Samstag, 13. Februar 2016

vertiefend -->> "Sie müssen es nicht verstehen, Sie müssen es nur verkaufen" -->> [Vertriebssteuerung in Banken]

 
 

 
"Sie müssen es nicht verstehen, Sie müssen es nur verkaufen"
ISBN 978-3-8360-8719-3

lesenswert!! --->>> #neoliberale #Revolution #von #oben [via NACHDENKSEITEN] so tagesaktuell

 

 
 

 Die Revolution von oben

 

 
[via Nachdenkseiten]
 
 
 

Markus Grill, stern, 17. Dezember 2003

Vor vier Jahren las Arbeitgeberpräsident Martin Kannegiesser eine Meinungsumfrage, die ihn ärgerte. Darin stand, dass die Bevölkerungsmehrheit Wirtschaftsbosse für egoistisch hält, für Leute, die "nur an ihre eigenen Interessen" denken und "kein Verständnis für die Sorgen der kleinen Leute" haben. Der Arbeitgeberpräsident raufte sich die verbliebenen Haare und fragte sich: Was tun? Kannegiesser hoffte damals, dass Kanzler Schröder endlich die von der Wirtschaft ersehnten Sozialreformen anpackt – und nun diese Umfrage! 67 Prozent der Befragten verbanden mit dem Wort Reform "Befürchtungen" oder "Skepsis". Beim Stichwort soziale Marktwirtschaft fiel den Leuten im Osten vor allem "Egoismus" und "Ausbeutung" ein. Kannegiessers Fazit: "Das, was die Bevölkerung will, und das, was die Führungskräfte in der Wirtschaft für notwendig hielten, klaffte himmelweit auseinander."

Was sollte der Boss der Metall-Arbeitgeber tun? Aufgeben? Alle Hoffnungen fahren lassen, dass Rot-Grün einen wirtschaftsfreundlichen Kurs einschlägt? Gar auswandern, seine Waschmaschinenfirma gleich mit nach Asien verlagern? Oder hier bleiben und sich ein anderes Volk suchen? Der milde lächelnde Kannegiesser entschied sich für Letzteres. Weil man 82 Millionen Menschen nicht einfach auswechseln kann, griff er zu einer List. Er wollte die Leute ein bisschen umerziehen. "Aufklären" nennt er das. Ihnen mit schlauen Parolen die Notwendigkeit von radikalen Reformen einhämmern, sie mit Plakaten, Anzeigen und TV-Spots überschütten, auf dass die Leute die Wünsche der Wirtschaft als ihre eigenen begreifen. Kannegiesser, 62, und die Bosse von Gesamtmetall waren sich rasch einig, dass man "viel Geld in die Hand nehmen" müsse, um eine PR-Maschine für ein wirtschaftsfreundliches Klima zum Laufen zu bringen. Kannegiessers Argument: "Wir als Metall- und Elektroindustrie sind wie keine andere in die Weltwirtschaft eingebunden. Wir sind also viel stärker darauf angewiesen, dass sich die Produktionsbedingungen für Unternehmen verbessern."

50 Millionen Euro machte Gesamtmetall locker und gründete damit im Jahr 2000 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Das war der Auftakt. Seitdem folgen Reforminitiativen ohne Ende. Sie heißen Bügerkonvent, Klarheit in die Politik, Marke Deutschland, Deutschland packt's an oder, jüngstes Beispiel, Konvent für Deutschland, eine Initiative von Roland Berger, 66, und Hans-Olaf Henkel, 63, mit Roman Herzog, 69, als Galionsfigur. Es ist eine außerparlamentarische Opposition von oben. Angeführt von alten Männern wie dem Ex-Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer, 72, die lange Zeit für die Entwicklung der Republik verantwortlich waren. Die Old Boys wollen die Köpfe und Herzen der Bevölkerung verändern und sie zu Wirtschaftsreformen überreden. Dabei ist die Agenda 2010 für sie erst der Anfang eines viel weiter gehenden Abbaus staatlicher Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Ihr Einfluss geht mittlerweile so weit, dass von Sabine Christiansen bis Maybrit Illner keine Talkshow mehr ohne sie auskommt.

Die Finanziers der Propaganda bleiben dabei gern im Hintergrund. So wollte auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall bei der INSM nicht selbst die Reformbotschaften verkünden. Allzu leicht hätte man Einseitigkeit unterstellt. Deshalb wurde ein Kuratorium gegründet, in dem Edmund Stoiber, Oswald Metzger oder Tietmeyer vertreten sind. Das Kuratorium traf sich bis heute kein einziges Mal, aber das ist auch nicht so wichtig.

Wichtig ist dagegen, dass die Propagandamaschine auf Hochtouren läuft. Als Geschäftsführer fungieren der ehemalige Pressechef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Dieter Rath, und der Ex-Wirtschaftsjournalist Tasso Enzweiler. Die beiden legten eine flächendeckende Anzeigenkampagne auf und warben mit Sprechblasen von Lothar Späth, Uli Hoeneß, Arnulf Baring oder Roland Berger. "Deutschland kann den Aufstieg schaffen", stand da. Oder: "Der Fehler liegt im System." Das war zwar ein bisschen allgemein gehalten, störte anfangs aber nicht. Es ging ja nur darum, das Meinungsklima zu ändern. Inzwischen habe die Initiative konkrete Vorschläge erarbeitet zur Gesundheits-, Renten- und Arbeitsmarktreform, sagt Kannegiesser. Was er wirklich will, hat er oft genug deutlich gemacht: Senkung der Lohnkosten, mehr Druck auf Arbeitslose.

Im kommenden Jahr läuft die bisherige Finanzierung der INSM aus, doch Kannegiesser hat sich in seinem Verband dafür stark gemacht, der Propagandatruppe weitere 50 Millionen Euro zukommen zu lassen. Außerdem steht der INSM noch ein warmer Geldregen aus München bevor. Dort residiert im noblen Vorort Grünwald Dieter Rickert, 63, Deutschlands bekanntester Headhunter. Für das "Manager Magazin" gehört er zu den 50 einflussreichsten Männern der deutschen Wirtschaft. Der passionierte Pfeifenraucher kassiert mindestens 100.000 Euro pro Vermittlung.

Rickert sieht die Lage in Deutschland ähnlich mies wie Kannegiesser. "Das Problem sind aber nicht die Politiker, die wissen nämlich, was man machen muss. Sie trauen sich nur nicht, weil sie Angst vor den Wählern haben, die keine Reformen wollen." Deshalb will auch Rickert die Bevölkerung "aufklären". "Die Wähler haben ja letztlich keine Ahnung, was in der Republik passiert, die benehmen sich wie ein Fanclub, nicht wie ein verständiges Wahlpublikum." Dabei sei klar, was passieren müsse: Arbeitskosten runter, mehr private Vorsorge, längere Arbeitszeiten, weniger Kündigungsschutz, weniger Arbeitslosenhilfe und so weiter. "Aber die Leute sehen das immer noch nicht ein." Deshalb müsse man es ihnen ganz simpel erklären. "Politische Botschaften so wie bei der 'Sendung mit der Maus'." Die Initiative, die Rickert Anfang 2004 gründen will, soll daher "Klarheit in die Politik" heißen.

Ursprünglich wollte der Headhunter dazu bei Unternehmen eine Milliarde Euro einsammeln. Dieser Batzen sollte in einer Stiftung geparkt werden und jährlich mit Zinsen und Spenden 100 Millionen Euro zur Finanzierung der Kampagnen abwerfen. Im Juli lud Rickert 500 Unternehmer zu einem Treffen in den Bayerischen Hof in München ein, 100 erschienen. Schnell war aber klar, dass nicht genug Geld zusammenkommt. Jetzt plant Rickert eine Ministiftung, die jährlich 100 Millionen Euro Spendengelder einsammeln soll.

Die Geschäftsführung will er der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft überlassen. Sie soll mit Werbeagenturen die "optimale Ansprache für den typischen 'Bild'-Leser austüfteln". "Lichtfiguren" sollen für Glaubwürdigkeit sorgen. "Meine Traumkombination wäre neben Tietmeyer der Kardinal Lehmann und Martin Walser." Vom Kardinal ist Rickert neuerdings ganz begeistert, seit er eine Rede Lehmanns vor der INSM gelesen hat. "Elektrisiert" hat ihn vor allem der Satz, dass "die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht wachsen kann, sondern eher zurückgenommen werden muss". Rickert klatscht in die Hände: "Genau! Bei uns ist es aber exakt umgekehrt gelaufen: Immer mehr Wohlstand und trotzdem immer höhere Sozialleistungen." Die Leute müssten einfach einsehen, dass wir uns das nicht mehr leisten können. Er hält es deshalb für sinnvoll, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige zu kürzen oder die Zahl der Urlaubstage von 30 auf 21 zu verringern.

