteren Hälfte der Bevölkerung deutlich schlechtere Bildungschancen. Das setzt sich beim Übergang ins Berufsbildungssystem fort. Von den deutschen Hauptschulabsolventen schaffen gerade einmal 48 Prozent den direkten Übergang in eine duale Ausbildung. Bei denen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, ist es sogar nur ein Viertel. Für die Jugendlichen aus Migrantenfamilien sieht es noch schlechter aus. Zwei Drittel der Hauptschulabsolventen und sogar 88 Prozent derjenigen, die keinen Abschluss geschafft haben, landen in staatlichen Übergangsmaßnahmen, deren Bildungsangebote unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen und zu keinen anerkannten Ausbildungsabschlüssen führen. Überraschend und ein Beleg für die begrenzte Wirksamkeit von Bildung ist aber, dass selbst bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen Realschulabschluss aufweisen, knapp ein Drittel keinen Ausbildungsplatz bekommt, sondern im Übergangssystem endet (ebd.: 99).

Diese Perspektiven schlagen sich dann folgerichtig in der Motivation der Hauptschüler nieder. Das gilt ganz besonders für städtische Ballungsgebiete mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil. Wenn dort aus den gesamten Abschlussklassen der Hauptschulen so gut wie niemand mehr einen Ausbildungsplatz bekommt, dann ist nicht verwunderlich, dass die Schüler sich auch nicht mehr sonderlich anstrengen. Es macht aus ihrer Sicht einfach keinen Sinn. Diese Einschätzung wird im Kern zunehmend auch von den Lehrern geteilt. Eine Befragung von Lehrkräften in den Jahren 2000 und 2011 zeigt ein drastisches Auseinanderdriften zwischen den Hauptschul- und den Gymnasiallehrkräften, was ihre Sicht auf die Zukunftsaussichten der jeweiligen Schülerschaft angeht. War 2000 jeweils ein Viertel der Meinung, die Perspektiven seien für diese besser als früher, und 42 (Gymnasium) bzw. 49 Prozent (Hautschule) hielten sie für schlechter, sieht es elf Jahre später vollkommen anders aus. Bei den Hauptschullehrern hat sich die Stimmung noch einmal, und zwar dramatisch verschlechtert. 60 Prozent sehen die Zukunft für ihre Schüler düsterer und nur noch 18 Prozent positiver. Bei den Gymnasiallehrern ist es genau umgekehrt. Nur noch ein Viertel schaut pessimistisch in die Zukunft, 43 Prozent dagegen optimistisch (Institut für Demoskopie Allensbach 2011: 15).

Gefahren und politische Folgerungen

Die geschilderten Tendenzen, sowohl in Hinblick auf Beruf und Einkommen als auch in Bezug auf die Bildungschancen, sind ein Alarmsignal. Deutschland droht dauerhaft eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft, weil die gesetzlichen Änderungen bei den Sozialleistungen und die Strukturen des Bildungssystems vielfach Hand in Hand greifen, und das nicht im positiven, sondern im negativen Sinne.

Die Hartz-Reformen haben nicht gehalten, was ihre Befürworter stets versprochen haben. Der Weg aus der Arbeitslosigkeit ist nicht leichter geworden, weder durch die Maßnahmen der Arbeitsagenturen unter dem Motto „Fördern und Fordern", noch durch die massive Ausweitung von befristeten Arbeitsverträgen und Leiharbeit. Wie aktuelle Untersuchungen des IAB zeigen, ist es von den Arbeitslosen, die als Leiharbeiter Beschäftigung fanden, gerade einmal sieben Prozent gelungen, in den nächsten zwei Jahren ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis außerhalb der Leiharbeit zu finden. Die Masse verblieb in der Leiharbeit oder wurde wieder arbeitslos (Lehmer/Ziegler 2010: 4). Fast jedes zweite Arbeitsverhältnis, das arbeitslose Hartz-IV-Empfänger antraten, war binnen eines halben Jahres schon wieder beendet und ebenfalls fast jedes zweite musste aufgrund der geringen Löhne durch Leistungen der Arbeitsagentur aufgestockt werden (Koller/Rudolph 2011: 3). Außerdem hat nur jeder achte Geringverdiener innerhalb der nächsten sechs Jahre den Ausstieg aus dem Niedriglohnsektor geschafft (Schank u.a. 2008: 5). Ganz generell stellen Fehr und Vorbruba in ihrer Untersuchung der Hartz-Reformen fest: „Seit der Hartz-Reform haben sich die Arbeitslosigkeitsepisoden der Sozialtransferbezieher nicht verkürzt. Im Gegenteil verweilen Alg-II-Bezieher bei Berücksichtigung soziodemografischer Effekte und der Arbeitsmarktsituation eher länger in Arbeitslosigkeit als Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher vor der Einführung des SGB II." (Fehr/Vobruba 2011:216)

Im Bildungsbereich sieht es nicht ganz so düster aus. Die Hauptschule als Restschule wird mittlerweile fast überall, selbst in der CDU, in Frage gestellt und durch neue integrierte Modelle ersetzt, die sie mit der bisherigen Realschule und der Gesamtschule kombinieren. Allerdings gibt es hier enorme Unterschiede in der länderspezifischen Umsetzung. Es gibt Varianten wie in Nordrhein-Westfalen, die nur bis zur 10. Klasse reichen, das Abitur also ausschließen, und Varianten, die wie etwa in Hamburg auch das Abitur ermöglichen. Was allen gemein ist, das ist allerdings die Bestandsgarantie für das Gymnasium. Eine Zweiteilung wird also in jedem Falle beibehalten. Wie scharf sie ausfallen wird, das muss man abwarten. Außerdem besteht die Gefahr, dass die alte Dreigliedrigkeit zumindest teilweise auf dem Weg der Sonderschulen wieder Einzug hält. Ein Blick auf die neuen Bundesländer, die die Hauptschule nicht kennen, lässt das Problem erahnen. Dort besuchen mittlerweile fast sieben Prozent der Schüler eine Sonderschule, mit Spitzenwerten von knapp zehn Prozent (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 70). Sie ist damit auf dem besten Weg, die neue Restschule zu werden.

