Dienstag, 29. Oktober 2013

Deutschlands Medien streuen immer wieder kritiklos die Ergebnisse sogenannter Studien von INSM -->> Das Mantra Fachkräftemangel

 
 

Unseren täglichen Fachkräftemangel gib uns heute!

 
Hans D. Rieveler
 
[via heise.de]
 

Wirtschaftslobbyisten müssen sich nicht sorgen, dass die Vierte Macht im Staat ihr Stoßgebet erhört. Deutschlands Medien streuen immer wieder kritiklos die Ergebnisse sogenannter Studien von INSM, IW, Bertelsmann Stiftung & Co. unters Volk

Der NSA-Überwachungsskandal war noch frisch, da bezeichnete der amerikanische Linguist und Polit-Aktivist Noam Chomsky in einem Zeit-Interview die durch Propaganda bewirkte "gewollte Sprachverdrehung" als "eine viel schlimmere Form von Kontrolle als die Kontrolle über persönliche Daten, auch wenn die schon schlimm genug ist". Als Beispiel nannte Chomsky die amerikanische Steuerdebatte. Hierzulande erscheint die Propaganda vom "Fachkräftemangel" noch eindrucksvoller.

Die Fachkraft ist längst allgegenwärtig. Auf der Toilette einer Autobahnraststätte begegnet sie uns in Gestalt der "Sanifair Service-Fachkraft". Hochspezialisierte Akademiker werden ebenso als Fachkraft bezeichnet wie Absolventen einer Kurzausbildung zum Altenpflegehelfer.

In der Liste der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe kommen alte Berufe wie Schornsteinfeger, Konditor oder Parkettleger durchwegs ohne den Zusatz "Fachkraft" aus. Unter F wie Fachkraft finden sich vorwiegend neuere Ausbildungsgänge wie die früher als Umzugshelfer bekannte "Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice", die "Fachkraft für Automatenservice" (Automatenbefüller) oder die "Fachkraft für Schutz und Sicherheit" (Wachleute). Die bekanntlich stetig wachsende Komplexität einfacher Tätigkeiten erfordert offenbar entsprechend komplexe Berufsbezeichnungen.

So allgegenwärtig wie die Fachkräfte ist auch der Mangel, der angeblich an ihnen besteht. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in den Medien irgendwelche Studien irgendwelcher "Experten" mit stets alarmierenden Zahlen veröffentlicht werden. Die Propaganda vom Fachkräftemangel ist eingebettet in eine große Erzählung, die lautet: "Deutschland geht es gut", die Wirtschaft "brummt", die "Vollbeschäftigung" steht vor der Tür. Wir gehen scheinbar goldenen Zeiten entgegen. Doch Unheil dräut am Horizont: der "demographische Wandel" und der unausweichlich damit verbundene "Fachkräftemangel".

Um das Unheil abzuwenden, brauchen "wir" vor allem mehr Zuwanderung, eine "längere Lebensarbeitszeit" (= eine weitere Heraufsetzung des Renteneintrittsalters), eine "bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und generell eine Vergrößerung des Arbeitskräftereservoirs, sagen die "Experten". Dummerweise hält sich die Zustimmung in der Bevölkerung zu den ersten beiden Rezepten in Grenzen, wie diverse Umfragen belegen.

Eine Befragung zum Fachkräftemangel selbst, der doch als unumstößliche Tatsache gilt, sollte sich eigentlich erübrigen. Erstaunlicherweise berichtete die Zeit kürzlich unter dem Titel "Experten dringend gesucht" über eine Meinungsumfrage zu diesem Thema. Die Quintessenz:

Gehen Deutschland schon bald die Fachkräfte aus? Solange es viele Arbeitslose im Land gab, interessierte diese Frage kaum jemanden. Inzwischen aber sind über achtzig Prozent der Deutschen überzeugt: In den kommenden Jahren werden Fachkräfte fehlen.

So ganz nebenbei erfahren wir also, dass es inzwischen nicht mehr "viele" Arbeitslose gibt. Das scheint ein willkommener Nebeneffekt des Fachkräftemangels zu sein: Man kann sich die leidigen Diskussionen über Arbeitslosigkeit und Niedriglohnjobs sparen. Skeptisch stimmt nur die schwammig formulierte Fragestellung. Warum wurde nach der Entwicklung "in den kommenden Jahren" gefragt, wo doch so viele Unternehmen angeblich schon heute "händeringend" nach Fachkräften suchen?

Dankenswerterweise enthält der Zeit-Artikel einen Link zur Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung, die die Umfrage – eine Telefonbefragung mit 1004 Befragten in Deutschland und 500 in Österreich – beim Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid in Auftrag gegeben hat. Darin heißt es:

Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels sind vier von fünf Bundesbürgern überzeugt: Deutschland werden in den nächsten Jahrzehnten die Fachkräfte ausgehen.

Nun macht es schon einen Unterschied, ob nach Jahren oder nach Jahrzehnten gefragt wurde, ebenso ob eine unbestimmte Zahl an Fachkräften fehlen wird oder ob uns gleich "die Fachkräfte ausgehen". Auf Anfrage verrät eine Sprecherin der Bertelsmann Stiftung den genauen Wortlaut der Frage: "Was meinen Sie: Werden in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten viele Fachkräfte fehlen?"

Ja, wer möchte bei so einer Frage nicht lauthals zustimmen? Wer kann schon ausschließen, dass 2020, 2030 oder vielleicht auch erst 2040 "viele" Fachkräfte fehlen? Vor allem aber: Wer will schon zu der kleinen Minderheit der Unwissenden gehören? Wir wissen es nicht. Vieles spricht aber dafür, dass es deutlich mehr sind, als die Emnid-Umfrage suggeriert. Ein starkes Indiz ist die manipulative Fragestellung. Schon bei einer Umfrage zu Steuererhöhungen hatte TNS Emnid mit solchen Mitteln Ergebnisse erzielt, die dem Auftraggeber – in diesem Fall die Inititative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) – sicher gefallen haben dürften (Ergebnis einer INSM-Umfrage: "91 Prozent gegen Steuererhöhung"). Andere Studien erbrachten ganz andere Ergebnisse.

Bei Emnid wird man das geahnt haben. Das Vertrauen in die Fachkräftemangelgläubigkeit der Deutschen kann wohl nicht allzu groß gewesen sein, denn sonst hätte man auch fragen können: "Glauben Sie, dass 2015 in Deutschland 3 Millionen und 2020 bis zu 6 Millionen Fachkräfte fehlen werden, wie diverse Studien ergeben haben?"

Ein Fachkräftemangel könnte auch etwas Gutes haben

Ein weiteres Indiz ist das anhaltende mediale Trommelfeuer zu diesem Thema. Der Nachrichtenwert ist meist gering, denn es wird ja stets die gleiche Botschaft verbreitet, doch immerhin sind die Zahlen stets neu und aufsehenerregend, werden sie doch von den PR(opaganda)-Strategen und ihren Zuarbeitern aus den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten stets mit neuen, kreativen Formeln hochgerechnet. Die Wiederholung einfacher Botschaften ist bekanntlich das Grundrezept jeglicher Propaganda, doch sobald die Propaganda die erwünschte Wirkung zeigt, sollte die Frequenz normalerweise abnehmen.

Drittes Indiz: Wer gelegentlich durch die Kommentarspalten unter den betreffenden Artikeln scrollt, egal ob in der taz oder in der FAZ, stellt fest, dass die große Mehrheit der Online-Kommentatoren den Fachkräftemangel für eine Fata Morgana hält, ähnlich wie der Ökonom Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wenn gerade einmal keine neue "Studie" zur Verfügung steht, wird Brenke von unseren Qualitätsmedien gerne einmal zum Interview eingeladen.

Regelmäßig macht er dann darauf aufmerksam, so wie hier, dass es mit dem Fachkräftemangel nicht so weit her sein kann, wenn die Löhne kaum steigen. Denn in einer Marktwirtschaft schlage sich die Knappheit eines Guts üblicherweise in höheren Preisen nieder. Angesichts der enorm gestiegenen Absolventenzahlen in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern warnt Brenke sogar vor einer Fachkräfteschwämme. Die zunehmende Beschäftigung von Ingenieuren als Leiharbeiter (Ingenieure als Leiharbeiter) und die Herabsetzung des Mindesteinkommens für ausländische Ingenieure und IT-Experten auf 35.000 Euro im Jahr hält er für Belege, dass es in Wahrheit vor allem darum geht, Löhne zu drücken.

Es ist sicher kein Zufall, dass Emnid nicht danach gefragt hat, ob außer Zuwanderung vielleicht auch Lohnsteigerungen oder bessere Arbeitsbedingungen den Mangel lindern könnten, etwa in der Altenpflege oder im Gesundheitssektor, zwei der von den Befragten am häufigsten genannten Bereiche. Warum wohl zieht es deutsche Fachkräfte in diesem Bereich vor allem in Länder wie die Schweiz oder die USA, während der Ersatz für sie in Rumänien, Kasachstan oder China angeheuert wird?

Gift für die Propaganda wäre es, wenn nicht nur auf den Nachdenkseiten oder Telepolis, sondern auch in den etablierteren Medien öfter die naheliegenden Zusammenhänge zwischen Zu- und Abwanderung und die Gründe dafür dargestellt würden. Möglicherweise käme der Eine oder Andere dann sogar auf die Idee, dass Fachkräftemangel auch sein Gutes haben könnte, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zum Beispiel. Ja, es könnte gar die Erkenntnis reifen, dass Fachkräftemangel, wenn es ihn denn gibt, zuallererst ein Problem der betroffenen Unternehmen ist und erst dann eines der Gesellschaft, wenn die Unternehmen ihren Teil dazu getan haben.

Doch um solche Gedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen, gibt es ja die große Erzählung vom demographischen Wandel, der unweigerlich zum Fachkräftemangel führt, der wiederum nur durch eine Vergrößerung des Arbeitskräftereservoirs behoben werden kann.




Montag, 28. Oktober 2013

Umso mehr sich Armut und Unsicherheit ausbreiten, umso mehr neigen die Menschen zu Entsolidarisierung und Ausgrenzung

 

Der Ökonom als Menschenfeind?

 
[via Nachdenkseiten]
 
 
 

Über gesellschaftliche Verrohung und die etablierte ökonomische Theorie
Ein Interview mit dem Volkswirt und Wirtschaftsethiker Sebastian Thieme über Fragen nach der Entsolidarisierung der Gesellschaft etwa durch die Hartz-Reformen, nach dem Menschenbild hinter den vorherrschenden ökonomischen Lehren, nach der Ökonomisierung der Gesellschaft und der ethischen Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das Interview für die NachDenkSeiten führte

Jens Wernicke.