Was die Radikalität seiner Ansichten angeht, kann Rickert es mit einer weiteren Initiative aufnehmen, dem Bürgerkonvent von Meinhard Miegel, einem aus Talkshows bekannten Wirtschaftsprofessor. Miegel, 64, ist ein alter Hase im Politikbetrieb: 1977 gründete er zusammen mit Kurt Biedenkopf das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, eine neoliberale Denkfabrik. Seit 20 Jahren weist der stets in feines Tuch gekleidete Professor darauf hin, dass die Deutschen immer älter werden und deshalb die Rente in ihrer heutigen Höhe nicht mehr finanzierbar ist: "Langfristig werden wir uns nur noch eine Rente auf Sozialhilfeniveau leisten können. Für den Rest muss man selbst vorsorgen." Setzen sich Miegels Ansichten durch, nutzt das vor allem den Versicherungskonzernen – nicht zufällig ist Miegel auch Berater des von dieser Branche unterhaltenen Instituts für Altersvorsorge.

Miegels Mission ist es, der Bevölkerung klar zu machen, dass "Deutschland vor einem Umbruch in Größenordnungen steht, die die meisten noch gar nicht realisiert haben". Es gehe "beinhart und alternativlos" darum, "dass das Versorgungsniveau aus den öffentlichen Kassen zurückgeführt werden muss". Nicht nur die Rente, auch die Pflegeversicherung und die Krankenversicherung fliege uns "bald um die Ohren". Miegel verkündet seine Botschaften am liebsten in Talkshows – und am allerliebsten in Talkshows, in denen keine Arbeitslosen oder andere Betroffene sitzen. Als Miegel erfuhr, dass solche Personen in der SWR-Talkshow "Nachtcafé" auftreten würden, sagte er einen Tag vor Aufzeichnung der Sendung ab und begründete das damit, dass man "diesen Personenkreis möglichst unter sich diskutieren lassen sollte".

Miegel leidet unter "der Uneinsichtigkeit der Bevölkerung": "Die Leute lehnen völlig Unvermeidliches als unzumutbar ab", ruft er. Deshalb will er überall lokale Bürgerkonvente gründen, die Druck auf örtliche Abgeordnete ausüben sollen, damit die Politiker nicht nachlassen im Reformeifer. In Stuttgart, München und Vellmar (Nordhessen) sind schon solche Konvente entstanden.

Für Headhunter Dieter Rickert sind diese lokalen Konvente ein Grauen, keine klare Linie sei da erkennbar. Rickert erzählt genüsslich, wie er vor kurzem zu einem Abendessen eingeladen war, bei dem 20 Akademiker zusammensaßen. "Einer brachte einen Packen Unterlagen des Bürgerkonvents mit. Da hab ich mich dumm gestellt und gefragt: 'Erklären Sie doch mal, was wollen Sie eigentlich?' Da sagte er: 'Ja, so geht's doch nicht weiter in der Politik.' Weil er nicht erklären konnte, was er genau wollte, nahm ich das Manifest des Bürgerkonvents und las es vor. Die Damen gähnten, die Herren hörten zu, am Ende fragte ich, was nun konkret passieren soll? Es herrschte heillose Verwirrung."

Auch bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft rümpft man über Miegels Bürgerkonvent die Nase. Tietmeyer und Kannegiesser stören sich daran, dass der Bonner Professor die Geldgeber des Konvents verschweigt, der allein für seine groß angelegte Werbekampagne rund sechs Millionen Euro ausgab. Nach stern-Recherchen steckt der Düsseldorfer Kaufmann und CDU-Großspender Udo van Meeteren, 77, als Finanzier hinter dem Bürgerkonvent. Van Meeteren behauptet aber, nicht der einzige Spender zu sein. Er habe den Bürgerkonvent nur mit 5.000 Euro unterstützt.

Rudolf Speth, Politikwissenschaftler in Berlin und Verfasser einer Studie über den Bürgerkonvent, kritisiert die "fehlende Transparenz" und "tendenziell undemokratische Struktur" von Miegels Truppe: "Bei einer Summe von sechs Millionen Euro ist es für die Öffentlichkeit wichtig, dass sie über die Herkunft und die damit verbundene Interessenlage informiert wird." Bemerkenswert findet Speth am Bürgerkonvent auch den "Widerspruch zwischen der Parteinähe der Protagonisten und der strikten Anti-Partei-Haltung in den Texten und öffentlichen Äußerungen." Miegel gehöre "zum Kern des zentralen Netzwerks der CDU".

Kürzlich traf sich erstmals ein weiterer Club von konservativ-liberalen Systemveränderern unter dem Namen Konvent für Deutschland. Vorzeigefigur ist der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, hinter dem Verein stecken der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel und der Unternehmensberater Roland Berger. Berger sitzt in seiner Zentrale in München und erläutert mit müder Stimme, "dass unser politisches System, wie jede Ordnung, die sich nicht anpasst, verkommen ist", und wir die "Entscheidungsprozesse effizienter gestalten müssen". Ihn stört vor allem, dass der Bundesrat mehr als die Hälfte aller Gesetze des Bundestags blockieren kann. "Maggie Thatcher hätte als Bundeskanzlerin in Deutschland keine ihrer Reformen durchgebracht."

Berger und Henkel wollen mit bekannten Namen für ihre Vorschläge werben. Neben Herzog haben sie die üblichen Verdächtigen ins Boot geholt: Lambsdorff, Metzger, Glotz und einige andere. Eine Anschubfinanzierung kam von der Deutschen Bank. Immer wieder werde man im nächsten Jahr mit Vorschlägen an die Presse gehen und so die "Reform der Reformfähigkeit" in Deutschland pushen.

Berger findet es klasse, dass überall nun radikal-liberale Konvente und Initiativen entstehen und die Reformbereitschaft der Bevölkerung anheizen. "Das zeigt doch auch, dass immer mehr Bürger mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden sind." Bürger? Oder sind es eher Eliten, die da eine andere Republik propagieren? Berger kontert: "Die Tatsache, dass es Eliten sind, die Dinge in Bewegung bringen, ist doch nicht neu. Es gibt keine Revolution, die nicht von der Elite ausging. Auch Lenin war Elite."

Die wichtigsten Trommler für ein anderes Deutschland

Fünf Reforminitiativen hämmern der Bevölkerung mit millionenschweren Anzeigenkampagnen und prominenten Unterstützern ihre Botschaft ein: Reformen sind gut – Sozialabbau ist besser!

Bürgerkonvent
These: Meinhard Miegel (früher CDU-Bundesgeschäftstelle) will den Reformstau in Deutschland "aktiv überwinden" – durch TV-Spots, öffentliche Auftritte und lokale Konvente.
Unterstützer: Hans-Olaf Henkel, Roland Berger, Otto Graf Lambsdorff, Peter Glotz, Rupert Scholz.
Finanzierung: unklar, nach stern-Informationen u. a. durch Düsseldorfer CDU-Großspender.

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (auch: Chancen für alle)
These: Soziale Marktwirtschaft ist durch zu viel Wohlfahrtsstaat überlastet, er muss gestutzt werden. Haben den "Reformer des Jahres" wählen lassen, schalten Anzeigen, platzieren Unterstützer in Talkshows.
Kuratorium: Hans Tietmeyer, Martin Kannegiesser (Gesamtmetall), Oswald Metzger, Randolf Rodenstock, Edmund Stoiber u. a.
Unterstützer: Arnulf Baring, Roland Berger, Peter Glotz, Arend Oetker, Lothar Späth, Florian Gerster, Michael Glos, Dagmar Schipanski u. a.
Finanzierung: 50 Millionen Euro von Gesamtmetall, weitere 50 Millionen Euro geplant.

Konvent für Deutschland
These: Das politische System hat sich überlebt, Bundestag und Bundesrat blockieren sich zu häufig. Deutschland braucht eine Neuordnung.
Konventskreis: Roman Herzog, Roland Berger, Hans-Olaf Henkel, Klaus v. Dohnanyi, Peter Glotz, Oswald Metzger, Otto Graf Lambsdorff, Rupert Scholz, Henning Voscherau u. a.
Finanzierung: Anschub von Deutscher Bank, weitere Finanziers gesucht.

Initiative Klarheit in die Politik (in Gründung)
These: Die Bevölkerung kennt die Vorzüge von Reformen nicht – sie muss aufgeklärt werden.
Gründer: Dieter Rickert, Headhunter.
Unterstützer: 20 Unternehmer und Privatpersonen – die Namen sind noch geheim.

Team-Arbeit für Deutschland
Ziel: Bürgerengagement gegen Arbeitslosigkeit stärken, indem man viele Mitstreiter ins Boot holt: Manager, Künstler, Journalisten. Geplant: bundesweite Aktionstage, Werbekampagnen.
Initiator: Wolfgang Clement.
Unterstützer: Florian Gerster, Peter Hartz, Gunter Thielen, Hubertus Schmoldt und 500 Unternehmen der "Initiative für Beschäftigung".
Finanzierung: 10 Millionen Euro pro Jahr aus Steuergeldern.

© stern, Markus Grill




Freitag, 12. Februar 2016

Volk, dessen größte Sorge ist, pünktlich zur Arbeit zu kommen . --->>> Stille in Deutschland - wie 1938. [lesenswert!!!]