Deutschland gehört international mittlerweile zu den wenigen Industrieländern, die sowohl ein sozial stark selektives Bildungssystem als auch eine eher restriktive Handhabung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen aufweisen. Dabei zeigt die Analyse, dass die Verknüpfung großzügiger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen mit einem durchlässigen Bildungssystem die besten Perspektiven für gesellschaftlichen Fortschritt bietet (Allmendinger/Nikolai 2010: 116f.). Was bei einer Fortsetzung der bisherigen Sozial- und Bildungspolitik dagegen zu erwarten ist, zeigen die bisherigen Ausführungen. Außerdem hat die Spaltung der Gesellschaft auch Konsequenzen für die Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen. Die Wahlbeteiligungen signalisieren das mehr als deutlich. Sie gehen ja nicht einfach ganz allgemein zurück, die Quote hängt vielmehr außerordentlich stark von der sozialen Lage ab. Wie Wahlanalysen immer wieder bestätigen, ist in den bürgerlichen Stadtteilen kaum ein Rückgang zu verzeichnen, in den sogenannten „sozialen Brennpunkten" dafür ein umso größerer. Lag die Differenz zwischen diesen Wahlbezirken früher bei zehn Prozent, beträgt sie bei Bundestagswahlen mittlerweile 50 bis 70 Prozent und bei Landtags- und Kommunalwahlen teilweise sogar mehr als 100 Prozent (Schäfer 2009). Wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter, ist damit zu rechnen, dass dieser Prozess voranschreitet, dass die Verlierer der Entwicklung sich noch stärker als bisher politisch abstinent verhalten werden.

Um solche Entwicklungen zu verhindern oder zumindest zu bremsen, müsste zunächst der Konsens durchbrochen werden, der in den letzten zehn Jahren innerhalb der Eliten, nicht zuletzt aufgrund ihrer zunehmenden Homogenisierung, wie auch in großen Teilen der intellektuellen und bürgerlichen Kreise zu beobachten war (Hartmann 2010; 2012). Die Verteilungsfrage ist (gerade angesichts der Finanzkrise und ihrer Folgen) im Gegensatz zur dort vorherrschenden Meinung kein Thema von gestern, die Hartz-Reformen sind keine Erfolgsgeschichte und das Gymnasium ist keine sakrosankte Institution. Das wäre ein Anfang für eine produktive Diskussion über gesellschaftlichen Fortschritt. Findet sie nicht statt, kann es sein, dass wir in Deutschland in zehn oder 15 Jahren eine Debatte über Jugendunruhen und ihre Ursachen führen müssen, wie sie aktuell in Großbritannien Politik und Medien beherrscht.

Literatur:

Hinweis:

Michael Hartmann ist Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Elitesoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie sowie Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.


Er hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.



Montag, 29. Juli 2013

73. Sofortige Wiedereinführung der Vermögenssteuern und Anhebung des Spitzensteuersatzes!

 
 

 
 
 
Unser 95 Thesen
 
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73. Sofortige Wiedereinführung der Vermögenssteuern und Anhebung des Spitzensteuersatzes!

Unsere 95 Thesen

 
[via Junge Welt]
 

--->>> Der Abhörskandal, ein gewohnheitsmäßiger Verfassungsbruch? [via Nachdenkseiten]


Der Abhörskandal, ein gewohnheitsmäßiger Verfassungsbruch?

 
[via Nachdenkseiten]
 
 

Es ist schon jetzt ein Verdienst der Snowden-Enthüllungen, dass sie Fragen nach der Geltungskraft des Grundgesetzes und damit auch der Souveränität Deutschlands aufwerfen.
Konnten frühere Grundrechtsverletzungen und Einschränkungen der Souveränität als Einzelfälle verharmlost und mit unterschiedlichen Begründungen beiseite gewischt werden, so sind wir bei dem konkreten Verdacht massenhafter Überwachung und Ausspähungen als Bürger und Grundrechtsträger alle unmittelbar betroffen. Die neue mögliche Quantität der Überwachung schafft eine neue Qualität gegenüber früheren Rechtsverletzungen in Einzelfällen.
Lässt das Grundgesetz einen gewohnheitsmäßigen Verfassungsbruch zu? Ist der Amtseid auf das Grundgesetz nur Heuchelei?
Was eine dem Grundgesetz verpflichtete Regierung tun müsste.

Von Wolfgang Lieb

Albrecht Müller hält in zwei Beiträgen den Kritikern des Überwachungsskandals eine Irreführung vor. Dass Deutschland kein souveräner Staat sei, sei nichts Neues. Er verwies dabei u. a. auf die geheimen, jedenfalls der Öffentlichkeit und sogar den meisten Parlamentariern unbekannten Sonderrechte, die den Alliierten in verschiedensten Verträgen und Regierungsabsprachen seit Gründung der Bundesrepublik und teilweise bis heute gültig von (west-)deutscher Seite eingeräumt wurden. Es gebe nicht nur eine Bedrohung der Grundrechte der Bürger durch die elektronische Überwachung durch die USA und Großbritannien, sondern es gebe darüber hinaus eine massive Einflussnahme dieser Mächte auf die deutsche Politik, auf Politiker und Medien auf der Grundlage dieser Sonderrechte, aber vor allem auch über gut organisierte personelle Verflechtungen. Solche Einwirkungen gebe es keineswegs nur auf der Ebene der Geheimdienste, sondern auch im militärischen Bereich, bei der Terrorabwehr, genauso gebe es Einflussnahmen auf die Regierung bis hin zur Willensbildung der Parteien und der Meinungsbildung durch die Medien. Die Methoden der Fremdbestimmung reichten dabei von der politischen Bestechung, über Erpressungen bis hin zu Bedrohungen derjenigen, die Licht in diesen dunklen Untergrund bringen wollen.

Albrecht Müller zieht daraus die Konsequenz, dass man nicht nur die Ausspähung durch die Geheimdienste und die damit verbundene Verletzung von Grundrechten verurteilen dürfe, sondern dass man auch all die anderen Verletzungen unserer Gesetze und damit der Souveränität Deutschlands thematisieren und Abhilfe fordern müsse.

Ich widerspreche diesem Tenor der Aussage Albrecht Müllers in keiner Weise. Ich muss im Gegenteil eingestehen, dass ich – obwohl ich über dreißig Jahre beruflich sehr nahe an den Führungszirkeln der Politik gearbeitet habe – über die Sonderrechte insbesondere auch der Westalliierten bestenfalls gerüchtweise erfahren habe und über die Einflussnahmen von außen auf die deutsche Politik allenfalls vage Vermutungen hatte. Die ich – wie ich jetzt lernen muss – fälschlicherweise eher einem verschwörungstheoretischen Verdacht zuordnete.

Durch die Snowden-Enthüllungen wurden die Sonderrechte der Alliierten zum Thema

Es ist schon jetzt ein Verdienst der Snowden-Enthüllungen und der Debatte darüber, dass diese Sonderrechte (auch der Westalliierten) gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zum öffentlichen Thema geworden sind.

Man hätte Vieles wissen können und müssen, was jetzt erst Gegenstand der öffentlichen Debatte wurde. Der Freiburger Professor für Neuere Geschichte, Josef Foschepoth, etwa hatte über die Geheimvereinbarungen des Nachkriegsdeutschlands intensiv geforscht und etliche Geheimnisse längst gelüftet. Dass selbst aufklärerische Liberale und Linke, das Thema Souveränität nicht aufgriffen, hatte vermutlich vor allem den Grund, dass rechtsextreme und neonazistische Kräfte dieses Thema usurpierten und damit an der Wahnvorstellung festhalten wollen, das Deutsche Reich sei mit der Kapitulation nicht untergegangen und die Bundesrepublik Deutschland sei ein illegitimes Regime. Albrecht Müller hat zurecht darauf hingewiesen, dass viele Demokraten solche Kontrollmaßnahmen und Einflussnahmen der ehemaligen Besatzungsmächte in der Nachkriegszeit weniger beunruhigend empfanden als den Wiedereinzug ehemaliger Nazis in höchste Staatsämter.