Herr Thieme, Sie arbeiten seit Längerem über das Thema der sogenannten „rohen Bürgerlichkeit". Um was genau handelt es sich bei diesem Phänomen – und in welchem Zusammenhang steht es mit Prekarisierung, Hartz IV etc.?

Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer hat den Begriff „rohe Bürgerlichkeit" verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend entsolidarisiert. Vor allem die „Eliten" meinen, sie würden bereits viel zu viel für die Gesellschaft tun, der Staat behandle sie ungerechtund dieSchwachen sollten sich gefälligst selber helfen.

Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass sich auch die unteren Gesellschaftsgruppen untereinander mehr und mehr entsolidarisieren. Die von Ihnen erwähnten Hartz-Reformen lassen sich dabei als Instrument einer institutionalisierten Entsolidarisierung bezeichnen. Der Staat bzw. die Gesellschaft konfrontieren die Bedürftigenständig mit dem Vorwurf des Sozialmissbrauchs und stellen die Solidarität unter den umfassenden Vorbehalt einer „Unbedenklichkeitsprüfung". Dazu gehört die obligatorische Prüfung der Bedürftigkeit, die von vielen Betroffenen in ihrer Praxis bereits als entwürdigend empfunden wird. Aber auch die Vorladungen in Jobcenter, die Residenz-, Ab- und Rückmeldepflichten sowie die sogenannten Einstellungsvereinbarungen zählen dazu. Diese Auflagen selbst sind bereits entsolidarisierend, d. h. die Solidarität steht unter dem Vorbehalt der Einhaltung dieser Auflagen. In Ihnen zeigt sich das eben beschriebene Misstrauen gegenüber den Bedürftigen. Letztlich sollen diese Maßnahmen allesamt disziplinierend bzw. erzieherisch wirken. Das wiederum geht offenbar mit einer Haltung einher, wonach „Bedürftige" oft gar keine Hilfe benötigen, sich selbst helfen könnten – ihnen damit aber ebenso oft unterstellt wird, sich lieber helfen lassen zu wollen, weil das bequemer ist – und schlussendlich gar nicht so viel Solidarität nötig wäre.

Aber auch der Umstand, dass derartige „Reformen" überhaupt möglich waren, zeugt bereits von einem Klima der Entsolidarisierung. Hinzu tritt, dass die Notwendigkeit solcher „Reformen" mit negativen Menschenbildern begründet wurde und bis heute noch wird. Denken Sie nur an solche Aussprüche wie „Nur wer arbeitet, soll auch essen". Oder an Ex-Kanzler Schröder, der damals im Bundestag meinte, dass in Deutschland kein Platz für Faulheit sei. Sein damaliger Superminister Clemens malte dann überdeutlich das Gespenst des Sozialmissbrauchs an die Wand und setzte dem Ganzen noch die Krone auf, indem er die Bezieher von Sozialtransfers mit „Parasiten" verglich. Wortwörtlich hieß es auf Seite 10 des damaligen Reports des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat":

„Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben', übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten'. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert."

Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, „Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat [PDF - 183 KB]

Denken Sie auch an das überaus populäre Bild von Beziehern von Sozialtransfers, die – im Jargon von Oswald Metzger – das Geld lieber in Alkoholika und Kohlehydrateinvestieren würden als bspw. für die Bildung ihrer Kinder. Solche zynischen Sprüche charakterisieren den Wirkungsbereich der „rohen Bürgerlichkeit".Letztlich geht es um Stigmatisierung, Abwertung und Menschenfeindlichkeit – und zwar, zumindest in diesen Beispielen, „von oben herab", d. h. dass gut situierte Personen der Öffentlichkeit stigmatisierten und abwerteten.

Die prekären Lebensbedingungen im Niedriglohnbereich und in der Zeitarbeit spielen jedoch ebenso eine Rolle. Nur werden dort die Bedürftigen eben gegeneinander ausgespielt. Niedriglöhner werfen dann z. B. den Beziehern des Arbeitslosengeldes II Faulheit vor usw. usf. Innerhalb von Unternehmen wirkt zudem zunehmend die Spaltung zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern: Die „Privilegien" der unbefristeten Normalarbeit werden dann – anstatt sich etwa für gute und sichere Arbeitsbedingungen für alle einzusetzen – gegen die „Fremden" verteidigt, indem diese abgewertet und ausgegrenzt werden. Die prekäre Situation scheint die Betroffenen so sehr mit dem Rücken an die Wand zu stellen, dass sie für die prekäre Situation der anderen schließlich immer weniger empfänglich werden. Um sich vom Rand abzugrenzen wird nach Sündenböcken oder Gegnern gesucht. Dort, wo Solidarität geübt werden müsste, herrschen dann eher Misstrauen, Konkurrenz und Angst.

Einige aktuelle Forschungen lassen sogar einen allgemeinen Empathierückgang in unserer Gesellschaft vermuten. Diese Beobachtungen gehen dabei über das hinaus, was die soziologische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal" bereits in den 1930er Jahren ergab. Dass nämlich die sozio-psychologischen Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit nicht – wie vielfach angenommen – zu Revolte, sondern vielmehr zu passiver Resignation führen.

http://www.youtube.com/watch?v=Gi99rTTdGAA&feature=player_embedded

3sat-Dokumentation: „Die Arbeitslosen von Marienthal"

Verstehe ich das richtig: Umso mehr sich Armut und Unsicherheit ausbreiten, umso mehr neigen die Menschen zu Entsolidarisierung und Ausgrenzung, rationalisieren diese Haltung dann aber, um ihr eigenes Verhalten als „anständig" verstehen und bewerten zu können?

„Anständig" trifft es nicht ganz. Mit „vernünftig" oder „ökonomisch vernünftig" scheint mir das besser umschrieben zu sein. Und ja, eine Tendenz zur Entsolidarisierung, Ausgrenzung und zur rational-ökonomischen Denkhaltung in den unteren Etagen der Gesellschaft legen entsprechende Studien nahe.

Zeitgleich zu einer Bündelung des Reichtums in immer weniger privaten Händen und einer Zunahme gesellschaftlicher Armut ist also zu konstatieren, dass die Not der Ärmeren zunimmt, diese aber in aller Regel auf die „Erklärungsmuster von oben", die ihnen ihren Nächsten als Konkurrenten und Gefahr andienen, hören und überdies aufgrund der Zunahme von Stress und Angst im eigenen Leben auch immer weniger, lassen Sie es mich so sagen, „Ressourcen zur Empathie für andere" aufzubringen vermögen?

So in etwa, ja. Der Stress und die Angst, die Sie ansprechen, beide sind Elemente der Konkurrenz, der Rivalität mit den Mitmenschen. Je stärker der Wettbewerb, desto stärker der Stress und die Ängste.

Unter diesem Wettbewerbsdruck ist für Empathie kein Platz mehr. Wir könnten auch sagen: Unter Wettbewerbsbedingungen, in der jeder Mensch mit seinen Mitmenschen konkurriert, wird Empathie „wertlos" oder „sinnlos". Ressourcen werden dann nicht für Empathie aufgebracht, sondern dafür, in diesem Wettbewerb zu „überleben". Damit haben die Betroffenen ohnehin genug zu tun. Das mag im ersten Moment etwas pathetisch klingen, aber denken Sie einfach an jene prekär Beschäftigten, die am Rande ihrer physischen und psychischen Existenz agieren. Außerdem steigt die allgemeine Armutsbedrohung der Menschen laut Statistischem Bundesamt seit Jahren an: 2005 waren 12,2 Prozent der Bevölkerung von Armut gefährdet; 2011 waren es bereits 16,1 Prozent, das heißt jeder sechste Bürger im Land. Den Betroffenen bleibt da sicher nicht viel Muße, um sich um andere zu kümmern. Wer mag ihnen das in dieser Situation vorwerfen?

Ich möchte Ihnen gleich ein paar Fragen zur ökonomischen Theorie stellen. Lassen Sie mich aber vorher noch auf einen Sachverhalt kommen, dessen Klärung für die Diskussion hilfreich sein kann: Sie sprechen in Ihrem Buch und ihren Beiträgen von ökonomischen Theorien. Doch in der Debatte um die Wirtschaftswissenschaften wird häufig von der ökonomischen Theorie gesprochen, ganz so, als ob es nur eine Theorie gäbe. Könnten Sie das kurz erklären?

Das liegt an der begrifflichen Unschärfe. Wenn „die" ökonomische Theorie kritisiert wird, dann lässt sich das in aller Regel als die Kritik an der vorherrschenden ökonomischen Lehre bzw. am ökonomischen „Mainstream" übersetzen. Dies umfasst nicht eine einzige Theorie, sondern steht allgemein für Ansätze, Ideen und wissenschaftliche Verfahren, die durch Lehrstühle vertreten und fester Bestandteil der Lehrbücher sind, die in Fachzeitschriften diskutiert werden und die sich auch der Förderung durch Stiftungen bzw. der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) erfreuen können. Alle ökonomische Wissenschaft abseits dieser „vorherrschenden Lehre" wird in der Diskussion als „heterodox", „post-autistisch", „alternativ" oder „kritisch" bezeichnet.

Die Wirtschaftswissenschaften sind also insgesamt nicht einheitlich, sondern werden für gewöhnlich in sogenannte „Schulen" unterschieden, die wiederum ganz eigene Theorien bzw. Ansätze vertreten. Beispielhaft seien Marx und Keynes genannt, mit denen die breitere Öffentlichkeit vielleicht noch etwas anfangen kann. Neo-Ricardianer, Evolutionsökonomen, Alt-Institutionalisten, Wirtschaftsstilforschung usw. sind sicher viel weniger bekannt, stellen aber ebenfalls „Schulen" dar.

Allerdings ist auch zu beachten, dass selbst diese „Schulen" selbst nicht einheitlich auftreten müssen. Friedrun Quaas von der Universität Leipzig hat das kürzlich sehr anschaulich für die „erste Generation" der Österreichischen Schule gezeigt.

Trotz Ihres letzten Einwandes scheint die Unterscheidung nach ökonomischen Schulen durchaus populär. Wie sieht es mit der „Neoklassik" aus? Der ökonomische Mainstream wird doch häufig als „neoklassisch" bezeichnet, oder nicht?

Das stimmt. Viele Kritikerinnen und Kritiker des Mainstreams behaupten, diese vorherrschende Lehre wäre „neoklassisch". Doch aus der ideengeschichtlichen Perspektive ist der Begriff „Neoklassik" für eine Strömung reserviert, die am Ende des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts existierte.