 

 

 

Das Wort zum Alltag Nr. 21: Stille in Deutschland

Donnerstag, 11. Februar 2016

--->>> #Warum #haben #wir #diese #schlecht #bezahlten #Arbeitsplätze? #Wegen der #Agenda 2010,

 
 

Fleisch teurer machen? Arbeit besser bezahlen!!! – meint Oskar Lafontaine

[via Nachdenkseiten.de]
 

„Grüne wollen Fleisch teurer machen", meldet „Bild". „Ein Kilo Hackfleisch für 3,40 Euro ist pervers", sagt die Sprecherin der Grünen für Tierschutz und Verbraucherpolitik, Nicole Maisch.

Was die Grüne übersieht: Leiharbeit, Werkverträge, befristete Arbeitsverträge, also unsichere und schlecht bezahlte Jobs, sind pervers. Der große deutsche Niedriglohnsektor ist pervers. Warum haben wir diese schlecht bezahlten Arbeitsplätze? Wegen der Agenda 2010, die SPD und Grüne, unterstützt von Union und FDP, durchgesetzt haben.

http://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/160210_Lafontaine_Kolumne_NDS.mp3

Was die Grünen nicht verstehen: Die Hauptleidtragenden dieser grünen Idee wären wieder einmal diejenigen mit den geringen Löhnen und Renten und diejenigen, die von Hartz-IV leben müssen.

Was die Grünen noch lernen müssen: Über höhere Preise kann man die Verschmutzung der Umwelt nur senken, wenn die Leute wieder deutlich mehr Geld im Portemonnaie haben. Man kann das Pferd nicht von hinten aufzäumen.




vertiefend --->>> Jetzt #treten #auch d. #Eliten #nach #unten - #zunehmende #Abwertung v. #Arbeitslosen u. #Armen

 
 

"Jetzt treten auch die Eliten nach unten"

Interview | Beate Hausbichler, 17. Juni 2012, 18:00
 
[via Der Standard]
 
 
 
 

In ihrem neuen Buch "Wir müssen leider draußen bleiben" kritisiert Kathrin Hartmann Sozialprojekte und die zunehmende Abwertung von Arbeitslosen und Armen

Die Tafeln verbreiten sich seit Jahren weltweit mit großem Erfolg und werden von allen Seiten gelobt. Die Idee der Tafeln (oder "Food Banks") ist, Bedürftige mit überschüssigen oder aussortierten Lebensmitteln zu versorgen, die von Handelsketten gespendet werden. Allein in Deutschland gibt es mehr als 880 Tafeln, bei einigen davon hat die Autorin Kathrin Hartmann recherchiert und herausgefunden: Wo solche Sozialprojekte sind, muss noch lange keine Menschlichkeit und schon gar keine Gerechtigkeit herrschen - eher im Gegenteil. So auch in Bangladesch, wo sich Hartmann ein weiteres weltweit anerkanntes Sozialprojekt genauer ansah: die Mikrokredite.

In ihrem neuen Buch "Wir müssen leider draußen bleiben" beschreibt sie den Ausschluss von Menschen aus der Konsumgesellschaft, die zunehmende Verachtung dieser Ausgeschlossenen und wie Sozialprojekte herrschende Strukturen festigen. Beate Hausbichler traf die Autorin zum Gespräch über herblassende Ehrenamtlichkeit, die Währung Dankbarkeit und den Grund, warum inzwischen auch die Bildungselite nach unten tritt.

dieStandard.at: Sie beschreiben in Ihrem Buch die wachsende Abwertung von Unterprivilegierten. Welche Entwicklungen sind dafür verantwortlich?

Hartmann: Sozialabbau funktioniert nur, wenn man Menschen selbst die Schuld an ihrer Armut gibt oder sie als Sozialschmarotzer diffamiert - diese Abwertung ist durchaus beabsichtigt. Es gibt ein Interesse daran, das Gegensatzpaar Leistungsgerechtigkeit und Sozialschmarotzertum aufrechtzuerhalten, obwohl natürlich beides ein Mythos ist. Viele Studien belegen, dass es das Sozialschmarotzertum nicht gibt, und wir wissen auch, dass Vermögende ihren Reichtum nicht durch Leistung bekommen haben.

Zudem fühlt sich die Mittelschicht vom Abstieg bedroht. Derzeit finden wir aber eine Situation vor, in der nicht nur der Boulevard nach unten tritt, sondern zunehmend auch das bildungsbürgerliche Milieu - auch aus Abstiegsangst.

dieStandard.at: Sie erwähnen in Ihrem Buch einen Artikel von Peter Sloterdijk, der 2009 ein umverteilendes Steuersystem als "kalte Hilfe" bezeichnete, Freiwilligkeit würde hingegen dem Geben wieder mehr Würde verleihen. Ein angesehener Intellektueller, der für den Abbau des Sozialstaates in die Bresche springt: Wie konnte das passieren? Abstiegsangst auch bei der Bildungselite?

Hartmann: Im Grunde war dieses Statement von Sloterdijk in der "FAZ" einfach ein feiner formulierter Boulevard. Die Studie "Gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit" hat gezeigt, dass die Abwertung von Armen auch zunehmend in der Oberschicht zu finden ist - obwohl Sloterdijk wohl eher zur gehobenen Mittelschicht, zum Bildungsbürgertum gehört.

Heute fühlen sich selbst die Eliten um ihren gerechten Anteil betrogen. Das liegt möglicherweise daran, dass es immer mehr Krisenherde gibt, der Kampf um die Fleischtöpfe verstärkt sich, und diejenigen, die an den Töpfen schon dran sind, verteidigen ihre Privilegien. Der Ton ist rauer geworden, als die Frage aufkam, wer die Kosten der Finanzkrise übernimmt.

dieStandard.at: Die "freiwilligen Gaben" sind auch der Kern Ihrer Kritik an den Tafeln: Die Staaten würden zunehmend die Aufgabe, Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen, an diese Organisationen auslagern. Sie zeigen in Ihrem Buch aber auch, dass die Tafeln für viele nicht mehr entbehrlich sind. Wir brauchen sie, aber sie sind eigentlich falsch? 

Hartmann: Es stimmt, dass die Tafeln für viele lebensnotwendig geworden sind, doch sie sind ja bei weitem nicht in der Lage, alle zu versorgen, die es bräuchten. Dass im reichen Deutschland Menschen darauf angewiesen sind, sich für weggeworfene Lebensmittel anzustellen, dass Hungerarmut in Deutschland existiert - das hätte die Politik längst zum Handeln bringen müssen. Studien zeigen, dass zum Beispiel Langzeitarbeitslose nicht an jedem Tag des Monats drei Mahlzeiten zu sich nehmen oder Hungerperioden haben, um den Strom zahlen zu können.

Die Tafeln sind für die Politik ein angenehmer Stellvertreter, da kann man dann auch schön das Ehrenamt loben und sich aus der Affäre ziehen, weil die Armen ja versorgt werden. Doch die Tafeln werden nicht allein von Ehrenamtlichen betrieben, sie werden von Unternehmen und Konzernen unterstützt. Durch die Tafeln verschaffen sie sich ein gutes Image und lenken von der Verschwendung durch die produzierten Überschüsse ab.

Ein zentrales Problem an den Tafeln ist auch, dass Freiwilligkeit nie einen Ersatz für einklagbare Rechte bietet. Bei der Tafel gibt es keine Ansprüche, sondern Almosen.

dieStandard.at: Warum werden eigentlich derart große Überschüsse produziert?

Hartmann: Es gibt nur ein paar Handelsketten, die den Markt dominieren und die um die Spitze konkurrieren. Da geht es eigentlich nur um Nuancen: Sei es, dass schon jeder Salat mit nur einem welken Blatt aussortiert wird oder dass Waren angeboten werden, die letztendlich niemand kauft, zum Beispiel Erdbeeren im Winter: Viele wollen das gar nicht, doch die Ketten bieten sie weiter an, mit dem Argument: Falls sie doch jemand will, könnte ja der oder die zur Konkurrenz gehen. Auch das Brotregal muss bis zum Ladenschluss randvoll sein - es geht also um den Kampf um Kunden und Margen.

dieStandard.at: Auch die privaten Ehrenamtlichen kommen in Ihrem Buch nicht sehr gut weg. Sie haben sie bei den Tafeln mitunter schnell sehr unfreundlich erlebt, wenn sich die Menschen dort nicht so verhalten, wie das von einem Bedürftigen erwartet wird. Brauchen wir ein breiteres Bild von Armut?

Hartmann: Man vergleicht Armut noch immer mit Bildern, die wir aus den 80ern kennen: Kinder mit aufgeblähten Bäuchen - das hält man noch immer für die "echte" Armut, die es ja bei uns nicht gebe. Wir haben aber "relative Armut", viele verstehen darunter "Ist ja nicht so schlimm". Doch das bedeutet "arm im Vergleich zum Rest der Gesellschaft, in der der Arme lebt". "Absolute Armut", also dass man etwa kein Dach über dem Kopf hat, gibt es in Europa auch.

Durch diese ganze Sozialschmarotzer-Propaganda kommt die Idee auf, dass diese Menschen Betrüger sein könnten - da heißt es dann misstrauisch: "Die haben doch immer das neueste Handy." Bei einer Tafel ist mir auch zu Ohren gekommen, dass "die halt einfach weniger rauchen sollten". Da hatte ich schon den Gedanken: Oh Gott, hoffentlich werde ich nie so arm, dass ich hier stehen muss.