Kritik an der Vernetzung deutscher Politiker und Journalisten mit der amerikanischen Politik, mit US-Propagandaagenturen (wie etwa der Atlantikbrücke) und an der Kooperation deutscher Sicherheitsbehörden mit ausländischen Geheimdiensten (nicht nur der NSA, sondern auch dem FBI, der CIA, dem Department of Homeland Security (DHS) und anderer) konnte bisher mit dem Totschlagargument des „Antiamerikanismus" abgewehrt werden.

Einzelne Rechtsverletzungen wie etwa im Fall des von der CIA entführten und gefolterten deutschen Staatsbürgers Khaled El Masri oder die Mitverantwortung deutscher Geheimdienste bei der Inhaftierung von Murat Kurnaz in Guantanamo wurden mit der „Terrorabwehr" gerechtfertigt. Innenminister Friedrich ging sogar soweit, dass er „Sicherheit" zum „Supergrundrecht" erklärte, dem das Grundrecht des Post- und Fernmeldegeheimnis eher nachrangig sei.

Dass die Airbase Ramstein als „Flugzeugträger" der US-Streitkräfte im Irakkrieg diente (an dem sich Deutschland angeblich nicht beteiligte), wurde mit Bündnisverpflichtungen kaschiert. Zusagen und Vereinbarungen deutscher Regierungen über die Geheimdienstaktivitäten der früheren Besatzungsmächte in Deutschland galten als Verteidigungsmittel im „Kalten Krieg" legitimiert.

Frühere Abhöraffären wie etwa das um die Jahrtausendwende bis hin zum Europäischen Parlament diskutierte Abhörsystem „Echelon" wurden mit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 und Schröders „uneingeschränkter Solidarität" mit Amerika beiseitegelegt.

Immer wenn die Rechte deutscher Staatsbürger verletzt wurden, wenn es Rechtsverletzungen auf deutschem Boden gab, wenn der deutsche Rechtsstaat und seine Souveränität durch äußere Eingriffe tangiert waren, konnte diese unter Berufung auf die „unverbrüchliche Freundschaft" mit den USA, mit Bündnisverpflichtungen, mit der „Terrorabwehr" oder schlicht mit bewusst eingegangenen Souveränitätsverzichten im deutschen Gesamtinteresse abgetan werden.

Was mit der „Echelon"-Abhöraffäre schon einmal die öffentliche Debatte erreicht hatte, ist nun durch Edward Snowdens Enthüllungen über das amerikanische PRISM-Abschöpfungssystem der NSA und über das britische „Tempora"-Überwachungsprogramm der GCHQ erneut zum öffentlichen Thema geworden. Aus diesem Anlass wurden auch Abhörpraktiken französischer Dienste bekannt. Auch der wechselseitige Datenaustausch zwischen den Diensten Kanadas, Australiens und Neuseelands, womit möglicherweise bestehende Verbote der Inlandsspionage faktisch umgangen werden kann, wurde öffentlich.
Es steht sogar die Vermutung im Raum, dass Büros der Europäischen Union und Politiker ausspioniert worden sind.

Nicht mehr nur einzelne, sondern wir alle sind in unseren Grundrechten bedroht

Man kann das „Überwachte Deutschland" (Foschepoth) eben nicht mehr als einzelne Rechtsverletzung oder als Missachtung der verfassungsrechtlich geschützter Grundrechte einzelner Grundrechtsträger abtun, sondern es geht um die Missachtung eines elementaren Grundrechts nicht nur aller Deutschen sondern auch aller auf deutschem Boden Lebenden.

Es gibt den dringenden Verdacht, dass ausländischen Geheimdienste und die mit ihnen kooperierenden deutschen Sicherheits-„Behörden" durch verdachtsunabhängige allumfassende Kommunikationsüberwachung

  • gegen das Fernmeldegeheimnis des Grundgesetzes,
  • gegen den vom Bundesverfassungsgericht in jahrzehntelanger kontinuierlicher Rechtsprechung geschaffenen Schutz der Privat- und Intimsphäre der Bundesbürger,
  • gegen das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung,
  • gegen das Recht auf Vertraulichkeit und auf die Integrität informationstechnischer Systeme verstoßen.

Und es geht um die begründete Vermutung, dass

  • gegen das vom Gesetzgeber geschaffene deutsche Datenschutzrecht,
  • gegen – sonst immer so hoch gehaltene – Betriebsgeheimnisse (Stichwort: Industriespionage),
  • gegen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (u.a. § 201 StGB also der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes, § 202 StGB der Verletzung des Briefgeheimnisses, § 202 a StGB das unbefugte Ausspähen von Daten, § 202b StGB das unbefugte Abfangen von Daten und § 202c StGB das Vorbereiten des Ausspähens und Abfangens von Daten)

verstoßen wird.

Wo bleiben eigentlich die sonst so forschen Staatsanwälte? Da wird in Deutschland ein Ehepaar wegen Spionage zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil es „mehrere hundert" Dokumente an den russischen Geheimdienst weitergegeben haben, wenn aber der begründete Verdacht von millionenfacher Ausspähung durch westliche Geheimdienste aufkommt, herrscht Stillstand der Rechtspflege.

Die Quantität der Überwachungsmöglichkeiten schafft eine neue Qualität

Wir alle als Bürger und Grundrechtsträger sind also unmittelbar betroffen und die neue mögliche Quantität der Überwachung schafft eine neue Qualität gegenüber früheren Rechtsverletzungen in Einzelfällen. Insofern bin ich – anders als Albrecht Müller – nicht der Meinung, dass sich die Kritiker „über das Falsche" aufregen, nein, sie sind empört darüber, dass der „Boden des Grundgesetzes" und der deutsche Rechtsstaat unterminiert werden. Sollte es fortbestehende Sonderrechte der Alliierten oder Geheimvereinbarungen zwischen den jeweiligen Regierungen geben, die in unsere Grundrechte eingreifen, so verstoßen diese in gleicherweise gegen unsere Verfassung und unser Rechtssystem wie die darauf möglicherweise basierenden Abhörmaßnahmen.