Sicherlich hat sie die Wirtschaftswissenschaften insgesamt geprägt. Die heute oftmals kritisierte Mathematisierung der Ökonomik wurde maßgeblich von dieser Strömung vorangetrieben. Außerdem zählen neoklassische Modelle noch immer zum Standard der ökonomischen Lehrbücher. Auch die Politik greift gerne auf die Modelle zurück. Wenn es z. B. um die Ablehnung eines Mindestlohnes oder der Erhöhung von Sozialtransfers geht, dann steht dort das neoklassische Modell des Arbeitsmarktangebotes Pate.

Aber seit dem beginnenden 20. Jahrhundert hat sich in der Ökonomik viel getan. Nehmen Sie z. B. die neoklassische Annahme vollständiger Informationen. Die heutigen Ansätze gehen in aller Regel von unvollständigen und ungleich verteilten Informationen aus. Und dort, wo einstmals vollständige Rationalität unterstellt wurde, wird heute mit „bedingter" Rationalität gearbeitet. Selbst Kritikerinnen und Kritiker des ökonomischen Mainstreams kommen deshalb nicht umhin, neben der Neoklassik noch andere Strömungen aufzuzählen, die zum Mainstream gehören sollen, z. B. die Neue Institutionenökonomik oder die Verhaltensökonomik. Von der vermeintlichen Dominanz der „Neoklassik" bleibt dann aber nicht mehr viel übrig.

Was ist dann aber der „Mainstream" oder „vorherrschende Lehre"?

Das ist eine gute Frage, über die meine Linzer Kollegin Katrin Hirte und ich uns innerhalb eines Projektes [PDF - 735 KB], das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird, auch den Kopf zerbrochen haben. Ich selbst tendiere dazu, unter „Mainstream" ein Sammelsurium von sich zum Teil sogar widersprechenden Theorien, Ansätzen, Forschungsthemen und wissenschaftlichen Verfahren zu verstehen, die in der universitären Lehre vertreten, bevorzugt gefördert und publiziert werden. In der Summe geht es also nicht um „die eine" Theorie oder „den einen" Ansatz, sondern um einen ganzen Strauß an Ideen, die nach außen hin auch häufig den Anschein einer recht vielfältigen Ökonomik erwecken. Diese Scheinvielfalt zu erörtern würde hier aber den Raum sprengen. Lassen Sie es mich so zusammenfassen: Gemeinsam ist diesen Strömungen, dass sie deduktiv vorgehen, sich auf mathematisch-formale Verfahren und Modellierungen konzentrieren, den sogenannten „methodologischen Individualismus" zugrunde legen (d. h. ökonomische Vorgänge nur vom Handeln der Einzelnen aus betrachten bzw. auf den Einzelnen „rückrechnen") und einen gewissen Dogmatismus an den Tag legen.

In Ihrem soeben erschienenen Buch gehen Sie auch der Frage nach, inwiefern die (vorherrschende) Ökonomik ganz grundlegend auf einem negativen Menschenbild fußt und somit Gesellschaft mehr oder minder auch nur als Summe sich bekämpfender Individuen zuerst einmal zu denken und dann aufgrund eben dieser theoretischen Prämissen auch ebenso zu gestalten vermag. Was haben Sie untersucht und zu welchen Schlüssen kamen Sie dabei?

Zunächst, das von Ihnen angesprochene Menschenbild ist eines der Elemente innerhalb ökonomischer Theorien, das gegen die menschliche Integrität, Würde und Gleichwertigkeit verstößt. In dem Zusammenhang spreche ich auch von ökonomischer Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie.

Jedenfalls lässt sich unter Wirtschaftswissenschaftlern/innen immer wieder eine persönliche Haltung beobachten, die das von Ihnen angesprochene negative Menschenbild durchblicken lässt. So wurden Bettler und ärmere Schichten praktisch seit jeher als unproduktiver Ballast der Gesellschaft betrachtet respektive konstruiert.

Die Einstellungen „älterer" Ökonomen wie etwa Joseph Townsend oder Robert Malthus sind dabei gar nicht weit von jenen Haltungen entfernt, mit denen sich heutzutage Wissenschaftler wie Gunnar Heinsohn oder Thilo Sarrazin in den Medien präsentieren.

Worauf ich deshalb mit den Beispielen in meinem Buch hinweisen wollte, war, dass es genügend Anlass dazu gibt und es notwendig ist, der Frage nachzugehen, inwiefern sich solche Haltungen und Stereotype auch in ökonomischen Theorien niederschlagen. Diese Frage war im Buch zwar nicht abschließend zu klären, aber viele Beispiele deuten darauf hin, dass die Aussagen von Ökonomen weit weniger „wertfrei" oder „neutral" sind, als sie das von ihrer Wissenschaft in der Regel behaupten. Aber wie gesagt, das muss noch eingehender untersucht werden.

Das negative Menschenbild ist nur ein Aspekt von dem, was Sie in Ihrem Buch als ökonomische Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie bezeichnen. Welche anderen Elemente stellen – wie Sie schreiben – die Würde, Integrität und Gleichwertigkeit von Menschen infrage?

Nehmen Sie z. B. die Idee des Wettbewerbs. Dieser produziert immer Gewinner und Verlierer. Dadurch entstehen aber immer auch Ungleichheiten, die auch noch bewertet werden. Anders formuliert: Wettbewerb produziert Ungleichwertigkeiten. Denn die „Sieger" oder „Gewinner" sind „mehr wert", „erfolgreicher", „produktiver" usw. als jene, die den Wettbewerb verloren haben. Über diese Ungleichwertigkeiten wird in der Ökonomik aber kaum nachgedacht. Dabei zielt das auf ganz zentrale wirtschaftsethische Fragen ab: Wie viel Wettbewerb wollen wir uns zumuten? Wo wollen wir Wettbewerb zulassen? Wo ist er unzumutbar?

Ein anderes Beispiel ist die Prinzipal-Agenten-Theorie, die ungleich verteilte Informationen unterstellt und davon ausgeht, dass Menschen ständig ihre Mitmenschen übers Ohr hauen. Damit zwingt diese Theorie den menschlichen Beziehungen ein „rationales" Misstrauen auf. Das finden Sie dann z. B. im Hartz-IV-Regime umgesetzt, wo faktisch ein chronisches Misstrauen gegenüber den Bedürftigen besteht. Am Beispiel Hartz-IV zeigt sich vor allem, wie durch dieses institutionalisierte Misstrauen die Menschenwürde und Integrität der Betroffenen (ihre Selbstbestimmung) immer wieder in Zweifel gezogen wird.

Fragwürdig ist ebenso das Modell des neoklassischen Arbeitsmarktangebotes, das den Erwerbslosen unterstellt, freiwillig in die Erwerbslosigkeit zu gehen und es sich in der sozialen Hängematte bequem zu machen. Die „Wirtschaftsweisen" verwendeten noch 2010 dieses einfachste Modell, um gegen eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze zu argumentieren. Zu bedenken ist dabei, dass diese Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum abdecken sollen und eine Erhöhung praktisch diesem Ziel dienen soll – eine Erhöhung der Regelsätze dient dazu, die Sozialtransfers an höhere Preise usw. (z. B. durch Inflation) anzupassen und dadurch das soziokulturelle Existenzminimum an die Entwicklung anzupassen. Bei den erwähnten Vorschlägen der „Wirtschaftsweisen" ging es aber vor allem um die ökonomische Anreizwirkung der Regelsätze. Die Regelsatzhöhe wurde unter den Blickwinkel der ökonomischen Anreizwirkung gestellt und diente offenbar nicht mehr der Gewährleistung des Existenzminimums, also der Achtung der Menschenwürde.

Es lassen sich also eine Reihe von Hinweisen zusammentragen, die belegen, dass die derzeit vorherrschende Ökonomik auf recht grundlegende Art und Weise menschenfeindliche Züge trägt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die in der Ökonomik verwendeten abstrakten mathematischen Gleichungen, die Graphen oder die Spieltheorie auch noch dafür sorgen können, dass derlei negative Effekte aus dem Blick geraten können.

http://www.youtube.com/watch?v=ly905DIisc8&feature=player_embedded

Prof. Wilhelm Heitmeyer zum Thema "Gruppenbezogende Menschenfeindlichkeit".

In Ihrem Buch widmen Sie aber auch ein Kapitel dem Thema „Ökonomik und Ethik", wo Sie deutlich aufzeigen, dass beides – Ökonomik und Ethik – kein Widerspruch sein muss und in der Ökonomik auch Ansätze existieren, wie sich diese Elemente der Menschenfeindlichkeit auffangen oder eingrenzen ließen. Können Sie kurz erläutern, an welche Sie da im Speziellen denken?

In erster Linie an Adam Smith, der in seiner „Theory of Moral Sentiments" das Gefühl der „Sympathie" beschrieb, also mit dem Mitmenschen „mitfühlen" zu können. Das ist in etwa auch das, was die breitere Öffentlichkeit vom Kategorischen Imperativ Immanuel Kants her kennt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."

Stellen Sie sich also mal vor, wie Empfehlungen von Ökonomen zum Sozialstaat oder zum Arbeitsmarkt ausfallen würden, wenn sie sich in redlicher Weise tatsächlich darum bemühen, nur Empfehlungen zu geben, die sie auch gegen sich selbst gelten lassen würden.

Ähnliche Aspekte finden sich bei Johann Heinrich von Thünens Lohnfrage am Rande seines „isolierten Staates" von 1850. Dort standen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Augenhöhe gegenüber und verhandelten den Arbeitslohn mit Blick auf die Bedürfnisse der Arbeitskräfte und in freier Selbstbestimmung.

Einen neueren Ansatz bietet die Integrative Wirtschaftsethik nach Peter Ulrich. Auch dort wird gefordert, anderen nur solche Regeln, Gesetze etc. zu empfehlen, die jemand auch bezogen auf sich selbst als zumutbar empfindet. Zu beachten ist außerdem, dass das eigene Handeln bzw. das empfohlene Handeln von Dritten als unzumutbar empfunden werden kann. Letztlich wird auch ein zumutbares Maß an Mitverantwortung für Effekte gefordert, die nicht beabsichtigt waren, aber andere beeinträchtigen – das spielt vor allem mit Blick auf Dinge wie Umweltverschmutzung eine wichtige Rolle. Auch mit diesem Ansatz ließe es sich vermeiden, dass die Gleichwertigkeit, Integrität und Würde der Mitmenschen verletzt wird.

Lässt sich vor diesem Hintergrund nicht auch eine ethische Verantwortung seitens der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einfordern?

Richtig, genau das ist der Punkt. Die etablierten Ökonominnen und Ökonomen von heute müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die wirtschaftsethischen Aspekte von Theorien häufig gar nicht erst thematisieren.