Natürlich arbeiten bei den Tafeln sehr viele nette Menschen, doch es ist ein riesiger Unterschied, auf welcher Seite des Tisches man steht. Und die Währung, die bei der Tafel gültig ist, ist Dankbarkeit. Das ist wie eine moralische Schuld, die man in Wirklichkeit nie einlösen kann, weil die Vorstellung herrscht, dass Armut mit einem richtigen oder falschen Verhalten zusammenhängt.

dieStandard.at: Sie schreiben, Armut bedeute politischen Ausschluss. Wie könnten die vielen von relativer Armut Betroffenen eine stärkere politische Stimme bekommen?

Hartmann: Hartz-IV-EmpfängerInnen sind jeden Tag damit beschäftigt, diesen Amtsirrsinn mitzumachen. Es ist Wahnsinn, wie viel Energie und Arbeitskraft einfach sinnlos verpufft. Und sie bekommen auch noch vermittelt: Du bist nichts wert, du bist uns eine Last. Da entsteht natürlich das Gefühl, dass man sowieso nicht gehört wird.

Im Grunde muss es damit anfangen, dass die Mittelschicht versteht, dass wir alle in einem Boot sitzen. Und dass die eigentliche Bedrohung darin besteht, dass wir die Solidarität aufgeben und nach unten treten. Mehr Gerechtigkeit, etwa mehr Steuern für Reiche, könnte den Druck von der Mittelschicht nehmen - dann wäre auch die Bereitschaft größer, über neue Alternativen nachzudenken. In Deutschland und auch in Österreich wünschen sich 80 bis 90 Prozent eine gerechtere Wirtschaftsordnung - daher glaube ich, dass Veränderung möglich ist.

dieStandard.at: Noch zu einem anderen großen Sozialprojekt, das Sie ebenfalls kritisieren: Sie waren in Bangladesch und haben sich dort die Situation von Mikrokreditnehmerinnen angesehen.

Hartmann: Diese Kredite bedeuten auch nichts anderes als Schulden. In Bangladesch habe ich gesehen, dass sich die Frauen durch diese Kredite nicht aus der Armut befreien konnten, sie sind mehrfach verschuldet, bei mehreren Mikrokreditinstituten. Ihr Leben ist nur mehr darauf ausgerichtet, das Geld zurückzuzahlen. Schaffen sie es nicht, werden ihnen Kühe oder Ziegen weggenommen. Zum Teil wird ihnen sogar das Haus abgebaut, während sie auf dem Feld sind, oder sie müssen ihr Land verkaufen, was für kleine Bauern eine Katastrophe ist, weil sie die Grundlage verlieren, für sich selbst sorgen zu können.

Die Kredite dienen auch nicht der Ermächtigung der Frauen. In den meisten Fällen nehmen die Männer das Geld - Frauen können oft nicht lesen und schreiben und wissen nicht, was sie da unterschreiben. Auch hier profitieren - wie immer - Banken und westliche Investoren. Viele landen letztlich in den Slums der Städte, wo sie auch erwünscht sind, weil sie für fast kein Geld die dreckigste Arbeit verrichten.

dieStandard.at: In einem älteren Buch von Ihnen, "Ende der Märchenstunde", legen Sie sich mit KonsumentInnen an, die nur bio und "fair" kaufen. In Ihrem aktuellen Buch nun mit dem Ehrenamt der Tafeln und den Mikrokrediten. Warum kritisieren Sie Leute oder Projekte, die es doch gut meinen?

Hartmann: Ich bin immer sehr skeptisch, wenn etwas so einhellig für gut befunden wird. Das sind oft einfache pragmatische Lösungen, das finde ich verdächtig. Wenn zum Beispiel, wie im Falle der Mikrokredite, die Deutsche Bank das toll findet und die Kirche auch - dann ist das ja eigentlich komisch. Oder warum sehen sich die LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability, Anm.), die früher die konsumkritischen Ökos ausgelacht haben, nun als die Retter der Welt - nur weil sie einkaufen? Warum sind sich die Wirtschaft und die Politik so einig, dass die Tafeln gut sind?

Diese drei Dinge - die LOHAS, die Tafeln und die Mikrokredite - haben gemeinsam, dass es nur ums Ökonomische geht und dass die Wirtschaftselite davon profitiert. Es geht bei all diesen Dingen nicht darum, Strukturen der Armut in Frage zu stellen, sondern darum, einfach so weiterzumachen wie bisher - aber mit gutem Gewissen. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 17.6.2012)





"Mein Sozialstaat" --->>> #Wir #Reichen #unter #uns [via Cicero]

 
 
 

Sonntagskolumne „Mein Sozialstaat"

Wir Reichen unter uns

 
von Marie Amrhein
 
[via Cicero]
 
 
 
 
"Divided we stand". Eine neue Studie führt uns einmal mehr vor Augen, wie ungerecht es bei uns in Deutschland zugeht.
Dabei sind neben den viel zu schlechten Löhnen aber auch wir selber Schuld - und unsere Angst vor der Armut
 
 
Ich war gerade in Stuttgart. Dort haben wir drei Salatherzen gekauft, für 3 Euro fünfzig. Es war in einem schönen Feinkostladen in der Innenstadt, draußen bimmelte der Weihnachtsmarkt, wir wollten noch Knödel für den Sauerbraten besorgen. Neben mir an der Kasse tätigten andere kaschmirgekleidete Damen ihre Einkäufe. Der Salat schmeckte prima, eigentlich wie der, den ich sonst aus dem Supermarkt hole. Da kostet er die Hälfte. Aber an diesem Tag gehörte das Einkaufen mit zum vorweihnachtlichen Gefühl, die Familie war beisammen, da sollte es etwas Besonderes sein. Beim Heraustreten in die Fußgängerzone saß da ein Bettler. Er hatte seinen amputierten Fußstumpf freigelegt, um das Mitgefühl der Passanten zu erregen. Ich hatte noch den Geruch des frischen Gemüses von der Feinkosttheke in der Nase und stapfte schnell vorbei.
 
Deutschland kann sich dieser Tage mal wieder einer Spitzenposition im internationalen Vergleich rühmen. Wir sind organisiert, diszipliniert, alles hört auf unser Kommando in Sachen Euro-Rettung. Und unser Land, so eine neue Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat seit 1990 einen gewaltigen Sprung gemacht – in Richtung Ungerechtigkeit. „Divided we stand" – durch das Land geht ein Riss. Zu diesem Schluss kommt die OECD. Natürlich gibt es noch ein paar mehr Länder, in denen die Einkommensschere so weit auseinander klafft wie bei uns. Das sind dann Nationen wie die Niederlande, Frankreich oder Griechenland. Deutschland aber kann sich rühmen, von einer eher ausgeglichenen Gesellschaft in den 80er und 90er Jahren in das Mittelfeld der Ungleichheit hervorgeprescht zu sein. Vorne weg traben selbstbewusst noch immer ewige Sieger wie die USA und Mexiko.
 
57.300 Euro. Dieses Gehalt verdienten die obersten zehn Prozent der deutschen Einkommensbezieher durchschnittlich im Jahr 2008. Das ist in etwa acht mal so viel wie das Gehalt der untersten zehn Prozent, die wiederum mit nur etwa 7400 Euro blöd dastehen. Damit hat sich Deutschland von einem Sechs-Zu-Eins-Verhältnis in den 90ern vorangetastet an den OECD-Durchschnitt, der momentan bei neun zu eins liegt. Unsere Einkommensungleichheit ist damit „erheblich stärker gewachsen" als in den meisten anderen OECD-Ländern.
 

Mit welcher Begründung, mag sich der Laie da fragen. Warum ist das so? Wird nicht ständig das tolle Wirtschaftswachstum gelobt? Das kommt aber offensichtlich nicht den Menschen in Deutschland zugute, die es brauchen. Nein, die gut verdienenden sind es, bei denen die wachsenden Haushaltseinkommen zu Buche schlagen. Von den 0,9 Prozent des durchschnittlichen Wachstums erreichen Verdiener aus der untersten Einkommensklasse lediglich 0,1, die obersten zehn Prozent dagegen 1,6 Prozent. Schuld daran ist vor allem die katastrophale Entwicklung der Löhne, oder sollte man besser sagen: Nicht-Entwicklung?

Seit Anfang der 90er Jahre konnten die Netto-Reallöhne in Deutschland kaum einen Zuwachs verzeichnen, zwischen 2004 und 2008 gingen sie sogar zurück. Die minimale Anhebung der Gehälter in Deutschland wird also meist sofort wieder von der Inflation geschluckt und das, obwohl die Arbeitnehmer besser denn je ausgebildet sind. „Gute Löhne sind essenziell", heißt es indes bei der OECD. In einem Land aber wie Deutschland, das sich seit Jahren darauf beruft, die Löhne niedrig zu halten, um die Exportwirtschaft nicht zu gefährden, klingt das fast wie Hohn.

Ansätze der Bundesregierung, um die schlimmsten Auswüchse der Ungerechtigkeit einzudämmen, könnten Änderungen im Steuersystem oder auch das Verteilen von Sozialtransferleistungen, so sieht es die OECD. Dabei bleibt das Land aber weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Anstatt sich die fehlenden Gelder von den Besserverdienern zu holen, beschließt die schwarz-gelbe Koalition Steuererleichterungen. Überlegungen wie die der SPD über höhere Einkommenssteuern oder eine Vermögenssteuer werden weiter in den Wind geschlagen.