Nagelprobe für die Geltungskraft des Grundgesetzes

Über die Frage, ob Deutschland nach dem Besatzungsstatut von 1945, nach dem „Deutschlandvertrag" von 1955 mit seinen Vorbehaltsrechten, ob das Nato-Truppenstatut (1961), ob mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag" (1991) oder ob durch sonstige geheime (Verwaltungs-) Vereinbarungen und Zusagen über die Abhörtätigkeiten ausländischer Geheimdienste die Souveränität des deutschen Staates (teilweise) eingeschränkt ist, mögen Völkerrechtler noch lange diskutieren. Sofern dies aber der Fall sein sollte, wäre angesichts der neuen Verdachtslage spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, Transparenz über solche Sonderrechte herzustellen. Es dürften staatlicherseits nicht länger diejenigen geschützt werden, die das Grundgesetz verletzen, sondern es müsste alles unternommen werden, um die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger zu gewährleisten. Das hieße, verfassungswidrige geheime Vereinbarungen zumindest grundgesetzkonform zu ändern oder diese gleich ganz aufzukündigen. Das wäre dann die Nagelprobe für die Geltungskraft des Grundgesetzes auf deutschem Boden und gleichzeitig für die Souveränität des deutschen Staates, vor allem im Sinne der Schutzverantwortung gegenüber seinen Bürgern, wie sie dem internationalen Recht entspricht.

Das Grundgesetz lässt keinen Verfassungsbruch zu

Es mag solche vertraglichen oder politisch zugestandenen Souveränitätsverzichte geben – und wir haben begründeten Anlass anzunehmen, dass es diese gibt – aber dann hätten alle, die auf deutscher Seite daran mitgewirkt haben, nicht nur ihren Amtseid verletzt, sondern einen Verfassungsbruch begangen. Sie hätten es nämlich zugelassen, dass ausländische Geheimdienste, und im Zuge der „breiten Zusammenarbeit" (so der ehemalige NSA-Chef Hayden) auch die deutschen Sicherheitsdiensten das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses faktisch abgeschafft haben. Und wenn die politische Verantwortlichen (möglicherweise vertraglich) daran gehindert waren, sich über solche Verstöße gegen das Grundrecht zu informieren und möglicherweise dagegen den Rechtsweg zu beschreiten, dann bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als die Ausschaltung des grundlegenden Prinzips der Demokratie, nämlich der Gewaltenteilung.

Darüber hinaus: Wenn sich die deutschen Sicherheitsbehörden angemaßt haben sollten, hinter dem Rücken der politisch dafür Verantwortlichen systematisch und dauerhaft in die Grundrechte der Bürger einzugreifen, dann hätten sie sich zum Staat im Staate entwickelt und gegen jeden der daran beteiligt war oder ist, bestünde nach Artikel 20 Absatz 4 ein Widerstandsrecht aller Deutschen.

Ist der Amtseid auf das Grundgesetz nur Heuchelei?

Der Bundespräsident, der Deutschland völkerrechtlich vertritt (Art. 56 GG), der Bundeskanzler, die Minister (Art. 64 GG), jeder Bundesbeamte (also auch die Chefs der Sicherheitsdienste) und in abgewandelter Form jeder Landesbeamte, die Richter am Bundesverfassungsgericht (§ 11 Abs. 1 BVerfGG) schwören feierlich, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Sofern Bundespräsidenten, Bundeskanzler und wenigstens einige Minister, nebst zuständigen Beamten solche Verstöße gegen unsere Verfassung auch nur geahnt und nicht aufgeklärt oder etwas dagegen unternommen haben, dann haben sie bei ihrem Eid nur geheuchelt und damit nicht nur die Verfassung beschädigt sondern darüber hinaus das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unser Grundgesetz und in den Rechtsstaat zutiefst verletzt. Warum sollten die Menschen noch an die „Stärke des Rechts" (Merkel) glauben können, wenn höchste Repräsentanten des Staates die Grundnormen unseres Gemeinwesens zur Disposition ausländischer Mächte und deren Geheimdienste gestellt haben. Die Gretchenfrage ist doch: Ist das Grundgesetz nur eine Dispositionsmasse eines wie auch immer gearteten Besatzungsrechts und damit nur eine Fassade?

Der Skandal ist nicht erledigt, nur weil angeblich keiner davon wusste

Die Bundeskanzlerin, der Kanzleramtsminister, der Innenminister und die Justizministerin entziehen sich dieser Kernfrage seit Wochen durch angebliches Nichtwissen und verstecken sich hinter der angeblich nicht gegebenen „Deklassifizierung" (Herabstufung der Geheimhaltung) der amerikanischen Geheimdienstinformationen. Sie erhoffen sich mit dieser Taktik bis zum Wahltermin retten zu können. Der Geheimdienstkoordinator, Roland Pofalla, behauptet öffentlich „der Datenschutz wird zu 100 Prozent eingehalten" und macht seine Aussagen nur vor dem geheim tagenden Kontrollgremium. Niemand kann sie überprüfen. Öffentlichen Nachfragen entzieht sich Pofalla mit dem Hinweis auf Geheimhaltung.

Die Regierungsparteien betreiben das übliche Schwarze-Peter-Spiel und verweisen auf die Verantwortlichkeiten früherer Bundesregierungen. Gerade so, als ob der Skandal erledigt wäre, wenn es ihn auch schon früher gab und nur keiner davon wusste. Egal welche Regierung und welcher Kanzler die Verletzung des Grundgesetzes durch ausländische Geheimdienste eingeräumt haben mag, durch die jetzigen Enthüllungen ist die Regierung von Kanzlerin Merkel mit diesem Thema konfrontiert und muss sich ihm stellen. Wenn dann von Adenauer, über Kiesinger bis hin zu Brandt und Schröder Verfassungsverstöße öffentlich werden, macht das die Lage nicht besser.

Wenn die Regierung wirklich Aufklärung wollte, warum wartet sie dann auf die sicherlich nie vollständige Aufklärung durch die ausländischen Regierungen, die ihre Geheimdienste doch niemals bloß stellen werden. Warum lässt sie nicht wenigstens auch Edward Snowden – wo auch immer – durch deutsche Staatsanwälte als Zeugen vernehmen? Warum versucht man nicht, wie bei der Bekämpfung des Steuerbetrugs an die – möglicherweise – illegal erworbenen Daten heranzukommen? Ist der Verdacht auf Steuerhinterziehung schwerwiegender als der Verdacht einer Verletzung von Grundrechten?

Statt auf „die Stärke des Rechts" auch gegenüber „Freunden" zu pochen, versucht diese Regierung in geradezu zynischer Weise das zu gewährleistende „Bürgerrecht" auf den Schutz vor allumfassender Kommunikationsüberwachung durch staatliche Einrichtungen in eine „Bürgerpflicht" zu verkehren, wonach jeder selbst für die Sicherheit seiner Kommunikation sorgen müsse.