Ich spreche diesbezüglich bewusst von den etablierten Vertreterinnen und Vertretern unserer Zunft, da ich diesen Vorwurf nicht so einfach an die Studierenden weiterreichen möchte. Denn woher sollen diese die wirtschaftsethischen Überlegungen von Adam Smith usw. oder gar die Integrative Wirtschaftsethik kennen, wenn so etwas nicht gelehrt wird? Woher soll die Sensibilität für wirtschaftsethische Fragen kommen, wenn die Lehrer selbst keinerlei derartige Sensibilität an den Tag legen oder – im Gegenteil – sich gegen ethischen Fragen dadurch immunisieren, dass sie angeblich eine „wertfreie" Wirtschaftswissenschaft vermitteln?

Das klingt ähnlich dem, was der amerikanische Ökonomen Philip Mirowski am Anfang dieses Jahres mit Blick auf die ökonomische Theoriegeschichte äußerte: Die ökonomische Ideengeschichte wäre praktisch aus den Universitäten vertrieben worden. Wie sehen Sie das?

Genau so, denn es deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Die Fachexpertise, um sich über ideengeschichtliche Themen auszutauschen, hält sich in sehr überschaubaren Grenzen. Es existieren nicht viele Lehrstühle, die ökonomische Ideen- oder Theoriegeschichte praktizieren. Und wenn junge Wissenschaftler/innen selbst einmal ideengeschichtlich forschen wollen, sind sie damit konfrontiert, dass behauptet wird, diese Forschung würde keinen Erkenntnisgewinn bringen. Im Grunde müssen sie sich sogar fast schon dafür rechtfertigen, wenn sie mal keine Formeln produzieren und stattdessen so dreist sind, das Textverständnis ihrer Kolleginnen und Kollegen „unnötig" zu strapazieren.

Das wirkt sich dann natürlich negativ auf die Möglichkeiten aus, innerhalb der Universitäten auch die wirtschaftsethischen Aspekte der ökonomischen Theorien zu vermitteln. Denn es existieren in der Ökonomik ja tatsächlich Ansätze, die die negativen Effekte der Theorien zumindest eindämmen könnten. Die Ökonomik muss also gar nicht menschenfeindlich sein! Das ist mir besonders wichtig, da ich nicht dahingehend missverstanden werden möchte, einseitig auf die Ökonomik einschlagen zu wollen.

Jedenfalls wäre es in dem Kontext notwendig, die Fächer Wirtschaftsethik und ökonomische Ideengeschichte als Pflichtfächer im Studium zu etablieren und entsprechende Lehrstühle einzurichten. Leider sind wir davon aber weit entfernt.

Lassen Sie mich noch einmal auf das negative Menschenbild zurückkommen. Würden Sie so weit gehen und sagen, dass sich dieses negativ-ökonomische Menschenbild immer weiter ausbreitet und aktuell gesellschaftliche Bereiche durchdringt, die bisher frei davon gewesen sind? Oder anders: Hat sich die neoliberale Wettbewerbsideologie auch auf nicht-ökonomische Bereiche ausgedehnt? Und wenn ja, dann wie und wo?

Sie zielen mit Ihrer Frage auf die sogenannte Ökonomisierung unserer Gesellschaft ab. Ich würde das nicht allein am Menschenbild festmachen wollen. Denken Sie z. B. an die Ökonomisierung im Hochschulbereich: Da geht es vor allem um die Quantifizierung, Bewertung und Verwertung von „Qualität" (z. B. der Forschung), um schnellere und vermeintlich „effizientere" Studienabläufe. Hochschul- und Forschungsrankings, Credit Points usw. sind die entsprechenden Schlagworte.

Aber ja, Sie finden das von Ihnen erwähnte negative Menschenbild in verschiedenen Bereichen des Alltags. Denken Sie z. B. an diese Modekette „Hollister", die ihren Mitarbeitern so sehr misstraute, dass sie ihren Toilettengang kontrollieren wollte. Durchsetzen konnte sich das Unternehmen zum Glück nicht. Aber allein das Vorhaben zeigt, wie das Management über die eigenen Angestellten denkt.

Ähnliches lässt sich auch im Bereich des Sozialstaates beobachten. Nehmen Sie bspw. die Forderung, Sachleistungen statt Geld an Hilfsbedürftige zu verteilen. Dort schwingt ja immer das Vorurteil mit, die Bedürftigen könnten mit dem Geld nicht umgehen und würden es für sonstwas ausgeben. Eine wertschätzende Beziehung auf Augenhöhe sähe anders aus!

Neben diesem Menschenbild können wir auch nicht die Augen davor verschließen, dass der Mensch ganz allgemein zunehmend unter dem Druck steht, sich „am Markt" zu verwerten. Er muss ständig mobil, flexibel und erreichbar sein. Er steht immer in der Gefahr, als Kostenfaktor „minimiert" also abgewertet und entwertet zu werden. Rein ökonomisch wird außerdem häufig argumentiert, dass jede Bildungsausgabe eine „Investition" ins eigene „Humankapital" darstellt. Die Appelle, in die Bildung und die eigene Bildung zu investieren, sind ja wohlbekannt.

Insofern befinden sich die Menschen von heute im Hamsterrad eines permanenten Optimierungsmodus und sie sind damit konfrontiert, immer häufiger ein ökonomisches Nutzenkalkül an den Tag zu legen. Aus Mangel an Alternativen ist dies mehr oder minder zugleich eine Überlebensnotwendigkeit.

Dieses Nützlichkeitsdenken unterminiert aber gleichzeitig unsere sozialen und ethischen Werte, da es diese Werte unter den Vorbehalt der ökonomischen Nützlichkeit stellt. Galt die Menschenwürde einstmals als unbedingtes Grundrecht, so droht sie, nur doch dort gewährt zu werden, wo sie „nützt". Damit sind jene Werte, die als unbedingt gelten sollen, nicht mehr unbedingt, d. h. sie stehen nur noch einem Teil der Menschen zu – nämlich jenen, die wir als „nützlich" empfinden. Analog dazu wird also Solidarität zunehmend nur noch dort praktiziert, wo es uns ökonomisch nützt bzw. wo sie sich „verwerten" lässt.

Damit sind wir wieder am Anfang Ihrer Fragen. Meine These ist, dass in dem Maße, wie wir die Ökonomisierung unserer Lebensbereiche zulassen, sich dieses rational-kühle Menschenbild immer weiter ausbreitet und möglicherweise zunehmend an die Stelle anderer wichtiger gesellschaftlicher und humaner Werte tritt. Das bedeutet aber auch: Wir befinden uns in der Gefahr, immer weniger wie Menschen miteinander umzugehen.

Kann man darin eine Rückkehr des Sozialdarwinismus sehen? Oder lassen Sie es mich anders formulieren: Wird damit letztlich nicht das Recht der Stärkeren forciert?

Ja, hinter der eben erwähnten Entwicklung steht spürbar die Idee des natürlichen Daseinskampfs, in dem nur die Stärksten überleben. In gewisser Weise ist das aber auch ein banaler Zusammenhang: Mehr Wettbewerb bedeutet eben mehr Konkurrenz, mehr Auslese und stellt damit eine Rechtfertigung für das Recht der Stärkeren dar.

Ob es sich bei dieser Tendenz um eine Rückkehr handelt, das bezweifle ich jedoch. Denn das würde voraussetzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der dieses Verständnis von „Sozialdarwinismus" nicht galt. Genau das glaube ich ehrlich gesagt nicht.

Aber Sie haben Recht, es lässt sich beobachten, dass trotz der Finanzkrisen der letzten Jahre das Gerede vom „Wettbewerb" und der „Wettbewerbsfähigkeit" die Oberhand gewonnen hat. Das impliziert das von Ihnen erwähnte „Recht der Stärkeren". Die Frage, ob wir uns z. B. in Europa überhaupt den Stress einer Konkurrenz zwischen den nationalen „Standorten" antun wollen, wie viel Konkurrenz wir als zuträglich und zumutbar erachten, auch mit Hinblick auf die Selbsterhaltungsfähigkeit anderer Euro-Länder, diese Probleme scheinen mir momentan hinter die Wettbewerbsphrasen zu treten. Fast unbemerkt wird damit auch die Frage nach einer Europäischen Solidarität oder – anders ausgedrückt – nach Europäischen Sozialstandards in den Hintergrund gedrängt.

Sehen Sie einen Ansatz, diesen Prozess rückgängig zu machen?

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sicherlich wäre dazu ein Mix an verschiedenen Maßnahmen notwendig, allen voran natürlich mit Blick auf die Bildung und Erziehung.

So könnte ein wichtiger Beitrag bereits darin bestehen, die ökonomische Lehre zu verändern. Lehrstühle für Wirtschaftsethik und ökonomische Theoriegeschichte zu etablieren, die sich vielleicht auch verstärkt interdisziplinär betätigen, das wäre z.B. eine Möglichkeit.

Wenn Sie mich nach konkreten Ansätzen innerhalb der ökonomischen Theorie fragen, dann wäre schon viel geholfen, wenn etablierte Ökonominnen und Ökonomen die erwähnte „Sympathy" von Adam Smith oder die „Soziale Irenik" – also die friedensstiftende Funktion etwa im Sinne von Alfred Müller-Armack – im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft beherzigen würden, bevor sie sich wieder zu Themen wie Arbeitslosengeld II, Sparmaßnahmen im Sozialstaat usw. äußern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. rer. pol. Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, ist Volkswirt und derzeit Mitarbeiter am Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien an der Universität Hamburg. Er forscht zu Heterodoxie und Orthodoxie, Ökonomischer Misanthropie, Subsistenz(-ethik), Wirtschaftsethik, Wirtschaftsstilforschung und Ökonomischer Ideengeschichte.

Das Interview führte Jens Wernicke.




28.»Steckbriefe« für Lohndrücker und Firmen herauszugeben, die sich außerhalb der Tarifgemeinschaft stellen!

 
 
 
 
 
Unsere 95 Thesen
 
 
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28. Wir fordern die Gewerkschaften auf, »Steckbriefe« für Lohndrücker und Firmen herauszugeben, die sich außerhalb der Tarifgemeinschaft stellen!

 
Unsere 95 Thesen
 
 
[via Junge Welt]
 
 
 
»Wir sehen uns dazu veranlaßt, weil genau wie zu Luthers Zeiten das Gefüge unserer Gesellschaft in Unordnung ist. Die Schere zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm klafft in nie da gewesenem Ausmaß auseinander.
(…) Wir wollen mit unserem Thesenanschlag ein Zeichen dafür setzen, dass es an der Zeit ist, Widerstand zu leisten.« junge Welt dokumentiert die 95 Thesen.