So wird man der hiesigen Ungerechtigkeit nicht Herr. Mehr Menschen müssen in Lohn und Brot gebracht werden, in ordentliche Jobs mit Karrierechancen und guter Bezahlung. Bessere Bildung während der Kindheit, der Jugend und im Arbeitsalter sind nötig. Sinnvolle Steuer- und Sozialreformen und das Zwingen der Steuerflüchtigen in ihre Verantwortung. Das wären Maßnahmen, mit denen der Einkommensschere ein Hebel vorgeschoben werden könnte.

Eines aber können auch die besten politischen Maßnahmen nicht ändern – den sozialen Wandel und das ängstlich-krampfhafte Festhalten der Mittelschicht an ihren einmal gewonnenen Pfründen: Das Modell „Chefarzt heiratet Krankenschwester" läuft aus, so die Studie der OECD.

 

Heute heiratet also der Chefarzt die Oberärztin, so bleiben die Reichen unter sich und vermeiden die Gefahr, sich mit der dreckigen Armut abzugeben und womöglich in ihre Fänge zu geraten. Was einst altmodisch klang, wird so wieder Avantgarde. „Divided we stand."



 

vertiefend! -> #Die #gewollte #Reservearmee an #Arbeitslosen um d. #Arbeiterklasse #zu #schwächen und #hohe #Profite zu #realisieren

 
 

 
Die gewollte Reservearmee an Arbeitslosen – Oder:
Wie einige Linke das Geschäft der Monetaristen und Rechten betreiben,
indem sie die Verantwortung der Krise des Kapitalismus zuschieben.
 
[Nachdenkseiten]
 

Es gibt ein Zitat des ehemaligen britischen Notenbankers Sir Alan Budd, das Gold wert ist für die Argumentation jener, die den Anstieg der Arbeitslosigkeit in den siebziger, in den achtziger Jahren und auch heute für gewollt und damit für vermeidbar halten und – spiegelbildlich – den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit für möglich und für aussichtsreich halten, wenn man nur will und die richtigen Entscheidungen trifft.

Sir Alan Budd beschreibt, dass unter Thatcher die Arbeitslosigkeit bewusst erzeugt worden ist, um die Arbeiterklasse zu schwächen und hohe Profite zu realisieren. Das gleiche Spiel begann bei uns schon in den siebziger Jahren und währt bis heute.

Albrecht Müller.

Der ehemalige Notenbanker Sir Alan Budd – seine Biografie siehe hier – beschrieb die Geldpolitik der Bank of England unter Margret Thatcher so:

„Viele „haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren." (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

Hier die Originalquelle auf Englisch. http://www.newstatesman.com/blogs/the-staggers/2010/07/class-war-budd-thatcher-cuts

In Thatchers erster Legislaturperiode kletterte die Arbeitslosenquote auf drei Millionen. Das waren rund 12,5 Prozent im Jahr 1983.

In Deutschland wurde beginnend schon in den 1970ern auf eine ähnliche Politik gesetzt
Die Monetaristen bei der Bundesbank haben versucht, die aktive Beschäftigungspolitik der Regierung Schmidt zu konterkarieren – mit massiven Zinserhöhungen schon Anfang der siebziger Jahre und dann immer wieder, zum Beispiel 1980 mit einer Erhöhung der kurzfristigen Zinsen von 3,7 auf 12,2 %, dann im Vorfeld von 1992 mit einer Diskontsatzerhöhung von 2,9 auf 8,75 %. (In Kapitel III meines Buches „
Machtwahn" ist dies ausführlich dokumentiert.)
Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff und sein Hintermann Hans Tietmeyer haben schon im Kabinett Schmidt am gleichen Strang gezogen. Das Lambsdorff -Papier vom September 1982 war dann nicht nur die „Scheidungsurkunde" der sozialliberalen Koalition, sondern auch ein Dokument, mit dem die Durchsetzung der Politik zur Schwächung der Arbeitnehmerschaft festgeschrieben wurde.
Die von den Monetaristen geprägte Geld- und Zinspolitik war begleitet von einer massiven Agitation gegen Konjunkturprogramme und aktive Beschäftigungspolitik. Diese Agitation begann schon zu Zeiten der Regierung Schmidt gegen Ende der siebziger Jahre. Sie war massiv, und ihre Massivität ist nicht verständlich, wenn man das Motiv, die Erzeugung einer Reservearmee von Arbeitslosen, nicht beachtet.

Natürlich geben die Monetaristen und neoliberalen Erzeuger einer Reservearmee von Arbeitslosen nicht zu, dass sie mit Absicht darauf hingearbeitet haben.

Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie auch von linker Seite von der Verantwortung für die Schwächung der Arbeitnehmerschaft, für die hohe Arbeitslosigkeit und einen großen Niedriglohnsektor freigesprochen werden.

Erstaunlich ist das nur dann nicht, wenn man bedenkt, dass die in den siebziger Jahren beginnende hohe Arbeitslosigkeit und gleichzeitig wachsende Verschuldung des Staates in das Schema linker Theorien von der Krise des Kapitalismus passt.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die von den Monetaristen/Neoliberalen willentlich herbeigeführte hohe Arbeitslosigkeit, die auf Schwächung der Arbeiterklasse bewusst angelegt war und ist, wird von den politischen Gegnern der Monetaristen und neoliberalen Kräfte als Zeichen des Scheiterns des Systems des Kapitalismus betrachtet und deshalb als solches trotz des damit geschaffenen Elends hingenommen. Der gegebene Freiheitsgrad zum politischen und wirtschaftspolitischen Gegensteuern wird und muss auch von linker Seite geleugnet werden.
Deshalb muss man leider feststellen, dass diese Linke objektiv betrachtet den neoliberalen Kräften in die Hände spielt.

Das Zitat des britischen Notenbankers Budd belegt glücklicherweise die Motive der Akteure und zugleich die Ahnungslosigkeit der Kräfte auf der linken Seite, die die bewusst herbeigeführte Reservearmee und Schwächung der Arbeitnehmerschaft als Zeichen der Krise des Kapitalismus betrachten

Dies alles ist hochaktuell. In der Debatte um Wachstum, um Systemveränderung und um das angebliche Scheitern der konjunkturpolitischen Instrumente nach den Vorstellungen von Keynes taucht das Motiv der Krise des Kapitalismus, wie sie angeblich in den siebziger Jahren sichtbar geworden sei, immer wieder auf. Ich verweise auf die in meinem Beitrag vom 21. April über Wachstumswahn et cetera zitierten Texte und zum Beispiel auch auf Vorbereitungspapiere zum attac-Kongress in Berlin und die dafür geschaltete Beilage in der TAZ [PDF - 741 KB]. (Auf das Programm des Kongresses verweise ich trotz kritischer Betrachtung. Siehe dazu den Artikel über Wachstumswahn etc. vom 21. April und einen weiteren, noch kommenden.)

Zwei Dinge sind noch anzumerken:

Erstens: Die herrschende Wissenschaft hat die Strategie der Schwächung der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer kräftig unterstützt. Dafür steht zum Beispiel der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn, aber auch der gesamte Sachverständigenrat. Typisch für diesen war zum Beispiel, dass er in einem Jahresgutachten an der Schwelle zu einem deutlich erkennbaren Wirtschaftsabschwung im November 2000 erklärte: die Konjunktur läuft rund. Das hat dann die Bundesbank und die Bundesregierung dazu ermuntert, restriktiv zu verfahren.

Zweitens: Die Gewerkschaften haben total versagt. Sie haben die Strategie ihrer Gegner nicht erkannt, jedenfalls nichts dagegen unternommen, nicht einmal diese Strategie so offen gelegt, wie es der zitierte britische Notenbanker verdienstvoller weise tat.




#Ziviler #Ungehorsam gegenüber den Übergriffen der #Obrigkeit wird immer mehr zur #Bürgerpflicht! [95.Thesen]

 

 
 

 
 
 
 
 
63. Ziviler Ungehorsam gegenüber den Übergriffen der Obrigkeit
wird immer mehr zur Bürgerpflicht!

Unsere 95 Thesen

 
[via Junge Welt]
 

Mittwoch, 10. Februar 2016

Zur Vertiefung!! -->> #Viele #Bürger #empfinden #Arbeitslose #als #Last. #Wie #gespalten #ist #die #deutsche #Gesellschaft?

 
 

 
Umgang mit „Anderen"Ökonomisch leben

Eine Studie zeigt: Viele Bürger empfinden Arbeitslose als Last.

Wie gespalten ist die deutsche Gesellschaft?

(Tagesspiegel)
 

Der Titel ist sperrig, mittlerweile aber längst zum Markenzeichen geworden: Im sechsten Jahr schürft nun schon das Team um den Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer in der Gesellschaft nach Symptomen der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit".

Es ist ein ambitioniertes, auf insgesamt zehn Jahre angelegtes Projekt, dem der Sozialwissenschaftler den vielsagenden Titel „Deutsche Zustände" gegeben hat.

