Unseren täglichen Fachkräftemangel gib uns heute!
Wirtschaftslobbyisten müssen sich nicht sorgen, dass die Vierte Macht im Staat ihr Stoßgebet erhört. Deutschlands Medien streuen immer wieder kritiklos die Ergebnisse sogenannter Studien von INSM, IW, Bertelsmann Stiftung & Co. unters Volk
Der NSA-Überwachungsskandal war noch frisch, da bezeichnete der amerikanische Linguist und Polit-Aktivist Noam Chomsky in einem Zeit-Interview die durch Propaganda bewirkte "gewollte Sprachverdrehung" als "eine viel schlimmere Form von Kontrolle als die Kontrolle über persönliche Daten, auch wenn die schon schlimm genug ist". Als Beispiel nannte Chomsky die amerikanische Steuerdebatte. Hierzulande erscheint die Propaganda vom "Fachkräftemangel" noch eindrucksvoller.
Die Fachkraft ist längst allgegenwärtig. Auf der Toilette einer Autobahnraststätte begegnet sie uns in Gestalt der "Sanifair Service-Fachkraft". Hochspezialisierte Akademiker werden ebenso als Fachkraft bezeichnet wie Absolventen einer Kurzausbildung zum Altenpflegehelfer.
In der Liste der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe kommen alte Berufe wie Schornsteinfeger, Konditor oder Parkettleger durchwegs ohne den Zusatz "Fachkraft" aus. Unter F wie Fachkraft finden sich vorwiegend neuere Ausbildungsgänge wie die früher als Umzugshelfer bekannte "Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice", die "Fachkraft für Automatenservice" (Automatenbefüller) oder die "Fachkraft für Schutz und Sicherheit" (Wachleute). Die bekanntlich stetig wachsende Komplexität einfacher Tätigkeiten erfordert offenbar entsprechend komplexe Berufsbezeichnungen.
So allgegenwärtig wie die Fachkräfte ist auch der Mangel, der angeblich an ihnen besteht. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in den Medien irgendwelche Studien irgendwelcher "Experten" mit stets alarmierenden Zahlen veröffentlicht werden. Die Propaganda vom Fachkräftemangel ist eingebettet in eine große Erzählung, die lautet: "Deutschland geht es gut", die Wirtschaft "brummt", die "Vollbeschäftigung" steht vor der Tür. Wir gehen scheinbar goldenen Zeiten entgegen. Doch Unheil dräut am Horizont: der "demographische Wandel" und der unausweichlich damit verbundene "Fachkräftemangel".
Um das Unheil abzuwenden, brauchen "wir" vor allem mehr Zuwanderung, eine "längere Lebensarbeitszeit" (= eine weitere Heraufsetzung des Renteneintrittsalters), eine "bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und generell eine Vergrößerung des Arbeitskräftereservoirs, sagen die "Experten". Dummerweise hält sich die Zustimmung in der Bevölkerung zu den ersten beiden Rezepten in Grenzen, wie diverse Umfragen belegen.
Eine Befragung zum Fachkräftemangel selbst, der doch als unumstößliche Tatsache gilt, sollte sich eigentlich erübrigen. Erstaunlicherweise berichtete die Zeit kürzlich unter dem Titel "Experten dringend gesucht" über eine Meinungsumfrage zu diesem Thema. Die Quintessenz:
Gehen Deutschland schon bald die Fachkräfte aus? Solange es viele Arbeitslose im Land gab, interessierte diese Frage kaum jemanden. Inzwischen aber sind über achtzig Prozent der Deutschen überzeugt: In den kommenden Jahren werden Fachkräfte fehlen.
So ganz nebenbei erfahren wir also, dass es inzwischen nicht mehr "viele" Arbeitslose gibt. Das scheint ein willkommener Nebeneffekt des Fachkräftemangels zu sein: Man kann sich die leidigen Diskussionen über Arbeitslosigkeit und Niedriglohnjobs sparen. Skeptisch stimmt nur die schwammig formulierte Fragestellung. Warum wurde nach der Entwicklung "in den kommenden Jahren" gefragt, wo doch so viele Unternehmen angeblich schon heute "händeringend" nach Fachkräften suchen?
Dankenswerterweise enthält der Zeit-Artikel einen Link zur Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung, die die Umfrage eine Telefonbefragung mit 1004 Befragten in Deutschland und 500 in Österreich beim Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid in Auftrag gegeben hat. Darin heißt es:
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels sind vier von fünf Bundesbürgern überzeugt: Deutschland werden in den nächsten Jahrzehnten die Fachkräfte ausgehen.
Nun macht es schon einen Unterschied, ob nach Jahren oder nach Jahrzehnten gefragt wurde, ebenso ob eine unbestimmte Zahl an Fachkräften fehlen wird oder ob uns gleich "die Fachkräfte ausgehen". Auf Anfrage verrät eine Sprecherin der Bertelsmann Stiftung den genauen Wortlaut der Frage: "Was meinen Sie: Werden in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten viele Fachkräfte fehlen?"