44. Angebotsmessen von Zeitarbeitsfirmen sind von der Arbeitsagentur nicht zu unterstützen!

 
 
 
 
 
Unsere 95 Thesen
 
 
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44. Angebotsmessen von Zeitarbeitsfirmen
sind von der Arbeitsagentur nicht zu unterstützen!

Unsere 95 Thesen

 
[via Junge Welt]
 
 
 
»Wir sehen uns dazu veranlaßt, weil genau wie zu Luthers Zeiten das Gefüge unserer Gesellschaft in Unordnung ist. Die Schere zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm klafft in nie da gewesenem Ausmaß auseinander.
(…) Wir wollen mit unserem Thesenanschlag ein Zeichen dafür setzen, dass es an der Zeit ist, Widerstand zu leisten.« junge Welt dokumentiert die 95 Thesen.



63. Ziviler Ungehorsam gegenüber den Übergriffen der Obrigkeit wird immer mehr zur Bürgerpflicht!

 
 
 
 
 
Unsere 95 Thesen
 
 
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63. Ziviler Ungehorsam gegenüber den Übergriffen der Obrigkeit wird immer mehr zur Bürgerpflicht!

Unsere 95 Thesen

 
[via Junge Welt]
 
 
 
»Wir sehen uns dazu veranlaßt, weil genau wie zu Luthers Zeiten das Gefüge unserer Gesellschaft in Unordnung ist. Die Schere zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm klafft in nie da gewesenem Ausmaß auseinander.
(…) Wir wollen mit unserem Thesenanschlag ein Zeichen dafür setzen, dass es an der Zeit ist, Widerstand zu leisten.« junge Welt dokumentiert die 95 Thesen.



Gewerkschaften gegen Energiewende -> Wer braucht eigentlich solche Tanzbären, äh, Gewerkschaften?

 
 
Gewerkschaften gegen Energiewende
 
Geschrieben von: Wolfgang Pomrehn - http://www.tlaxcala-int.org
 
[via Linke Zeitung]
 
 
 

Was treibt Gewerkschaften angesichts der beginnenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD um? Hungerlöhne und Zeitverträge? Das nach wie vor bestehende Lohngefälle zwischen West und Ost? Die zunehmende Verarmung der Rentner?

Die Industriegewerkschaften Bergbau, Chemie, Energie und Metall – IG BCE und IG Metall – haben andere Sorgen. Sie streiten für die Konkurrenzfähigkeit deutscher Konzerne. Ganz so, als ob diese ernsthaft in Gefahr wäre, als ob nicht viel mehr der hiesige notorisch hohe Außenhandelsüberschuß für erhebliche Ungleichgewichte innerhalb der EU im Besonderen und der Weltwirtschaft im Allgemeinen sorgen würde.

Um was geht es? Die beiden Gewerkschaften haben am Mittwoch gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Erklärung zur Energiewende verabschiedet, die es in sich hat. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit wird dort der Bau neuer Kraftwerke, die Zentralisierung der Energiepolitik und letztlich die Abkehr von politischen Zielvorgaben für den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energieträger gefordert. Alle Energieträger müßten sich am Markt behaupten, heißt es.

Für den Investitionsstau bei den Höchstspannungsleitungen werden vermeintliche politische Unwägbarkeiten verantwortlich gemacht und nicht etwa die Liberalisierung des Strommarktes, in deren Folge die Netzgesellschaften seit Beginn des Jahrtausends auf Kosten der Instandhaltung den maximalen Gewinn aus der Infrastruktur herausholten. Damit beteiligen sich nun auch zwei große Gewerkschaften an der seit über einem Jahr laufenden Kampagne von Unternehmerverbänden, Stromkonzernen und Lobbyorganisationen wie der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, die ihre Hauptaufgabe ansonsten vor allem im Kampf gegen Arbeiterrechte sieht. Einmal mehr erweist sich der Standortnationalismus als Nasenring, an dem die Unternehmer die Gewerkschaftsbewegung wie einen Tanzbären über den Marktplatz führen.

Natürlich müssen als Begründung einmal mehr die Strompreise herhalten. Dabei haben die Verbände aber nicht die inzwischen für ärmere Haushalte drückend hohen Kosten im Sinn, sondern die wesentlich günstigeren Unternehmenstarife. 2012 haben Industriekunden, sofern sie nicht von den zahlreichen Vergünstigungen profitierten, im Durchschnitt nur 13,87 Cent pro Kilowattstunde bezahlt, Privatkunden hingegen 25,74 Cent. Der energieintensiven Industrie, die den beiden Gewerkschaften ein besonderes Anliegen ist, wurden nur 9,3 Cent pro Kilowattstunde elektrischer Energie berechnet. Damit lag sie unter dem Durchschnitt dessen, was Großverbraucher in der EU bezahlen. Es geht also nicht um die Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen, sondern um den Ausbau des Vorsprungs der deutschen Industrie vor ihren europäischen Konkurrenten. Wer braucht eigentlich solche Tanzbären, äh, Gewerkschaften?


Danke junge Welt


Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/10-24/032.php


Erscheinungsdatum des Originalartikels: 24/10/2013
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=107



Freitag, 25. Oktober 2013

Thema in #KONTRASTE - heute am 25.10. - um 20:15 Uhr auf #tagesschau24 "Lebensgefährliche Risiken - Kontrollbehörde für Arzneimittel versagt"

 
 

Lebensgefährliche Risiken - Kontrollbehörde für Arzneimittel versagt

 
Kontraste
 
Sendung vom 24.10.2013
 
Wiederholung am 25.10.2013 um 20:15 Uhr auf #tagesschau24 [ARD-Digital]
 
 
[via rbb-online.de]
 
 

Risiken und Nebenwirkungen eines Medikamentes sollten eigentlich im Beipackzettel stehen. Wenn Folgen verschwiegen werden, kann es für den Patienten lebensgefährlich werden. Für die Sicherheit der Medikamente ist die deutsche Arzneimittelbehörde verantwortlich. Sie muss beobachten, Risiken bewerten und rechtzeitig veröffentlichen. Doch genau das scheint oft nicht der Fall zu sein. Mit fatalen Folgen für die Patienten.

Können Sie sich vorstellen, dass ein Medikament, das ihre Beschwerden eigentlich lindern soll, stattdessen ihr Leben zerstört? Eigentlich vertrauen wir doch darauf, dass Arzneimittel von den zuständigen Behörden streng kontrolliert werden und dass die Pharmakonzerne alle Risiken offenlegen müssen. Doch unsere Autoren Caroline Walter und Lars Otto haben gefährliche Mängel in diesem angeblich sicheren System entdeckt.

Wolfgang Nandke sitzt viel zuhause, er kann nicht mehr arbeiten. Ein Medikament hat sein ganzes Leben verändert. Gegen seine chronischen Rückenschmerzen verschrieb ihm ein Arzt das Mittel Katadolon, es sollte die Muskeln entspannen.
Doch plötzlich geht es ihm sehr schlecht: er ist verwirrt, seine Haut verfärbt sich gelb. Er wankt ins Krankenhaus, dort bricht er zusammen, wird bewusstlos. Ein Rettungshubschrauber bringt ihn nach Berlin - seine Leber versagt, er braucht dringend ein neues Organ, eine Lebertransplantation. Von alldem bekam er nichts mit.

Wolfgang Nandke
„Ja, erstmal bin ich aufgewacht also hier, und hab mich geguckt, mir den Raum angeguckt, und gesehen dass ich hier irgendwie verkehrt bin, dann wollte ich mich drehen, dann hab ich an meinem Bauch gefasst, weil das irgendwo gezogen hat. Und da hab ich die Narbe gemerkt, die eben ganz schön groß war und was ist nun passiert hier."

Das Medikament Katadolon hatte offenbar das Leberversagen verursacht. Wolfgang Nandke ist heute kaum mehr belastbar, denn er muss täglich 12 Medikamente schlucken, wegen der neuen Leber. Seine Frau und er kämpfen noch, um eine kleine Frührente und dass jemand die Verantwortung für den Schaden übernimmt.

Frau Nandke
„Also, das macht mich ganz wütend, weil ich denke, wenn mein Mann das Medikament nicht genommen hätte, weil die Warnhinweise vielleicht bekannt gewesen wären, dann würden wir jetzt ganz anders leben. Dann hätten wir nicht solche großen Einschnitte in der Lebensqualität, mein Mann hätte seinen Job nicht verloren und würde jetzt so von Tag zu Tag überlegen, wie es weitergeht."

Im Beipackzettel stand nichts über das Risiko eines Leberschadens. Wie kann das sein? Wir gehen der Sache nach und finden heraus: Das Medikament mit dem Wirkstoff Flupirtin steht schon sehr lange im Verdacht, schwere Leberschäden zu verursachen.

Bereits 2007 hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft alarmierende Zahlen veröffentlicht. Ein Drittel der Nebenwirkungen betraf die Leber: es gab auch Patienten mit Leberversagen und mehrere Todesfälle.

Doch das Bundesinstitut für Arzneimittel, zuständig für die Zulassung und Kontrolle, sah keinen Anlass zu handeln. Und sammelte weiter Fälle von geschädigten Patienten.

Für Prof. Bernd Mühlbauer, einen renommierten Experten von der Arzneimittelkommission, ist dieses Zögern unverständlich.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Ohne Zweifel kann man konstatieren, dass die damalige Entscheidung 2007 nicht zu handeln offensichtlich eine Unterschätzung des Risikos war, also eine Fehlentscheidung. Ich hätte erwartet, dass damals bereits ein neues Risikobewertungsverfahren seitens der Behörde angeleiert wird, um dann zu überlegen, ob dieses Medikament überhaupt noch im Markt verbleiben kann."

Aber das Medikament blieb auf dem Markt, besondere Warnhinweise im Beipackzettel erfolgten nicht. Erst 2013, sechs Jahre später, wurde ein sogenannter Rote Hand Brief verschickt, die höchste Warnung an alle Ärzte. Auf einmal darf das Medikament nur noch in Ausnahmen verschrieben werden und dann nur für zwei Wochen - mit enger Kontrolle der Leberwerte. Späte Maßnahmen nach Hunderten Leberschäden, fünf Lebertransplantationen und siebzehn Todesfällen.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Man kann nur bedauern, dass es so spät war, weil mit Sicherheit einige Patienten diese Nebenwirkungen erlitten haben, vielleicht davor verschont geblieben wären, wenn man das früher so entschieden hätte."

Doch nicht nur das: die Zulassungsbehörde stellt jetzt sogar fest:
„die Wirksamkeit von Flupirtin bei chronischen Schmerzen sei unzureichend belegt."