Was da an die Oberfläche kommt, das besorgt Heitmeyer regelmäßig, denn nach seinen Recherchen existiert in vielen deutschen Köpfen offenbar eine Schattenwelt aus Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit , Abwertung von Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten.

Die Ergebnisse der Studie in der Übersicht

Auch mit seinem jüngsten Befund will Heitmeyer nachhaltig am Selbstverständnis der Gesellschaft rütteln, neues Unheil droht: Die Bielefelder Forscher haben sich nämlich erstmals der Frage angenommen, welche Rolle das ökonomische Denken in der Bevölkerung spielt, „um Gruppen von Menschen nach Kriterien der Nützlichkeit und Effizienz zu beurteilen".

Erstes Ergebnis: Der Druck ökonomischer Verhältnisse hat beachtliche Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber anderen Menschen – nur wer was leistet zählt, lautet das Credo vieler der Befragten. Der Rest wird als Last empfunden.

So erhielten die Wissenschaftler recht hohe Zustimmungswerte für die Aussage: „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten". Exakt ein Drittel der 1758 Befragten fand, dieser Satz stimme „voll und ganz" beziehungsweise treffe „eher zu".

Fast 44 Prozent waren der Ansicht „Wir können uns in dieser Gesellschaft nicht zu viel Nachsicht leisten"; immerhin fast 26 Prozent stimmten dem Satz „Moralisches Verhalten ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr erlauben können" zu.

Heitmeyer schlussfolgert: „Das Eindringen von Kalkülen der Marktwirtschaft in die Gesellschaft, die so zur Marktgesellschaft wird, zeigt sich in diesem Denken". Bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag in Berlin nannte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) diesen Befund „alarmierend".

Der für den Aufbau Ost zuständige Minister Wolfgang Tiefensee sagte mit Blick auf Ostdeutschland, dort sei mittlerweile „die Angst vor denen da oben der Sorge gewichen, zu denen da unten zu gehören". Tiefensee selbst sorgt sich wegen fortschreitender „Prekarisierung, Verunsicherung, Perspektivlosigkeit".

Heitmeyer beunruhigt der Befund, dass das „ökonomistische Denken" offenbar den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährde.

Langzeitarbeitslose würden zum Beispiel in breiten Teilen der Öffentlichkeit stigmatisiert, ihnen werde ein Image zugeschrieben, nach dem ihre mangelnde Arbeitsmoral der entscheidende Grund für ihre Arbeitslosigkeit ist.

Für den Satz: „Ich finde es empörend, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen" erhielten die Bielefelder Forscher eine Zustimmungsquote von über 60 Prozent. Der Aussage „Wenn man Langzeitarbeitslose zu öffentlichen Arbeiten heranzieht, stellt sich bald heraus, wer arbeiten will und wer nicht" stimmt 88,5 Prozent der Befragten „ganz" oder „eher" zu.

Bei sinkender Soziallage, heißt es in der Studie, nähmen die Ressentiments gegenüber Langzeitarbeitslosen kontinuierlich zu. Das Bedürfnis wachse, „sich von Personen am unteren Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen, indem man diesen eine negativere Arbeitshaltung zuschreibt, als sich selbst".

Wilhelm Heitmeyers erste Analyse: „Wir müssen uns davon verabschieden, dass ausschließlich politische Ideologien wie die des Rechtsextremismus die abwertenden oder feindseligen Mentalitäten erzeugen." Es reiche eine ökonomisch erzeugte „Ungleichheit", die in eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit" umgewandelt werde.

Kein schönes Land, in dieser Zeit? Ganz so trist ist es denn doch nicht. In Bielefeld haben sie einen zarten Silberstreif am Horizont ausgemacht. Die Angst vor Desintegration und prekären Lebensläufen habe nach Jahren erstmals abgenommen. Und auch bei der Fremdenfeindlichkeit zeige sich erstmals seit 2002 ein signifikanter Rückgang.



.
 

vertiefend!!! --->>> 6,5 Millionen #fehlende #Fachkräfte? Wie eine #zweifelhafte #Zahl das #Licht der #Welt #erblickte

 

 
6,5 Millionen fehlende Fachkräfte?
Wie eine zweifelhafte Zahl das Licht der Welt erblickte
 
[Nachdenkseiten]
 
 

Unter dieser Überschrift verschickte der Mathematiker und Statistiker Gerd Bosbach das interessante Ergebnis seiner und seines Kollegen Korff Recherchen zu einer im Mai publizierten Warnung des Chefs der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, im Jahre 2025 würden 6-7 Millionen Fachkräfte in Deutschland fehlen. Wir weisen auf den Artikel von Bosbach/Korff hin, weil er in vieler Hinsicht interessant ist.

In den deutschen Medien wurde Bosbachs Bericht nahezu nicht wahrgenommen.

Er wundert sich darüber, ich nicht. Denn so ist die Medienlage.

Was nicht in die Linie des üblichen Kampagnenjournalismus passt, wird einfach ignoriert.

Was passt, wird vielfältig und in Variationen publiziert und propagiert.

Albrecht Müller.



Zunächst zu Ihrer Information den Einstieg im Bericht der beiden Wissenschaftler:

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, warnte im Mai 2011 laut davor, dass im Jahre 2025 sechs bis sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland fehlen könnten. Seitdem blickt die gesamte Republik ängstlich auf ihre wirtschaftliche Zukunft. Aber woher kommt diese Zahl, die seit Monaten ständig wiederholt wird und Ängste schürt? Die Suche nach der Quelle gestaltete sich gar nicht so einfach. Zitiert wurde nämlich ein „Hintergrundpapier" des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das der normalen Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Zu schnell hätte sonst vielleicht auch jemand gesehen, wie zweifelhaft die Annahmen für die Zukunft sind, auf denen die Horrorzahl beruht. Es wird für die prognostizierte Zahl nämlich unterstellt (s. Tabelle 1 des Papiers),

  • dass es keine Wanderungsbewegung mit dem Ausland gibt,
  • dass sich die Erwerbsquote der Erwerbsfähigen nicht erhöht und
  • dass sich die Rente ab 67 nicht auf die Erwerbsquote auswirkt.

Ist das alles schon seltsam genug für eine Gesellschaft mit Arbeitskräftebedarf, so wird zusätzlich übersehen, dass steigende Arbeitsproduktivität und sinkende Bevölkerungszahl auch den Bedarf nach Arbeitskräften reduzieren. Eine Gleichsetzung von sinkender Zahl von Erwerbsfähigen mit fehlenden Fachkräften ist also trotz ständiger Wiederholung ein zusätzlicher grober Fehler."

Es lohnt sich, den gesamten Beitrag zu lesen. Es sind nur zwei Seiten.

Bosbach sollte sich nicht wundern, dass die Mehrheit der Medien keine Notiz von seinem kritischen Papier nimmt. Seit Monaten, ja seit Jahren, wird in Deutschland immer wieder eine Kampagne zum angeblichen Fachkräftemangel aufgelegt. Diese Kampagne soll indirekt transportieren, dass es uns wirtschaftlich ausgezeichnet geht. Sie war und ist sehr erfolgreich. Die Behauptung, dass Deutschlands Wirtschafts- und Finanzpolitik besonders gut sei, ist inzwischen breit gestreut. Selbst Menschen, die seit Jahren eine Stagnation ihrer Einkommen hinnehmen müssen, selbst Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen oder gar keinen haben, glauben viel zu oft, es gehe unserer Volkswirtschaft rund um gut. Die Behauptung vom Fachkräftemangel, soll die andere Behauptung von der erfolgreichen Wirtschaftspolitik stützen. Ihre Glaubwürdigkeit würde zentral angegriffen, wenn sichtbar würde, wie sogar der Chef der Bundesagentur für Arbeit Daten beugt.

Gerd Bosbach sollte sich nicht wundern. Denn die Bereitschaft eines beachtlichen Teils der Medien, Manipulationen dieser Art mitzumachen, ist offensichtlich sehr groß. Jeden Tag kann man Belege dafür finden. Zwei aktuelle Beispiele von vielen möglichen:

  • Gestern wurde bekannt, die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident wollten eine Transaktionssteuer einführen. Unmittelbar darnach wurden in den Tagesthemen die sinkenden Aktienkurse an den Börsen auf die Absichten zur Transaktionssteuer zurückgeführt. Ganz klar der Versuch, die Transaktionssteuer negativ zu bewerten. Die Tagesthemenredaktion gibt sich für eine solch dreiste Stimmungsmache her. Die Kurse können aus sehr verschiedenen Gründen nachgelassen haben. Es gab keinerlei Indizien über den direkten Zusammenhang zwischen verkündete Absicht zur Transaktionssteuer und Börsenkursentwicklung. – Dennoch: die ARD stellt ihre Plattform zur Abwehr einer Transaktionssteuer zur Verfügung.
  • Ähnlich wie die Ergebnisse der Recherchen von Gerd Bosbach passt auch die Diskussion über die Krise der Konservativen und die Frage, ob die Linken nicht doch recht hätten, selbstverständlich nicht in die gängige Linie. Also werden Gegenstimmen mobilisiert. Ein besonders gefälliger und dreister Versuch sind gleich zwei Interviews mit dem Historiker Nolte im Deutschlandfunk bzw. im Deutschland Radiokultur, einmal am 15. August (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1530455/) und dann noch einmal am 16. August. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1530225/
    Der Historiker Paul Nolte zeichnet sich dadurch aus, dass er selten etwas zu sagen hat. Aber er liegt voll im gängigen mainstream. Also wird er bei solchen Ereignissen, wenn es darum geht die neoliberale Linie gegen fundierte Zweifel zu stützen, mobilisiert. Er ist der typische Gebrauchswissenschaftler.