Ja, wer möchte bei so einer Frage nicht lauthals zustimmen? Wer kann schon ausschließen, dass 2020, 2030 oder vielleicht auch erst 2040 "viele" Fachkräfte fehlen? Vor allem aber: Wer will schon zu der kleinen Minderheit der Unwissenden gehören? Wir wissen es nicht. Vieles spricht aber dafür, dass es deutlich mehr sind, als die Emnid-Umfrage suggeriert. Ein starkes Indiz ist die manipulative Fragestellung. Schon bei einer Umfrage zu Steuererhöhungen hatte TNS Emnid mit solchen Mitteln Ergebnisse erzielt, die dem Auftraggeber in diesem Fall die Inititative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) sicher gefallen haben dürften (Ergebnis einer INSM-Umfrage: "91 Prozent gegen Steuererhöhung"). Andere Studien erbrachten ganz andere Ergebnisse.
Bei Emnid wird man das geahnt haben. Das Vertrauen in die Fachkräftemangelgläubigkeit der Deutschen kann wohl nicht allzu groß gewesen sein, denn sonst hätte man auch fragen können: "Glauben Sie, dass 2015 in Deutschland 3 Millionen und 2020 bis zu 6 Millionen Fachkräfte fehlen werden, wie diverse Studien ergeben haben?"
Ein Fachkräftemangel könnte auch etwas Gutes haben
Ein weiteres Indiz ist das anhaltende mediale Trommelfeuer zu diesem Thema. Der Nachrichtenwert ist meist gering, denn es wird ja stets die gleiche Botschaft verbreitet, doch immerhin sind die Zahlen stets neu und aufsehenerregend, werden sie doch von den PR(opaganda)-Strategen und ihren Zuarbeitern aus den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten stets mit neuen, kreativen Formeln hochgerechnet. Die Wiederholung einfacher Botschaften ist bekanntlich das Grundrezept jeglicher Propaganda, doch sobald die Propaganda die erwünschte Wirkung zeigt, sollte die Frequenz normalerweise abnehmen.
Drittes Indiz: Wer gelegentlich durch die Kommentarspalten unter den betreffenden Artikeln scrollt, egal ob in der taz oder in der FAZ, stellt fest, dass die große Mehrheit der Online-Kommentatoren den Fachkräftemangel für eine Fata Morgana hält, ähnlich wie der Ökonom Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wenn gerade einmal keine neue "Studie" zur Verfügung steht, wird Brenke von unseren Qualitätsmedien gerne einmal zum Interview eingeladen.
Regelmäßig macht er dann darauf aufmerksam, so wie hier, dass es mit dem Fachkräftemangel nicht so weit her sein kann, wenn die Löhne kaum steigen. Denn in einer Marktwirtschaft schlage sich die Knappheit eines Guts üblicherweise in höheren Preisen nieder. Angesichts der enorm gestiegenen Absolventenzahlen in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern warnt Brenke sogar vor einer Fachkräfteschwämme. Die zunehmende Beschäftigung von Ingenieuren als Leiharbeiter (Ingenieure als Leiharbeiter) und die Herabsetzung des Mindesteinkommens für ausländische Ingenieure und IT-Experten auf 35.000 Euro im Jahr hält er für Belege, dass es in Wahrheit vor allem darum geht, Löhne zu drücken.
Es ist sicher kein Zufall, dass Emnid nicht danach gefragt hat, ob außer Zuwanderung vielleicht auch Lohnsteigerungen oder bessere Arbeitsbedingungen den Mangel lindern könnten, etwa in der Altenpflege oder im Gesundheitssektor, zwei der von den Befragten am häufigsten genannten Bereiche. Warum wohl zieht es deutsche Fachkräfte in diesem Bereich vor allem in Länder wie die Schweiz oder die USA, während der Ersatz für sie in Rumänien, Kasachstan oder China angeheuert wird?
Gift für die Propaganda wäre es, wenn nicht nur auf den Nachdenkseiten oder Telepolis, sondern auch in den etablierteren Medien öfter die naheliegenden Zusammenhänge zwischen Zu- und Abwanderung und die Gründe dafür dargestellt würden. Möglicherweise käme der Eine oder Andere dann sogar auf die Idee, dass Fachkräftemangel auch sein Gutes haben könnte, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zum Beispiel. Ja, es könnte gar die Erkenntnis reifen, dass Fachkräftemangel, wenn es ihn denn gibt, zuallererst ein Problem der betroffenen Unternehmen ist und erst dann eines der Gesellschaft, wenn die Unternehmen ihren Teil dazu getan haben.
Doch um solche Gedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen, gibt es ja die große Erzählung vom demographischen Wandel, der unweigerlich zum Fachkräftemangel führt, der wiederum nur durch eine Vergrößerung des Arbeitskräftereservoirs behoben werden kann.
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