Lebensbedrohliche Nebenwirkungen, aber kein Nutzen. Für Wolfgang Becker-Brüser vom unabhängigen Arznei-telegramm war das keine Überraschung.

Wolfgang Becker-Brüser
Informationsdienst arznei-telegramm

„Also, ich denke es ist ein Offenbarungseid für so eine Behörde, wenn sie im Jahre 2013 sagt, der Nutzen ist ja gar nicht belegt, bei einem Arzneimittel, dessen Langzeitanwendung sie ja selbst zugelassen hat, und zwar 15 Jahre oder 13 Jahre vorher; schlafmütziger kann man eigentlich gar nicht sein."

Wir haben das Bundesinstitut für Arzneimittel für ein Interview angefragt, man habe keine Zeit. Die Behörde teilt schriftlich mit, sie habe das Risiko in den letzten Jahren beobachtet und die Initiative ergriffen. Warum dann erst 2013 die höchste Warnung und Änderung der Zulassung? Darauf keine konkrete Antwort.

Der Hersteller konnte in all der Zeit munter Werbung für das Medikament mit Markennamen Katadolon machen - auf Ärztekongressen; er tut dies sogar bis heute.
Wir sind auf den Südwestdeutschen Schmerztagen, eine Fortbildungsveranstaltung gesponsert von Pharmafirmen. Ein Pharmavertreter lobt uns gegenüber Katadolon in den höchsten Tönen.

Pharmavertreter TEVA
„Also wenn ich jetzt Arzt wäre, und Sie mit Rückenschmerzen zu mir kämen, dann würde Ihnen Katalodon verschreiben. Das ist das beste Mittel zurzeit."
KONTRASTE
„Jetzt gab's doch einen Rote-Hand-Brief …?"
Pharmavertreter TEVA
„Da machen wir jetzt mal einen Cut."

Wir versuchen erneut in Sachen Leberschäden nachzuhaken.

„Es gab Leberschäden, 2007 die Arzneimittelkommission …?"
Pharmavertreter TEVA
„Äh, da möchte ich jetzt mal einen Cut machen."

Schweigen, wo es um Risiken geht. Auch Patienten können sich auf den Schmerztagen informieren. Einige haben Katadolon genommen.

Patientin
„Ich hab das über ein Jahr genommen und hab jetzt ganz erhöhte Leberwerte."
KONTRASTE
„Haben Sie gewusst, dass das schwere Leberschäden verursachen kann?"
Patientin
„Nein, auch mein Hausarzt hat das nicht gewusst."

Patientin
„Wenn Sie das jetzt sagen, dass das auch schwere Leberschäden, dann wundere ich mich nicht, dass ich die Begleiterscheinungen hatte."

Patientin
„Dass dann überhaupt so ein Medikament zugelassen wird, ich mein, da gibt's doch Zulassungsbestimmungen, und das versteh ich jetzt gar nicht."

Nicht der einzige Fall, bei dem die Arzneimittelbehörde durch Abwarten Patienten in Gefahr bringt. Verlangen Betroffene schließlich Aufklärung, um einen Pharmakonzern zu verklagen, müssen sie auch noch gegen die Behörde kämpfen.

Das zeigt der Fall des Malaria-Medikaments Lariam. Viele schlucken es als Malaria-Prophylaxe für den Urlaub. Auch Tausende von deutschen Soldaten mussten es für die Auslandseinsätze einnehmen. Immer wieder erhielt die Arzneimittelbehörde Berichte über schwere psychische Nebenwirkungen wie Psychosen, Halluzinationen, Depressionen bis hin zu Selbstmorden.

So erging es auch diesem Familienvater. Für eine Asienreise nahm er Lariam. Nach dem Urlaub schloss er noch wichtige Verträge für die Zukunft ab, in der Mittagspause nahm er sich dann das Leben.

Der Anwalt Wolfgang Kunze vertritt die Familie des Verstorbenen. Sie sehen beim Mittel Lariam die Ursache der Tragödie. Anwalt Kunze beantragte Akteneinsicht in die Unterlagen der Arzneimittelbehörde.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Wir wollten nachsehen: Gab es Hinweise darauf, dass dieses Medikament Selbstmord auslösen kann."

Doch die Arzneimittelbehörde weigerte sich. Es ging vor Gericht, erst nach 5 Jahren bekam der Anwalt endlich Akteneinsicht. Dabei erlebte er eine Überraschung.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Als wir die Akten vorgelegt bekommen haben, mussten wir feststellen, dass die Akten nicht mehr vollständig gewesen sind. Der Pharmaunternehmer hatte die Gelegenheit vor uns die Akten zu durchforsten."

Vertreter vom Pharmakonzern Roche sortierten vorher Unterlagen aus, die sie als Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis deklarierten. Ein pharmafreundliches Gesetz macht das möglich.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Für mich als Vertreter meiner Mandantin war natürlich ärgerlich, dass ich nicht sehen konnte, was denn entnommen worden ist. Was war der Inhalt der Seiten, die entnommen wurden? Waren es tatsächlich Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse oder war es etwas anderes?"

Am Ende entscheidet die Arzneimittelbehörde selbst, welche Unterlagen herausgegeben werden oder nicht.

Erst im September diesen Jahres kommt heraus: Die Behörde wusste seit vielen Jahren vom Selbstmordrisiko unter Lariam. Doch der Hersteller Roche konnte das Risiko im Beipackzettel trotzdem ein Jahrzehnt klein reden:
So hieß es, es sei …
„... kein Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels nachgewiesen …"

Erst seit neuestem ist dieser Satz im Beipackzettel gestrichen. Dazu erklärt die Behörde: man habe „Unstimmigkeiten" beim Pharmakonzern festgestellt.
Viel zu spät wurde das Selbstmordrisiko überprüft und ausreichend transparent gemacht.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Es ist selbstverständlich eine sehr klare, eindeutige Forderung, auch der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dass alle Daten über Arzneimittel offen und transparent und frei zugänglich sein müssen. Und da dürfen auch keinerlei Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse angeführt werden, denn das Patientenwohl steht hier ganz klar im Vordergrund."

Wolfgang Nandke fühlt sich allein gelassen - mit dem, was ein Medikament aus seinem Leben gemacht hat.

Wolfgang Nandke
„Das hätte nicht sein müssen, dass ein Mensch durch dieses Medikament so doll aus der Bahn geworfen wird. Dass in meinem Fall eben alles, fast alles, den Berg lang runtergeht."

 

Beitrag von Caroline Walter und Lars Otto

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Union wird ... alles tun um den ziemlich künstlichen Effekt von Niedriglohnjobs zu erhalten, um angebliche Erfolge am Arbeitsmarkt weiter vorzutäuschen

 
 
global news 2997 21-10-13:
 
Mindestlöhne von nur 8,50 Euro allein bringen keinen Wirtschaftsboom und sind doch dringend nötig
 
[via jjahnke.net]
 
 

Die Verteidiger von Mindestlöhnen sollten sich nicht mit falschen Federn schmücken, wie dem vorausgesagten starken positiven Effekt auf die Volkswirtschaft. Auch ohne den müssen Mindestlöhne schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Anstands kommen. Und um zu verhindern, daß Löhne mit Steuergeld aufgestockt und Arbeitgeber im Ergebnis subventioniert werden. Und sie müssen auch dann noch kommen, wenn einige Arbeitsplätze verloren gehen, was durchaus wahrscheinlich ist. Dabei wären 8,50 Euro pro Stunde zu niedrig, da dann auch nach 40 Versicherungsjahren nur eine kümmerliche Rente von 460 Euro herauskäme, die aus Steuergeldern aufgestockt werden müßte. In Luxemburg, Frankreich, Belgien, Niederlande und Irland liegt der Mindestlohn über 8,50 Euro und selbst unter Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede ist er in Frankreich etwas höher.

Bei der volkswirtschaftlichen Beurteilung hilft eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) . Danach würde ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde 17 % der Erwerbstätigen oder fast sechs Millionen Arbeitnehmer betreffen, die weniger als 8,50 Euro verdienen und bei denen der Bruttostundenverdienst im Durchschnitt um 35 % erhöht würde, wenn sie in derselben Beschäftigung verbleiben würden.

Das sind nach meiner Rechnung durchschnittlich 2,20 Euro pro Stunde oder bei einer durchschnittlichen Stundenzahl pro Jahr von etwa 1000 (der Durchschnitt für alle Arbeitnehmer liegt bei 1360, aber Geringverdiener haben sehr oft nur Teilzeitjobs) sind das pro Arbeitnehmer 2.200 Euro pro Jahr an zusätzlichem Verdienst, von dem sich dann die Steuer noch einiges holt. Bei 6 Mio betroffenen Arbeitnehmern wären das vor Steuer etwa 13 Mrd Euro pro Jahr. Gemessen an der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung ergäbe sich ein Plus von maximal gerade einmal 0,5 %. Dabei ist jedoch weiter zu berücksichtigen, daß dieser Personenkreis beim Einkauf zu einem erheblichen Teil auf importierte Billigware ausweicht, von der die deutsche Wirtschaft wenig hat. Man sollte also den wirtschaftlichen Positiveffekt für die Gesamtwirtschaft nicht überschätzen. Sehr viel wichtiger wäre es, das allgemeine Lohnniveau anzuheben!

Auch das DIW warnt vor übermäßigen Erwartungen: "Werden die durch einen allgemeinen Mindestlohn entstehenden zusätzlichen Lohnzahlungen in Relation zur gesamten Lohnsumme gesetzt, ergäbe sich bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro für Deutschland ein Anstieg der Bruttolöhne (berechnet anhand von Monatslöhnen, ohne Sonderzahlungen) von nominal gerade einmal drei Prozent. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wäre schon deshalb kein Kaufkraftschub zu erwarten."

Der positive gesamtwirtschaftliche Effekt von Mindestlöhnen würde weiter in dem Maße vermindert, wie es zu einer regionalen Differenzierung (z.B. Ost-West) mit entsprechender Unterschreitung von 8,50 Euro kommen sollte und wenn Arbeitsplätze verloren gehen oder die Beschäftigung auf den Schwarzmarkt (Arbeitskräfte aus Osteuropa) oder in Minijobs verlagert wird. Vor allem steigert die deutsche Wirtschaft ständig ihre Produktivität, indem Arbeit durch billigere Automaten ersetzt wird. Vor allem gering qualifizierte Jobs sind diesem Prozeß unterworfen. Seit dem Jahr 2000 ist die Produktivität um rund 14 % gestiegen, seit dem Jahr 1970 sogar um 85 % und vieles davon ist das Ergebnis des Einsatzes von Automaten. Auch das DIW neigt zur Vorsicht: "Allerdings kann ein Mindestlohn trotz konstantem beziehungsweise gestiegenem Beschäftigungsvolumen Substitutionsprozesse und eine hohe Arbeitsmarktdynamik auslösen. Damit bringt ein Mindestlohn nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervor, die aufgrund ihrer geringen Produktivität beziehungsweise Entlohnung die eigentlichen Adressaten des Minimallohns waren."