Anhang:

Gerd Bosbach
6,5 Millionen fehlende Fachkräfte?
Wie eine zweifelhafte Zahl das Licht der Welt erblickte

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, warnte im Mai 2011 laut davor, dass im Jahre 2025 sechs bis sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland fehlen könnten. Seitdem blickt die gesamte Republik ängstlich auf ihre wirtschaftliche Zukunft. Aber woher kommt diese Zahl, die seit Monaten ständig wiederholt wird und Ängste schürt? Die Suche nach der Quelle gestaltete sich gar nicht so einfach. Zitiert wurde nämlich ein „Hintergrundpapier" des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das der normalen Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Zu schnell hätte sonst vielleicht auch jemand gesehen, wie zweifelhaft die Annahmen für die Zukunft sind, auf denen die Horrorzahl beruht. Es wird für die prognostizierte Zahl nämlich unterstellt (s. Tabelle 1 des Papiers),

  • dass es keine Wanderungsbewegung mit dem Ausland gibt,
  • dass sich die Erwerbsquote der Erwerbsfähigen nicht erhöht und
  • dass sich die Rente ab 67 nicht auf die Erwerbsquote auswirkt.

Ist das alles schon seltsam genug für eine Gesellschaft mit Arbeitskräftebedarf, so wird zusätzlich übersehen, dass steigende Arbeitsproduktivität und sinkende Bevölkerungszahl auch den Bedarf nach Arbeitskräften reduzieren. Eine Gleichsetzung von sinkender Zahl von Erwerbsfähigen mit fehlenden Fachkräften ist also trotz ständiger Wiederholung ein zusätzlicher grober Fehler.

Nach eigenen Worten in einem anderen Papier hat der Autor der zugrunde liegenden Daten, Dr. Fuchs, die Auswirkungen der Verkürzung der Gymnasialzeit (G8) und das Aussetzen der Wehrpflicht als „vernachlässigbar bezeichnet" und deshalb wahrscheinlich auch die Verkürzung der Studienzeiten für die meisten Studierenden durch das Bachelorstudium in seinen Rechnungen ignoriert. Vergleichsjahr für die Zahlen waren 2008, bzw. 2005, überwiegend noch mit G9, Wehrdienst und vielen Diplomstudierenden, also einem deutlich späteren Berufseinstieg für viele junge Leute.

Statt weitere Feinheiten der Studie auszubreiten, soll ein kurzer Blick auf die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes die Größenordnung der oben gemachten Fehler verdeutlichen.

Selbst unter der schlechteren der beiden Hauptvarianten der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahre 2009 ergibt sich folgendes Bild, sogar ohne Berücksichtigung der Rente ab 67:

  • Erwerbsfähige (20 bis unter 65 J.) 2008: 49,7 Millionen, bzw. 60,6% der Bevölkerung
  • Erwerbsfähige (20 bis unter 65 J.) 2025: 45,3 Millionen, bzw. 57,5% der Bevölkerung

Das würde ein Produktivitätswachstum von 0,3% pro Jahr schon ausgleichen!

Stiege die Erwerbsquote unter den Erwerbsfähigen durch Abbau von Arbeitslosigkeit, früheren Einstieg in das Berufsleben und höhere Frauenerwerbsquote, schlüge das zusätzlich positiv in die Rechnung.

Berücksichtigt man vereinfacht für 2025 sogar das Rentenalter ab 67, ergibt sich:

Erwerbsfähige (20 bis 67 J.) 2025: 47,7 Millionen, bzw. 60,6 % der Bevölkerung und somit genau der gleiche Anteil wie 2008. Da wahrscheinlich nur wenige 2025 tatsächlich bis 67 arbeiten werden, ist diese Rechnung eher theoretisch.

Die kurzen Überschlagsrechnungen zeigen, dass die Zahl von 6,5 Millionen fehlenden Fachkräften im Jahre 2025 besser nie das Licht der Welt erblickt hätte. Sie lenkt von den vielen heutigen Problemen ab.

Inzwischen hat das IAB auch neue Berechnungen zum Thema öffentlich vorgelegt. Nach dem Auftakt mit einer Schockzahl von bis zu 6,7 Millionen weniger Arbeitskräften, folgte eine nach ihrer Meinung eher zu erwartende Größe von etwa 3,5 Millionen und der Hinweis, dass das nicht zu einem Fachkräftemangel führen muss.

Ob das die Diskussion nach dem Vorpreschen des Präsidenten wieder versachlichen kann, bleibt abzuwarten. Eine einmal in die Welt gesetzte Zahl, kann lange leben, wie das Beispiel über den angeblich so hohen Eisenanteil von Spinat bewiesen hat.

Nachtrag:

  1. In einem ganzseitigen Kommentar für epd sozial (Nr. 28, S. 13 vom 15.7.2011) hat Gerd Bosbach zusätzlich belegt, dass das Verhalten der meisten Unternehmer nicht auf tatsächlichen Fachkräftemangel hinweist. Mögliche Gründe für die trotzdem begonnene öffentliche Diskussion werden erwähnt.
  2. Für Ihre Recherche:
    Das angesprochene Hintergrundpapier des IAB:
    „Zuwanderungsbedarf und politische Optionen für die Reform des Zuwanderungsrechts" von Herbert Brücker
    Die neuen Berechnungen des IAB sind im Kurzbericht 16/2011 dargestellt.

Nachtrag vom 19.8.2011:

Das IAB schickte uns den Link zum Hintergrundpapier. Danke vielmals.
Damit können wir Ihnen beide Papiere des IAB zugänglich machen, auf die sich Gerd Bosbach in seinem Beitrag vom 18.8. bezog.

Erstens das letzte öffentliche Papier des IAB „Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050. Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhalten" [PDF - 865 KB]. http://doku.iab.de/kurzber/2011/kb1611.pdf

Zweitens das Hintergrundpapier "Zuwanderungsbedarf und politische Optionen für die Reform des Zuwanderungsrechts" von Herbert Brücker [PDF - 1.5 MB].

http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/110819_IAB_Hintergrundpapier_Fachkraeftebedarf_Migration_Bruecker.pdf




die Zuversicht, niemals zum Prekariat zu gehören, verleite d. Mittelschicht, sich mental mit d. Unternehmern zu verbünden."

 

 
 
 
 

[...] die Zuversicht, niemals zum Prekariat zu gehören, verleite die Mittelschicht, sich mental mit den Unternehmern zu verbünden.
 
 
[Ulrike Herrmann - Hurra, wir dürfen zahlen - DER SELBSTBETRUG DER MITTELSCHICHT (2010)]
 


Dienstag, 9. Februar 2016

neoliberale Theorie + Praxis kennt keine Menschenrechte. abhängig Beschäftigten können diese Freiheit bekanntlich nicht wahrnehmen.

 
 
 

Freiheit der Arbeit

Die universellen Menschenrechte gelten auch für die Arbeitsverhältnisse

Ein Einwurf von Werner Rügemer

[via arbeitsunrecht.de]

http://arbeitsunrecht.de/?p=503

Die gegenwärtig vorherrschende Kapitalmacht agiert, wenn sie es für passend hält, bekanntlich außerhalb des Rechtsstaats, außerhalb der parlamentarischen Demokratie und nicht zuletzt außerhalb der universellen Menschenrechte. Diese Feststellung ist banal. Sie wird allerdings dadurch kompliziert (scheinbar), dass gerade Vertreter dieser Kapitalmacht sich weltweit für den Rechtsstaat, für die parlamentarische Demokratie und neuerlich wieder besonders heftig für die Menschenrechte einsetzen.

Dabei werden „die Menschenrechte" bekanntlich selektiv und widersprüchllich reklamiert, nach dem Motto Franklin D. Roosevelts „Hurensohn hin oder her – es muss nur unser Hurensohn sein". So wird in Peking und Moskau die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit für Personen und Gruppen reklamiert, deren politischer Hintergrund im Dunkeln gehalten wird. Gleichzeitig werden im Westen Bloccupy-Manifestationen gnadenlos abgeräumt. Im Protokoll der Frankfurter Polizei nach den verbotenen Demonstrationen gegen die Bankenmacht stand als Grund für Festnahmen: Antikapitalismus. Freiheit der Meinung? „Rebellen" wie die Taliban sind einmal gut, wenn es passt, und dann sind sie böse, wenn es auch wieder passt. Libyens Gaddafi wurde hofiert, als es passte und dann zum Mord freigegeben, als es auch wieder passte.

Die neoliberale Theorie und Praxis kennt keine Menschenrechte.

Die abhängig Beschäftigten können diese Freiheit bekanntlich nicht wahrnehmen. Sie anerkennt ernsthaft nicht einmal die bürgerlichen Gesetze der klassischen Kapitaldemokratien. Ihr oberstes Prinzip ist die „Freiheit des Einzelnen", wobei es in der Praxis nur die einzelnen Privateigentümer sind, die diese Freiheit wahrnehmen können.