Was eine dem Grundgesetz verpflichtete Regierung tun müsste:

  • Das Mindeste wäre die Aufkündigung aller Geheimvereinbarungen, jedenfalls soweit sie das Grundgesetz verletzen und die Gewaltenteilung (also die Kontrolle durch die Gerichte) verhindern. Die Kooperation der deutschen Sicherheitsbehörden mit ausländischen Geheimdiensten müsste untersagt werden, sofern nur der Verdacht besteht, dass diese das auf deutschem Boden geltende Recht missachten.
  • Es brauchte endlich eine effektive demokratische Kontrolle der deutschen Geheimdienste und nicht nur eine Geheimniskrämerei in parlamentarischen Kontrollkommissionen. Nach dem was erst jetzt durch die Snowden-Enthüllungen bekannt wurde, besteht ein dringender Handlungsbedarf, dass sich die Kontrollorgane nicht mehr nur durch nicht überprüfbare Auskünfte zufrieden geben müssen.
  • Die Softwareanbieter wie Facebook, Microsoft, Apple und andere müssten sich rechtlich verbindlich verpflichten Daten jedenfalls ihrer deutschen Kunden nicht länger an die Geheimdienste abzugeben. Verstöße müssten mit massiven Sanktionen verfolgt werden können.
  • Angesichts der technologischen Möglichkeiten der Ausspähung und der Speicherung von Daten und angesichts der globalen „Verkehrswege" der Internet- und Mobilfunkkommunikation müsste die Regierung – wie etwa beim gleichfalls nicht national zu regelnden Klimaschutz – auf europaweite, besser noch auf global wirksame völkerrechtliche Regelungen zum Schutz des Menschenrechts auf informationelle Selbstbestimmung und zur Abwehr vor staatlicher Ausspähung gedrängt werden. Und es müsste auf einen wirksamen Rechtsschutz vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hingearbeitet werden.

Doch über solche und weitere Maßnahmen findet leider keine Debatte statt.




--->>> #Überforderung und #Leistungsdruck -->> Kinder haben den Terminkalender eines Managers


Kinder haben den Terminkalender eines Managers
 
[Anzeiger für Harlingerland - Ausgabe vom 20.09.2012 - Seite 17]
 


--->>> ... daß Arbeit als Gnade vergeben wird. --->>> Das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit boomt.

 
 
 


 

Hungerlöhne und Almosen

Position. Minijobs, Erwerbslosigkeit,

Hartz IV – Armut in der BRD

Von Ingrid Jost
 
[via Junge Welt]
 
 

 
 
»Eine der schauerlichsten Folgen der ­Arbeitslosigkeit ist wohl die, daß Arbeit als Gnade vergeben wird. Es ist wie im Kriege: Wer die Butter hat, wird frech.«
Kurt Tucholsky (1890–1935), deutscher Journalist und Schriftsteller

Das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit boomt. Es geht um Milliarden auf einem heiß umkämpften Markt, der den Betroffenen unsichere, schlecht bezahlte Beschäftigung und Zwangsmaßnahmen beschert. Es wäre naiv, den Verantwortlichen zu unterstellen, daß sie nicht wissen, was sie tun. Armut wurde und wird politisch gemacht. Die Gewinnmarge wird durch immer niedrigere Löhne und prekäre Arbeitsplätze erhöht – gerade auch im Bildungsbereich. Mindestlöhne für Akademikerinnen und Akademiker von 12,28 Euro (West) und 10,93 Euro (Ost) treiben gut etablierten Handwerkerinnen und Handwerkern sicher vor Lachen Tränen in die Augen. Im Friseurhandwerk, im Gastronomie- und Dienstleistungsbereich sind noch weit niedrigere Löhne die Regel.

Während die Zunahme der Armut, insbesondere die der Kinder, allgemein »Besorgnis« hervorruft, wächst der Niedriglohnsektor weiter, in dem in der Regel auch die Eltern der armen Kinder arbeiten. In diesem Bereich sind 22,8 Prozent (Stand 2010) der Vollzeitbeschäftigten tätig – überwiegend junge Menschen und Frauen, die zu Niedriglohnkonditionen arbeiten. Betroffen sind 715000 Jugendliche außerhalb der Ausbildung und 2,56 Millionen Frauen, die in Vollzeitbeschäftigung weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens verdienen (OECD-Niedriglohngrenze). Im Jahr 2010 war in absoluten Zahlen eine Zunahme von 199 762 Menschen im Niedriglohnbereich zu verzeichnen.

Während in anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren die Löhne gestiegen sind, ist in Deutschland von 2000 bis 2009 laut »International Labour Organization« (ILO) ein Reallohnverlust von 4,5 Prozent zu verzeichnen. Das »Institut Arbeit und Qualifikation« (IAQ) kommt zu dem Ergebnis, daß die Niedriglöhne im untersten Viertel der am schlechtesten Verdienenden zwischen 2000 und 2006 regelrecht abgestürzt sind: Sie brachen um 13,7 Prozent unter das Niveau des Jahres 2000 ein (nominal lagen sie sogar darunter). Im zweiten Viertel sanken die Reallöhne noch um 3,2 Prozent, lediglich im dritten und vierten stiegen sie leicht an. Das heißt, es hat eine weitere Einkommensumverteilung von unten nach oben gegeben. Durch dieses Lohndumping wurden sehr viele Menschen arm trotz Arbeit, um wenigen zu noch mehr Reichtum zu verhelfen, der in die nächste Spekulationsblase investiert werden kann.

»Hilfsbedürftige«

Im Umgang mit Erwerbslosen wird ein ganz bestimmtes Menschenbild konstruiert: Millionen Menschen werden zu »Hilfsbedürftigen« erklärt. Ältere Menschen werden in der Regel geschätzt wegen ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrungen, als Erwerbslose hingegen werden sie zu sogenannten Minderleistern, deren vermeintliche Defizite über Lohnzuschüsse ausgeglichen werden müssen. In der Umsetzung von Hartz IV wird ein hemmungsloser Abbau sozialer Rechte betrieben, die über Jahrzehnte hart erkämpft worden waren. Die gängige Legendenbildung suggeriert auch, daß im Niedriglohnbereich überwiegend Menschen ohne Ausbildung arbeiten. Statt dessen beträgt der Anteil derer mit Fachausbildung, Fachhochschul- und akademischem Abschluß zirka 80 Prozent, der Anteil derjenigen ohne Abschluß im Niedriglohnsektor ist dagegen geringer geworden. Zwangsmaßnahmen und weitere prekäre Beschäftigung werden gerechtfertigt, indem unterstellt wird, daß Erwerbslose dringend therapeutische oder sozialpädagogische Begleitung brauchen, um mit ihrem Leben zurechtzukommen. Arbeit wird so zum Therapeutikum und kann als »Maßnahme« verordnet werden – das bringt billige Arbeitskräfte, und die Betroffenen verschwinden aus der Erwerbslosenstatistik. Reguläre Arbeitsplätze werden von verarmten unterfinanzierten Kommunen abgebaut oder gar nicht erst eingerichtet, weil durch Hartz IV eine billige »Reservearmee« zur Verfügung steht, die diese Lücke füllt oder dank einer rigorosen Sanktionspraxis füllen muß.