Die in Deutschland nachgefragte Zahl an Arbeitsstunden ist seit 1991 auch wegen der Automatisierung weiter zurückgegangen. Sie wäre noch stärker gefallen, wenn Deutschland nicht einen wuchernden Niedriglohnsektor aufgebaut hätte. Mindestlöhne würden einen nicht zu quantifizierenden Teil dieser Jobs wieder zurücknehmen. Das ließe sich nur verhindern, wenn entweder die Wochenarbeitszeit verkürzt würde oder die Lebensarbeitszeit nicht durch Verschiebung des Renteneintrittsalters noch verlängert würde oder wenn durch ein weit besseres Bildungssystem die Zahl der niedrig Qualifizierten vermindert würde oder wenn Dumpingimporte aus Niedrigstlohnländern, wie China, verhindert würden oder wenn der Produktivitätsfortschritt zum Ausgleich dafür, daß Automaten keine Sozialversicherungsbeiträge erbringen, besteuert würde. Doch das sind alles Schritte, an die derzeit niemand denkt.

Auch denkt niemand in der deutschen Politik an das skandinavische Vorbild. Der Niedriglohnanteil liegt beispielsweise in Schweden bei 2,5 % gegenüber 22,2 % in Deutschland (Abb. 15972, 18223). Das wird durch von den Gewerkschaften vereinbarte Mindestlöhne - also keine gesetzlichen Mindestlöhne - erreicht. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist dort erheblich höher (Abb. 18204, 15690), während in Deutschland bei niedrigem Organisationsgrad auch noch die Tarifbindung der Unternehmen immer mehr absinkt (Abb. 17018). Hinzu kommt eine in Skandinavien viel niedrigere Lohndiskriminierung der Frauen (Abb. 14224s).

Zudem senkt das weit bessere skandinavische Bildungssystem den Anteil der gering Qualifizierten. Der Anteil der Bevölkerung mit Hochschulbildung ist weit höher als in Deutschland (Abb. 18145s). Anders als das deutsche, sind die skandinavischen Schulsysteme auf Aufstieg programmiert. Der Anteil der jungen Erwachsenen, die ein höheres Bildungsniveau erreichen als ihre Eltern, ist höher als der Anteil der jungen Erwachsenen, die ein geringeres Bildungsniveau erreichen, bei Schweden z.B. um 34 %. In Deutschland ist dies jedoch nicht der Fall: 20 % der 25- bis 34-Jährigen, die nicht mehr an Bildung teilnehmen, ist es gelungen, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen als ihre Eltern, wohingegen 22 % dieser Altersgruppe ihre Ausbildung mit einem niedrigeren Niveau abgeschlossen haben (Abb. 15954s).
Der öffentliche Beschäftigungsanteil von Bildung, Gesundheits- und Sozialarbeit, andere Gemeindearbeit, soziale und persönliche Dienste ist in Skandinavien mit über 30 % um 8 Prozentpunkte höher (Abb. 13675, 18198). In den öffentlichen Bereichen ist auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad besonders hoch. Schwerpunkt sind soziale und kulturelle Dienstleistungen aller Art, die der Gesamtbevölkerung zur Nutzung offen stehen. Für die Akzeptanz der hohen Abgabenlast bei aufstrebenden Mittelschichten ist das öffentliche Dienstleistungsangebot sehr wichtig, weil z.B. jeder Bürger weiß, egal was passiert, bei Bedarf und im Alter habe ich gegenüber meiner Kommune Anspruch auf hochwertige ambulante wie stationäre Pflegeleistungen.
Die Union wird wahrscheinlich alles tun, um den ziemlich künstlichen Effekt von Niedriglohnjobs zu erhalten, um angebliche Erfolge am Arbeitsmarkt weiter vorzutäuschen.

Worauf es in Deutschland vor allem ankommt, ist eine Anhebung des allgemeinen Lohnniveaus kombiniert mit einem weit sozialeren Steuersystem. Man kann nur hoffen, daß flächendeckende Mindestlöhne auch zu einer Anhebung des allgemeinen Lohnniveaus beitragen würden. Wichtiger noch wäre allerdings eine Korrektur an Hartz-4, weil der Absturz auf Sozialhilfeniveau nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit der Hauptdruckpunkt ist, der die Arbeitnehmer motiviert, sich mit niedrigeren Löhnen abzufinden und die Gewerkschaften entsprechend schwächt.

 



Dienstag, 22. Oktober 2013

--->>> Die nützliche Armut -> Konferenz zur Armut heute... Alternativen gg. Fortführung eines nützlichen Zustands

Die nützliche Armut
 
[via rosalux.de]
 
 
 
 
Tagung / Konferenz
23.11.2013 | ganztägig

Universität Wuppertal, Campus Freudenberg, Hörsaalzentrum, Wuppertal

Mit Prof. Dr. Heinz Sünker, Prof. Dr. Helga Spindler, Dr. Rudolf Martens, Prof. Dr. Michael Vester, Prof. Dr. Klaus Dörre, Prof. Dr. Stefan Selke, Gabriele Zimmer (MdEP), Michaela Hofmann, Martin Behrsing, Guido Grüner, Michael Bättig, Frank Jäger, Kathrin Hartmann, Wolfgang Storz

 

Konferenz zur Armut heute: Begriffliche Bestimmung, Tiefenschau und Alternativen gegen die Fortführung eines nützlichen Zustands

Foto von Hans-Dieter Hey

zum Flyer

http://www.nrw.rosalux.de/fileadmin/ls_nrw/dokumente/veranstaltungswerbung/rlsnrw_armutskonferenz-flyer_WEB.pdf

„Uns geht es doch gut" – beruhigt die Kanzlerin mit Blick auf die grassierende Verelendung in anderen EU-Staaten. „Uns" – das sind diejenigen in gut bezahlten und sicheren Beschäftigungsverhältnissen und die ohnehin reichen Gewinner der großen Umverteilung. Und die von allen etablierten Parteien getragene Agenda 2010 habe doch wirtschaftliche Erfolge gebracht, von denen letztlich alle profitieren würden: die Deregulierung der Arbeitswelt, die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und die Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme.

Doch  tatsächlich hat sich die Armut verschärft, bei Arbeitslosen, Rentner/innen und Grundsicherungsbeziehenden genauso wie bei Arbeitnehmer/innen. Nicht nur ungelernte Arbeitnehmer/innen sind betroffen, sondern auch Facharbeiter/innen in der Leiharbeit, Dienstleister/innen und Akademiker/innen. Von der Armut bzw. Mittelkürzungen betroffen sind auch die „Armutsverwalter" in staatlichen Behörden und Sozialleistungsträger, die ihrerseits bei ihren Aufträgen zu wenig zahlen. 

Armut ist kein Betriebsunfall, sondern sie scheint systemnotwendig in der „Wettbewerbsgesellschaft": Als Kehrseite des Reichtums und als Druckmittel und Drohung bis weit hinein in die Mittelschichten.  Wie gehen wir damit um?

Kinderbetreuung mit Programm ab 10 Uhr

Programm

10:00     Eröffnung, Begrüßung
               Prof. Dr. Heinz Sünker, Karl-Heinz Heinemann

10:15      Armut ist was…? Der Armutsbericht ist tot!
Sinn und Unsinn von amtlichen Armutsberichten.
Dr. Rudolf Martens, Leiter Forschung, Paritätische Forschungsstelle, Berlin

11:00      Prekarität und Armut in der Sozialstruktur
Prof. Dr. Michael Vester, TU Hannover  

12:00 Parallelvorträge

  • Sozialer Abstieg und Armut in Fremdzuschreibung und Selbstzeugnissen Prof. Dr. Klaus Dörre,  Uni Jena
  • Armut als notweniger Antrieb? Armut und Entrechtung im aktivierenden Sozialstaat.
    Prof. Dr. Helga Spindler, Köln

13:00 Mittagspause

14:00 parallele Workshops

  • Die Tafelbewegung: Bürgerschaftliches Engagement als Mittel zur Armutsbekämpfung oder zur Entrechtung?
    Prof. Dr. Stefan Selke, Hochschule Furtwangen
  • Europa 2020: Wie die europäische Krisenpolitik Armut produziert
    Gabriele Zimmer, MdEP

15:30 Kaffeepause

16:00  Strategien im Umgang mit Armut und Möglichkeiten der Selbstorganisation

  • Armutsbekämpfung – Armutslinderung – Einbezug von Betroffenen. Möglichkeiten und Grenzen der verbandlichen Arbeit
    Michaela Hofmann, bis März 2013 stellv.  Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz,  Referentin für Armutsfragen beim Diözesan-Caritasverband Köln
  • Projekte und Praktiken von Erwerbslosengruppen im Alltagskampf gegen Armut und Marginalisierung
    Martin Behrsing (Erwerbslosenforum) und Frank Jäger, (Tacheles e.V. sowie  Guido Grüner und Michael Bättig (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg).

17:30

    • Das Bild der Armut in der Öffentlichkeit
      Kathrin Hartmann, 
      freie Journalistin, Autorin von "Ende der Märchenstunde" und "Wir müssen leider draußen bleiben - Die neue Armut in der Konsumgesellschaft"
    • Portionierte Armut: Thematisierung der Armut in den Medien
      Wolfgang Storz,
      Medien- und Kommunikationsberater, ehem. Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau", zusammen mit Hans-Jürgen Arlt Autor der RLS-Studie „Portionierte Armut, Blackbox Reichtum"

19:00   Ende der Konferenz

 
 
 
 
 
 
 



Donnerstag, 17. Oktober 2013

Empörung über Managergehälter werde umgelenkt in Idealisierung + Romantisierung d. mittelständischen Unternehmer

 
 
 
 

Die Empörung über die Managergehälter werde gleichzeitig umgelenkt in eine Idealisierung und Romantisierung der mittelständischen Unternehmer, so dass in der Vorstellung vieler Deutscher inzwischen der Klassenkampf zwischen dem „guten" mittelständischen Unternehmer gegen die „bösen" Konzerne und ihre Manager stattfinde (98).
 
 
[Ulrike Herrmann - Hurra, wir dürfen zahlen - DER SELBSTBETRUG DER MITTELSCHICHT (2010)]
 

Hartz IV transportierte die unterschwellige Botschaft, dass die Steuern vor allem an die Unterschicht umverteilt würden.

 
 
 
 

Hartz IV verlagerte die Schuld an der Arbeitslosigkeit auf die Arbeitslosen und transportierte die unterschwellige Botschaft, dass die Steuern vor allem an die Unterschicht umverteilt würden.
 
 
[Ulrike Herrmann - Hurra, wir dürfen zahlen - DER SELBSTBETRUG DER MITTELSCHICHT (2010)]
 


Zur Vertiefung zum Businessdonnerstag! -->> #Die #unendliche #Leistungsträgerlüge<<-- (Nachdenkseiten)

 

 
 
 

Die unendliche Leistungsträgerlüge

Heiner Flassbeck hat sich, angestoßen von Äußerungen Peter Sloterdijk wie in einem gerade erschienen Interview in der Süddeutschen Zeitung

 („Wider die Verteufelung der Leistungsträger"), mit diesen obskuren Vorstellungen auseinandergesetzt. Unten finden Sie Flassbecks Beitrag.

Ich halte Sloterdijk für einen mit Steuergeld besoldeten Ignoranten. Er beschäftigt die öffentliche Debatte mit albernen Vorstellungen

(„Gaben- und Spendencharakter der zivilen Steuer") und eine sich für seriös haltende Zeitung wie die SZ bietet ihm wieder einmal Raum. Albrecht Müller

Die unendliche Leistungsträgerlüge

Von Heiner Flassbeck

Ein Diskussionsbeitrag für die Nachdenkseiten

(Eine kürzere Version dieses Artikels erschien in „Wirtschaft und Markt" im Januar 2010)

Es gibt Geschichten, die kann man hundert oder gar tausend Mal erzählen und die Zuhörer bekommen dennoch nie genug davon. Das sind in der Regel schöne Geschichten. Die Zuhörer beginnen jedes Mal von Neuem zu träumen von einer heilen Welt, in der ein wunderbar freundlicher Herrscher nur an einem einzigen kleinen Schräubchen dreht und schon fließt der Honig in Strömen und die Tauben braten sich im Fluge selbst.

So ist es mit der unendlichen Steuer- und Leistungsträgergeschichte. Seitdem das Wirtschaftswunder Anfang der 70er Jahre brutal sein Ende fand, wird von unseren Politikern immer wieder, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, die schöne Geschichte von den magischen Steuersenkungen erzählt. Man müsse die Steuern für die „Leistungsträger" senken und schon sei alles gut. Leistungsträger, das sei nämlich die Spezies von Mensch, die - gut ausgebildet und leistungsfähig - gerne ihr Bestes geben würde, aber unter der Abgabenlast des Staates so ächzt, dass sie viel weniger "Leistung" erbringt, als eigentlich von ihr zu erwarten wäre. Nähme der Staat seine Last nur weg, wäre der Rest ein Leichtes und die Wirtschaft florierte.

Die Geschichte ist so schön, weil sie immer funktioniert, ganz gleich wie viel Last der Staat schon weggenommen hat. Immer wird es einen Politiker oder einen besonders klugen Philosophen wie Peter Sloterdijk geben, der sagt „es ist immer noch zu viel". Da die Mehrheit der Politiker seit vielen Jahren an die Geschichte glaubt, haben sie die Steuerbelastung für die Leistungsträger schon mächtig reduziert, also etwa von einem Steuersatz für die Menschen mit den höchsten Einkommen von 56 Prozent auf 42 Prozent. Da ächzt der Leistungsträger zwar etwas weniger, aber die Bürde des Staates drückt noch immer schwer.

Also weiter runter mit den Sätzen. 35 Prozent will die Partei der Leistungsträger jetzt, aber warum soll das reichen? Wer „Leistung" bringt, wird immer noch bestraft mit dem Höchstsatz! Wo ist die Logik? Warum sollen diejenigen, die schon die "Leistung" bringen, auch noch die größte Last für den Staat tragen? Der Leistungsträger trägt doch schon die Gemeinschaft, die in der sozialen Hängematte also, warum sollte er noch mehr tun?

Nein, der Leistungsträger muss richtig entlastet werden und das heißt, er muss weniger zahlen als diejenigen, die keine „Leistung" bringen. Eigentlich muss er absolut entlastet werden, weil er ja schon die "Leistung" trägt.

Wenn man aber die vollkommen entlastet, die „Leistung" bringen, woher bekommt der Staat dann das Geld für die Justiz, für die Polizei, für die Verteidigung, für die Strassen und für die Bildung? Offenbar von den anderen. Wer aber sind die anderen? Die Nicht-Leistungsträger!

Die haben dummerweise aber keine Einkommen, weil sie ja keine „Leistung" erbringen. Dann gibt es aber keinen Staat, jedenfalls gibt es niemand, der die Polizei, die Verteidigung, die Strassen oder die Bildung kostenlos zur Verfügung stellt. Das müssen die Leistungsträger dann einzeln bezahlen, wenn sie es haben wollen, und die anderen gucken in die Röhre.

Welchen Anteil von ihrem Einkommen zahlen dann die Leistungsträger für ihre Justiz, ihre Verteidigung, für ihre Strassen, ihre Polizei und die Bildung ihrer Kinder, nicht zu vergessen der Preis für die hohen Mauern, die sie bauen müssen, um sich und ihre Kinder vor denen zu schützen, die keine „Leistung" bringen und kein Einkommen haben? 35 Prozent oder 42 oder doch gar 53 Prozent?

Wie ist das dann mit der zusätzlichen Belastung für die privaten Justiz-, Sicherungs- und Bildungsdienste? Kommt dann Sloterdijk und spendet Trost nach dem Motto: Niemand nimmt dir Leistungsträger etwas unter Zwang und ungerechtfertigt ab, also ertrage die Kosten ohne zu klagen?

An dieser Stelle spätestens erkennt auch der vorletzte Philosoph, wie dumm und falsch das Bild von den Leistungsträgern ist. Eine moderne marktwirtschaftliche Ordnung ist nämlich gerade kein System, das davon lebt, dass eine „Handvoll Leistungsträger" Spitzenleistungen erbringt und daraus sich die Einkommen aller anderen ergeben. Eine moderne Marktwirtschaft ist ein System der Arbeitsteilung, der Spezialisierung des Einzelnen also, in dem das Gesamtergebnis keineswegs mehr der Leistung eines einzelnen oder einiger weniger zugerechnet werden kann. Praktisch alles, was produziert wird, ergibt sich aus einem komplexen Zusammenspiel vieler Leistungen, die zum Teil in der Gegenwart, zum Teil aber auch in der Vergangenheit erbracht worden sind.

 

Dass die Leistungen unterschiedlich entgolten werden, hängt allein mit der Knappheit der „Leistungsträger" oder ihrer Marktmacht zusammen, in einer Marktwirtschaft aber gerade nicht mit ihrer „Leistung" in irgendeinem vernünftig zu interpretierenden Sinne.

Wer Tennisbälle sicher über ein Netz schlagen kann, schnell mit einem Auto im Kreis fährt oder populäre Liedchen trällert, wird in der „Leistungsgesellschaft" schon vor Erreichen des dreißigsten Lebensjahres mit einem ungeheuren Vermögen entlohnt. Wie sinnvoll diese "Leistung" ist, wird nicht einmal gefragt, weil sich die westliche Gesellschaft, freilich ohne zu wissen, was sie tut, im Zuge der neoliberalen Revolution für ein Knappheitsprinzip ohne wenn und aber entschieden hat. Derjenige dagegen, der sein Leben lang die Böden in Universitäten und Betrieben schrubbt, muss statt eine ordentliche Rente zu erhalten, am Ende zum Sozialamt betteln gehen. Noch schlimmer, wer für die Gesellschaft vollkommen unproduktive Geschäfte tätigt, also z. b. auf den Finanzmärkten die Preise für Rohstoffe oder Währungen hoch treibt, weil er und viele seiner Kumpane darauf mit Schulden gewettet haben, erbringt offenbar eine „Leistung" in der Sloterdijkschen FDP-Welt.

Auch wenn dabei schließlich das gesamte System zu kollabieren droht und der kleine Putzmann für die Verluste haften muss, ist der Spieler nach Sloterdijk ein Leistungsträger, weil an dem von ihm selbst aufgeblasenen Spekulationsballon so viel verdient hat, dass er - selbst wenn er brav seine Steuern bezahlt - danach nie wieder arbeiten muss. Das ist nicht die Leistung, die eine Gesellschaft trägt! Weil in einer Marktwirtschaft gerade nicht Leistung belohnt wird, ist es gerechtfertigt und notwendig, dass der Staat wesentlich mehr von denen verlangt, die durch glückliche Umstände, Privilegien oder die inhärente Knappheitslogik des Systems überdurchschnittlich „entlohnt" worden sind.

Unabhängig davon ist der Staat einer der wichtigsten Vorleister des Systems. Ganz gleich, ob er durch verbesserte Infrastruktur, Rechtssicherheit, mehr Bildung, äußere Sicherheit oder auch durch sozialen Frieden mithilfe einer menschenwürdigen sozialen Absicherung zur Gesamtleistung beiträgt, er ist ein Vorleister wie alle anderen und muss vernünftig bezahlt werden. Bei keinem anderen Vorleister kämen Philosophen und andere Ideologen auf die Idee, die Bezahlung generell in Frage zu stellen, ohne über den Wert und die Qualität der Vorleistung zu reden. Nur beim Staat wird die einfache, aber fundamentale Tatsache der Vorleistung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ignoriert oder von ideologischen Debatten überlagert. Sloterdijk hat es nun sogar geschafft, Freiwilligkeit der Leistungen der Leistungsträger an den Staat ins Spiel zu bringen (SZ vom 5.1.2010). Klar, in der Zukunft gehen wir zur Bank und bieten eine freiwillige Spende für die dort erbrachten Dienstleistungen an, oder wir finanzieren Professoren nur noch aus Spendengeldern. Fragt sich nur, wer den Beruf des Professors noch ergreifen würde, wenn dessen Entlohnung von der Lust und Laune irgendwelcher "Leistungsträger" abhinge?

Leistungsträger in einem funktionierenden und auf lange Sicht erfolgreichen Team sind alle, selbst wenn ab und an der eine oder der andere einen besonders guten Tag hat. Wer die Beiträge der Einzelnen zur Bezahlung der Vorleistungen des Staates in einer arbeitsteiligen Gesellschaft diskutieren will, sollte ehrlich sein und offen die Frage stellen, ob die Armen oder die Reichen - absolut und proportional - mehr beitragen sollen. Da werden sich sicher auch die Geister scheiden. Die dümmliche Phrase von den Leistungsträgern, die ja nur zur Verteidigung der Reichen vorgebracht wird, kann man sich dann aber getrost schenken.