Unsicher und mies bezahlt

Leiharbeit ist ein weiteres Instrument, um Arbeit billiger zu machen, die Profite zu privatisieren und die unternehmerischen Risiken zu vergesellschaften. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist die Verbreitung der »Zeitarbeit« in Deutschland leicht überdurchschnittlich. Der Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit vom Januar 2012 erfaßt 910000 Leiharbeitsverhältnisse im Juni 2011. Der Anteil der Leiharbeiter an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt bei knapp drei Prozent. 17 Prozent des Beschäftigungsanstieges von Juni 2010 bis Juni 2011 gingen auf die sogenannte Arbeitnehmerüberlassung zurück.

Während der Frauenanteil im Niedriglohnbereich 70 Prozent ausmacht, sind in der Leiharbeitsbranche 73 Prozent Männer. Die Hälfte dieser Beschäftigungsverhältnisse endet nach weniger als drei Monaten. Das Entlassungsrisiko ist überdurchschnittlich hoch, dafür liegen die mittleren Bruttoarbeitsentgelte in der Zeitarbeit im Durchschnitt unter den mittleren Entgelten und zwar für alle Branchen. Das Bundesarbeitsministerium teilt laut dpa mit, daß jeder zwölfte in diesem Bereich Beschäftigte im vergangenen Jahr zusätzlich zum Lohn Arbeitslosengeld II bezogen hat. Etwa 65000 Leiharbeiter in Deutschland hätten Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitslose erhalten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der in diesem prekären Sektor ihren Lebensunterhalt Bestreitenden mehr als verdoppelt, die Zunahme an unsicheren und schlecht bezahlten Jobs ist zumindest teilweise auch Resultat der Hartz-Gesetze.

Im Rahmen dieser Hartz-Gesetze soll zudem zahlreichen Alleinerziehenden »geholfen« werden, sich im regulären Arbeitsmarkt einzufinden. Unerwähnt bleibt die Tatsache, daß die Zahl der existenzsichernden Arbeitsplätze bestenfalls gleichgeblieben und lediglich die Zahl der prekären gestiegen ist. Unter der Beteiligung von Grundsicherungsstellen werden aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (EFS) und des Bundes 79 lokale und regionale sogenannte Xenos-Projekte mit zirka 60 Millionen Euro finanziert, die zur »Aktivierung, Integration in Erwerbstätigkeit oder sozialen und beschäftigungsbezogenen Stabilisierung von Alleinerziehenden beitragen« sollen. Voraussetzung ist der Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Grundlage dieser Projekte ist wieder die Legende, daß Erwerbslose nur ausreichend aktiviert und stabilisiert werden müssen, und schon fielen neue existenzsichernde Arbeitsplätze vom Himmel, die ohne Aufstockung durch ALG II ein gutes Leben ermöglichen würden. Nur mit dieser Logik der Individualisierung von Erwerbslosigkeit lassen sich Maßnahmen rechtfertigen, die in Wirklichkeit ein großangelegtes Beschäftigungsprogramm sind, das die Bildungsträger absichert und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen davor bewahrt, ebenfalls in der Erwerbslosigkeit zu landen. Die Beteiligung der Grundsicherungsstellen führt dazu, daß Frauen mit diesem Instrument der »Frauenförderung« teilweise in den Niedriglohnsektor gedrängt werden, weil Grundsicherungsstellen unter Sparzwang stehen und sich deren Erfolg an den eingesparten Leistungen mißt. Nachhaltige Unabhängigkeit von Transferleistungen über eine notwendige Weiterbildung oder eine Einmündung in reguläre tariflich bezahlte Arbeit wären für die alleinerziehenden Haushalte die bessere Alternative, doch dafür müßten entsprechende Stellen geschaffen und mehr Geld in berufliche Weiterbildung investiert werden.

Billigjob Tagesmutter

Es ist schon ein Hohn, daß Instrumente zur Frauenförderung bei den Grundsicherungsstellen angesiedelt sind, denn deren vorrangige Aufgabe ist es, die Hilfsbedürftigkeit um jeden Preis zu senken. Da werden dann Frauen aus dem SGB-II-Regelkreis in prekäre Beschäftigung gedrängt. Für die Kinderbetreuung, die insbesondere bei verschuldeten Kommunen durch prekäre Selbständigkeit abgedeckt wird, werden weitere Frauen als Tagesmütter verpflichtet, die z.B. wie in Duisburg mit zwei bis fünf Euro brutto die Stunde für ein Kind entlohnt werden. Die »Höhe« der Entlohnung richtet sich nach der Qualifizierung der Tagesmutter: ungelernte erhalten zwei Euro, diejenigen, die einen pädagogischen Grundkurs absolviert haben, erhalten vier und das Fachpersonal immerhin satte fünf Euro brutto. Oft ist zu hören, daß die Mütter froh sein sollen über diese Chance; häufig äußern das allerdings diejenigen, die für solche Monatsverdienste nicht einmal einen Tag arbeiten würden.

In einigen anderen europäischen Ländern ist die Ausbildung zur Erzieherin ein Studium, in Deutschland dauert sie normalerweise drei Jahre. Hierzulande bevorzugt man in Notlagen mit dem pädagogischen Grundkurs von 160 Stunden die billigste Lösung, die übrigens ebenfalls mit ESF-Mitteln gefördert wird, für den hochsensiblen Bereich der Kindererziehung, anstatt die Aufgabe Einrichtungen anzuvertrauen, die mit tariflich bezahltem Fachpersonal ausgestattet sind und unter Fachaufsicht stehen.

Nicht nur unterfinanzierte Kommunen greifen zu dieser Sparlösung, auch finanziell gut ausgestattete nutzen diese Gelegenheit, wann immer sie sich bietet. ESF-Mittel sind ein guter Anreiz, um die klammen Kassen von Bildungsinstituten zu füllen, denn Investitionen in diesem Sektor zählen laut OECD-Ländervergleich in Deutschland offenbar nicht zu den vorrangigen Aufgaben.

Auch in anderen hochsensiblen Bereichen werden zunehmend 400-Euro-Kräfte verpflichtet wie z.B. in den Schulen zur Kinderbetreuung und bei der Schulaufgabenhilfe, bei PC-Kursen zur Vermittlung von Grundkenntnissen und vielem mehr. Auf diese Weise werden ehemals regulär bezahlte Stellen in großer Zahl abgebaut und durch prekäre ersetzt. Beim Preiswettbewerb der Supermärkte und in diversen Dienstleistungsbereichen scheinen die zahllosen Billigjobs fast unverzichtbar zu sein. Die hier geforderte »Flexibilität« wird laut DGB mit vier Milliarden Euro jährlich aus Steuergeldern aufgestockt, um »Arbeitgeber« zu subventionieren. Die Aufstockung von Armutslöhnen kostet die Steuerzahler seit 2005 zirka 50 Milliarden Euro.

Abwärtsspirale beenden

Wer Armut effektiv bekämpfen will, darf nicht auf Billigarbeitsplätze setzen, sondern muß dafür sorgen, daß die Löhne für ein gutes Leben ausreichen, auch bei den sogenannten Arbeitsmaßnahmen. Möglichkeiten zur Beendigung der Lohnabwärtsspirale sind: ein gesetzlicher Mindestlohn über zehn Euro, der auch für Arbeitsmaßnahmen gilt; eine radikale Arbeitszeitverkürzung; die Abschaffung der 400-Euro-Jobs oder zumindest eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro sowie die Wiedereinführung der Arbeitslosen- und Rentenversicherung für alle.

Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken erforderlich, ein Bruch mit den Legenden über Erwerbslose: Das Hauptproblem ist das Fehlen von gut bezahlten Arbeitsplätzen, sekundäre Probleme ergeben sich in der Regel aus der permanenten Unterfinanzierung, dem psychischen Druck, der gesellschaftlichen Abwertung, Ausgrenzung und verkürzten Lebenserwartung durch Armut. Vor kurzem gab es wieder eine kleine Welle der Erschütterung wegen der Erkenntnis, daß, wer arm ist, früher sterben muß. Diese Einsicht ist nicht neu und wurde durch diverse Forschungsergebnisse lange vorher belegt. Zyniker sprechen von sozialverträglichem Ableben; denjenigen mit einem intakten sozialen Gewissen dürfte klar sein, daß jede Einsparung bei armen Menschen mit und ohne Job unterlassene Hilfeleistung ist, bei der das vorzeitige Ableben der Betroffenen billigend mit in Kauf genommen wird.

Nur selten wird erwähnt, daß Erwerbslose ein Höchstmaß an sozialer Kompetenz aufbringen müssen, um in diesem gesellschaftlichen Klima zu überleben und sich erfolgreich gegen die zahlreichen Zumutungen, Rechtsbeugungen und Willkürakte durch die Politik und die Grundsicherungsträger zur Wehr zu setzen. Die Sank­tionspraxis gehört ebenfalls zum Unterdrückungscharakter des Hartz-IV-Systems, hier wird selbst der als Existenzminimum deklarierte Betrag noch gekürzt bis zum völligen Wegfall der Leistungen, damit sich auch das geradeste Rückgrat noch beugt und willens ist, alles zu tun, um nicht zu verhungern oder obdachlos und ohne Krankenversicherung auf der Straße zu landen.

Eine neue Studie der Tübinger Universität über den Zusammenhang der geringeren Körpergröße von Kindern Erwerbsloser mit deren Sozialstatus trägt ebenfalls zur Legendenbildung bei. Im Deutschen Ärzteblatt heißt es, daß »das mit einer Arbeitslosigkeit einhergehende geringere Einkommen eine weniger bedeutende Rolle zu spielen« scheint als der psychologische Streß sowie die Frustration der Eltern, die laut Arbeitsgruppe zur Vernachlässigung der Versorgung ihrer Kinder führen könnten.

Wen wundert es wirklich ernsthaft, daß beengte Wohnverhältnisse, dauernde Existenzangst, Mangelernährung, Hoffnungslosigkeit, Diskriminierung und repressive Strukturen Angst, Streß und Frustrationen erzeugen? Letztere sind allerdings lediglich die Symptome und nicht die Ursachen, die möglicherweise zur Unterversorgung von Kindern führen. Vielleicht sollte es besser heißen: »Wer kleingemacht wird, bekommt auch kleine Kinder.« Ob das Ergebnis der Studie dazu beiträgt, die soziale und psychische Lage der Betroffenen zu verbessern, entscheiden diejenigen, die die Definitionsmacht ausüben. Bisher jedoch geht der Trend in der Regel in eine Richtung, die das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit nicht gefährdet und die Ursachen der Probleme Erwerbsloser in vermeintliche Defizite der Betroffenen verschiebt.

So wird eine Drohkulisse auch für diejenigen, die noch im Erwerbsleben stehen, geschaffen, damit sie stillhalten bei Arbeitsverdichtung und Lohnsenkungen. Selbst Gewerkschaften sind beteiligt an Verschlechterungen im Arbeitsleben: So ist es leider häufig der Fall, daß bei Tarifverhandlungen die Einstiegstarife für diejenigen, die draußen sind, teilweise für viele Jahre um zirka zehn bis 25 Prozent gesenkt werden, um denjenigen, die drinnen sind, ein bis zwei Prozent mehr zu sichern. Das ist nicht nur unsolidarisch, sondern widerspricht auch den eigenen Interessen der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Die Grundvoraussetzung für eine gesellschaftliche Veränderung ist ein Wiederaufleben gegenseitiger Solidarität, sind gemeinsame Streiks für gute Arbeits- und Lebensbedingungen. Außerdem ist ein starkes Rückgrat der Mitglieder aller Gremien und Parlamente erforderlich, konsequent zu sein und Billigjobs jeglicher Ausprägung ihre Zustimmung zu verweigern, für die Finanzierung gut bezahlter Arbeitsplätze zu kämpfen und die Umverteilung von unten nach oben zu beenden.

Qualitatives Wachstum

Hans See fordert in Ossietzky 25/2 den Abschied von dem Gedanken an unendliches Wachstum in einer endlichen Welt, den Vorrang globalökologischer Gründe vor ökonomischen. Die Sicherung des Fortbestandes von Natur und Mensch soll durch qualitative menschliche Entwicklung erreicht werden. Der Wachstumswahn, der nur Kapitalinteressen dient, gefährdet und zerstört auf lange Sicht unsere Lebensgrundlagen nachhaltig. Wenn es uns allerdings gelingt, einen Konsens darüber herzustellen, daß Lebensqualität das vorrangige Ziel einer Gesellschaft ist, dann wird es auch einfacher, die Tätigkeiten in den Bereichen neu und höher zu bewerten, die zum großen Teil im Dienstleistungsbereich angesiedelt sind und überwiegend von Frauen verrichtet werden. Von einer Neubesinnung auf andere gesellschaftlichen Werte profitieren die ganze Gesellschaft und die Natur. Radikale Arbeitszeitverkürzung, gleiche Bezahlung für gleiche und gleichwertige Arbeit, schonender Umgang mit der Natur und gerechte Aufteilung der Familien- und Pflegearbeit sowie gleiche Möglichkeiten zu Weiterbildung und politischer Beteiligung für Frauen und Männer verändern eine Gesellschaft nachhaltig zum Positiven.

Ingrid Jost ist Mitglied im Landespräsidium der Partei Die Linke in Nordrhein-Westfalen



"In einem thüringischen Dorf liegen tonnenweise sensible Daten offen in einer Halle herum" [via Frankfurter Rundschau]


 
Vertrauliches aus Immelborn
 
[Frankfurter Rundschau - Ausgabe vom 17.07.2013 - Seite 7]
 
Wozu mühevoll spionieren?
In einem thüringischen Dorf liegen tonnenweise sensible Daten offen in einer Halle herum


Donnerstag, 18. Juli 2013

schwere und unnötige Niederlage, hier das Streik-Ende bei Neupack, umzudeuten in einen Erfolg, ist also konterrevolutionär


Rosa Luxemburg und die Kritiker der Soli-Gruppe Neupack

Geschrieben von: Dieter Wegner - www.soli-kreis.tk  

[via Linke Zeitung]

http://linkezeitung.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16361:rosa-luxemburg-und-die-kritiker-der-soli-gruppe-neupack&catid=30&Itemid=296


"Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'." - Rosa Luxemburg

Eine schwere und unnötige Niederlage, hier das Streik-Ende bei Neupack, umzudeuten in einen Erfolg, ist also konterrevolutionär - in der Diktion von Rosa Luxemburg.

Man lese also aufmerksam die Erklärungen und EInschätzungen nach Ende des Streiks!

"Wenn es euch nicht gegeben hätte, wäre der Streik nach zwei Monaten zu Ende gewesen", so StreikaktivistInnen mehrfach zum Soli-Kreis.
Es lag nie in den Intentionen des Soli-Kreises, den Streik in die Länge zu ziehen, aber es ging uns immer darum, daß die Kraft der Streikenden ausgeschöpft und ihr Siegeswille gestärkt wurde.

Am Wirken des Soli-Kreises gibt es Kritik von einigen Personen aus linken Parteien und Gruppen. Z.B. sahen es einige Hamburger Politiker der Linkspartei als wichtiges Ziel an, zusammen mit SPD und Grünen den "sozialen Frieden" bei Neupack wieder herzustellen.

Damit übernahmen sie die Grundsatzpositionen von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern, die ihren politischen Lebenszweck darin sehen, für sozialen Frieden im Betrieb und der Gesellschaft zu sorgen, damit am Standort Deutschland optimal Mehrwert erzeugt werden kann. Andererseits gab es Mitglieder der Linkspartei, die morgens um fünf Uhr bei den Blockaden dabei waren und über all die Monate den Soli-Kreis mittrugen. Diese AktivistInnen teilen auch die Kritik am Vorstand der IG BCE. Einer von ihnen, H.G., schrieb an den Vorstand der AG Betrieb und Gewerkschaft:

..."Liebe GenossInnen,
es mag richtig sein, dass ich mit einem besseren Überblick über die Streikbewegungen im Lande und international auch mehr verstehen würde, meine Gedanken entspringen zuerst dem selbst Beobachteten und welche Bedeutung der Kampf für meine Diskussion in Gewerkschaft und BR und auch in der Linkspartei hatte und hat.
Eins noch: Über weite Strecken habe ich den Jourfix Gewerkschaftslinke und die Diskussionen im Solikreis, soweit ich teilnehmen konnte, als Gewinn erlebt. Hier sind anfangs m.E. viele Soli-Ideen entstanden und praktisch auf den Weg gebracht worden. Von der uneigennützigen, sehr konkreten Soli-Arbeit habe ich gelernt. Das gilt auch für unsere studentischen GenossInnen. Was könnten wir uns mehr wünschen, als wenn an der Uni dieser Kampf mit Blick auf die dortigen Bedingungen gründlich ausgewertet würde?..."

Die Kritik am Soli-Kreis geht soweit, daß ihm von einer Einzelperson Zersetzung vorgeworfen wird. Aber Kritik an der Politik der IG BCE-Führung ist Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf. Stattdessen wird von einigen Linken das gute Klima mit den Gewerkschaftsvorständen beschworen:
Wir sind doch alle unter einem Dach, wir haben doch das gleiche Ziel.
Wir können doch Gewerkschaftssekretäre nicht öffentlich kritisieren.
Eine Kritik am Vorstand kann man erst nach dem Streik machen.

Die Intention fast aller im Soli-Kreis war es, sich eindeutig auf der Seite der Streikenden zu stellen, wenn es zwischen ihnen und Gewerkschaftsfunktionären wegen deren Abwiegelungsversuchen zu Konflikten kam. Von einigen linken Experten mag dies als Zersetzung betrachtet werden... Sie wollen ihre Kuschelecke im oder am Apparat behalten bzw. es sich nicht mit den Gewerkschaftsvorständen verderben, denn es gäbe ja auch eine Zeit nach dem Streik. Mit dieser schlau sein wollenden Taktik im Kopf verbietet sich allerdings, "immer laut zu sagen was ist". Man schweigt lieber, um bei den Gewerkschaftsführungen nicht unangenehm aufzufallen, im internen Kreis, im eigenen Politzirkel kann man sich dann ganz radikal äußern über deren sozialpartnerschaftliche, sozialsdemokratische und klassenverräterische Politik. Im Soli-Kreis haben wir mit offenem Visier gekämpft. Wir haben gesagt, was ist - manchmal auch laut gegen Gewerkschaftssekretäre! Von den Streikenden bzw. sich ab 24.1. im Arbeitseinsatz Befindlichen wurde das durchaus honoriert.


Von den Kritikern am Soli-Kreis wird mit "objektiven Bedingungen" argumentiert und "Kräfteverhältnissen", diese seien Schuld an der Niederlage im Neupack Streik. Damit soll von dem verhängnisvollen Verhalten der IG BCE-Führung abgelenkt werden. Diese an sich brauchbaren Begriffe werden zu einem Entschuldigungs-Mantra mißbraucht. Wenn der BR-Vorsitzende vor zehn Jahren diese Mantras im Kopf gehabt hätte, hätte er darin keinen Platz gehabt für seinen Kampf.

Die IG BCE-Führung war trotz kämpferischer Belegschaft unfähig, durchzusetzen, daß der BR-Vorsitzende Murat Günes in die Maßregelungsklausel aufgenommen wurde.
Über sein Arbeitsschicksal entscheidet jetzt ein bürgerliches Gericht.
(Verfahren am Donnerstag, 1.8. um 9 Uhr 15, Raum 119 im Arbeitsgericht Hamburg).

Die IG BCE-Führung hat die Streikenden in eine Niederlage geführt, Chancen, den Gegner in die Knie zu zwingen, zum Abschluß eines Tarifvertrages, wurden zugunsten der Hoffnung auf  Einhaltung von Sozialpartnerschaft bewußt ausgelassen. Als Erkenntnis bleibt den StreikaktivistInnen nur der Weg, erste Schritte der Selbstorganisation zu tun - vor dem Hintergrund in die Einsicht, daß die Gewerkschaft ihr Instrument zu sein hat und nicht umgekehrt.
Die Gewerkschaftsvorstände können sich ein bequemes Leben im Bette der Sozialpartnerschaft leisten, die Neupack-KollegInnen nicht!