Wenn deshalb etwa Gewerkschafter in den Hinterhöfen und sweat shops des Westens verfolgt und getötet werden, wenn hunderttausende junge Frauen kaserniert werden, um unter menschenunwürdigen Bedingungen Jeans, Computerteile und iPhones für westliche Konzerne zu montieren und nach einigen Jahren gesundheitlich verschlissen sind – da werden keine Menschenrechte reklamiert. Wenn in Deutschland unliebsame Beschäftigte und Betriebsräte ausspioniert und entlassen werden – da bleiben unsere Menschenrechtler taub und stumm.

Welches Vertragswerk wurde 1973 von der Bundesrepublik ratifiziert?

Der UNO-Sozialpakt ist auch in den westlichen Kapitaldemokratien bekanntlich bzw. unbekanntlich unmittelbar geltendes Recht und zwar seit über drei Jahrzehnten. Der Sozialpakt, auf der Erklärung der universellen Menschenrechte fußend, enthält soziale und Arbeitsrechte: das Recht auf Arbeit, auf gewerkschaftliche Organisierung, auf angemessene Entlohnung, auf gleiche Bezahlung von Mann und Frau, auf Wohnung, auf Gesundheitsversorgung, auf Schutz vor Armut. „Universell" bedeutet: der Staat, wenn er Menschenrechte verletzt, kann sich nicht auf seine Souveränität berufen.

Für die bundesdeutsche Unternehmerschaft, die sich nach dem Nationalsozialismus zu christlich und liberal firmierenden Parteien bekannte beziehungsweise sie finanzierte, legal und illegal, galten auch nach 1945 die Beschäftigten nicht als handelnde und schon gar nicht als frei handelnde Subjekte. Unbarmherzig lehnten Unternehmer und ihre Parteien den Vorschlag ab, die Industrie- und Handelskammern abzuschaffen. Die hatten sich begeistert in das unfreie und deshalb gewerkschaftsfreie NS-Wirtschaftssystem integriert, halfen bei Arisierung und bei der Zwangsvermitgliedschaftung auch der Kleinstgewerbetreibenden wie Markthändler und Scherenschleifer. Der alternative Vorschlag nach 1945 lautete: Ersetzt die Industrie- und Handelskammern durch Wirtschaftskammern, in denen auch die lohnabhängig Beschäftigten vertreten sind! Das wurde abgelehnt. Und die Kleingewerbetreibenden sind  weiter Zwangsmitglieder. Freiheit?

Eingeschrumpfter Restbestand von 1791

Die heute von den Vertretern der dominierenden Kapitalmacht reklamierten Menschenrechte sind ein eingeschrumpfter Restbestand der Grundrechte, die im Ersten Zusatz zur US-Verfassung („First Amendment") aus dem Jahre 1791 festgehalten wurden: Freiheit der Rede, der persönlichen Meinung, der Presse und der Religionsausübung. Doch inzwischen hat sich der Kapitalismus entwickelt und fortentwickelt, und die kapitalistische Führungsmacht hantiert immer noch mit dem Grundrechtsverständnis aus der kapitalistischen Prähistorie.

Es kann zudem gefragt werden, ob wenigstens diese Rechte im eigenen Staat realisiert werden. Freiheit der persönlichen Meinung und der Presse – herrscht nicht stattdessen die von wenigen Konzernen oktroyierte Gleichmacherei und professionelle Desinformation? Diffamierung des Islam – Freiheit der Religionsausübung?

Rechtsbruch in Gesetzesform

Die Hartz-Gesetze I bis IV als Gesamtmachwerk sind nicht nur ein Bruch mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Menschenwürde, Schutz des Eigentums und der Privatsphäre, Berufsfreiheit), sondern weitergehend mit den universellen Menschenrechten (Recht auf Arbeit, Verbot der Zwangsarbeit).

Die Finanz- und Wirtschaftskrise wurde nicht nur durch die Deregulierung des Finanz- und Wirtschaftsrechts befördert. Die Krise wurde auch durch die Deregulierung des Sozial- und Arbeitsrechts vorangetrieben. Nicht zufällig wurden in den Vorreiterstaaten des Neoliberalismus, USA und Großbritannien, gleich zu Beginn Gewerkschaften überwacht, geschwächt und auch zerschlagen. So konnten die privaten Kapitalakteure mächtiger und freier werden, auf Kosten der Freiheit der anderen.

Die gegenwärtigen „Spar"auflagen der Finanzakteure für den griechischen Staat hebeln soziale und Arbeitsrechte unbekümmert aus: Tarifverträge und erworbene Rentenansprüche werden für ungültig erklärt. Den griechischen Gewerkschaften wurde zugleich und auf einen Schlag die bisherige Finanzierung entzogen. Dagegen wurde die überaus üppige staatliche Alimentierung der korrupten Großparteien beibehalten – allen „rigorosen" Sparauflagen zum Trotz.

Das Einfordern von universellen Rechten auch im Produktionsprozess

Ein Staat, der die Egoismen einer gierigen, rechtlosen Minderheit über die Rechte und die Freiheit der Mehrheit stellt – kann der als Anwalt der Menschenrechte auftreten? Und was ist von Medien zu halten, die die herrschende Menschenrechts-Hetze begleiten und vorantreiben?

Für die Entmachtung der gegenwärtigen Kapitalmacht ist es elementar, dass die regulär und prekär Beschäftigten, die Noch-Beschäftigten, die an der Beschäftigung Gehinderten und alle von Beschäftigung Abhängigen nicht nur höhere Löhne und Gehälter und höhere Transfers fordern. Vielmehr müssen sie ihre Arbeits- und Sozialrechte als universelle und unkündbare Menschenrechte einfordern: Freiheit in der Arbeit, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung von Gewerkschaften und betriebliche Vertretung, Recht auf sicheres Leben und auf Wohnung, Schutz vor Armut, Recht auf politischen Streik.

Wir wollen nicht einfach „mehr vom Kuchen", sondern wir wollen die Menschenrechte!

Dass zu ihnen auch mehr beziehungsweise sehr viel mehr vom gemeinsam gebackenen Kuchen gehört, versteht sich von selbst. Aber wer mit der Forderung „mehr vom Kuchen" nur die von allen Menschenrechten befreite kapitalistische Gier und Macht hilflos nachäfft, wird selbst nie „mehr vom Kuchen" bekommen, oder nur in Ausnahmefällen und nie auf Dauer.

Menschenrechte müssen gegen die Vertreter von privatmächtigen Einzelinteressen erkämpft werden. Schon der bürgerliche Nationaldichter Goethe schrieb:

Wer das Recht auf seiner Seite hat, muss derb auftreten. Ein höflich Recht will gar nichts heissen.

 

Der Artikel erschien zunächst in lunapark21, Nr. 18 / Sommer 2012

+ + +

Weiter führende Links

Menschenrechte

EU und Griechenland

  • Politikanalyse:   "Griechische Gewerkschaften und die Krise – Ein wichtiger Akteur unter Druck", Zoe Lanara, Friedrich-Ebert-Stiftung März 2012 (pdf-download)
  • Hintergrundartikel, EU im Notstandmodus, Florian Rödl in Blätter für deutsche und Internationale Politik, Mai 2012.

Zur Zwangsmitgliedschaft in der IHK

Zur Rolle der Industrie- und Handelskammern in der Nazi-Zeit

vertiefend -> #Bombengeschäft am #Bodensee - Das große Schweigen "Der Tod ist ein Meister vom Bodensee" [via Kontext]

 
 
 
 
 

Bombengeschäft am Bodensee
 
von Susanne Stiefel (Text) und Martin Storz
[via Kontext]
 
 
 

Minen, Panzer und Raketen? Hier doch nicht. Nicht in dieser scheinbar heilen Welt von sauber geweißelten Orten und Segelbooten vor malerischer Alpenkulisse. Doch die Bodenseeregion ist einer der wichtigsten Rüstungsstandorte in Deutschland. Hier werden Waffen produziert, die anderswo töten. Und kaum einer spricht darüber.

Die Abendsonne färbt den Bodensee am Überlinger Ufer blutrot. Die Fachwerkhäuser rund um das Münster verströmen diesen Hauch von Idylle, den Urlauber so schätzen. Es ist November, Spätherbst am Bodensee. Touristen verirren sich nun selten in die Gassen, Überlingen gehört wieder den Bewohnern. Wer vom Tourismus lebt, überwintert. Die anderen sind froh, dass sie bei Diehl oben am Berg Arbeit haben. Bei Diehl Defence, wo Minen, Zünder, Granaten und modernste Raketen zusammengebaut werden, eben alles, was kracht und explodiert, was Menschen zerfetzt und Leben zerstört.

Doch darüber redet man hier nicht so gerne. Schließlich ist Diehl der größte Gewerbesteuerzahler in der 22 000-Einwohner-Stadt, sorgt für Arbeitsplätze neben Tourismus und Landwirtschaft, sponsert Vereine und Kulturveranstaltungen. Bringt Glanz in die Provinz, wenn etwa der Verteidigungsminister den Waffenproduzenten am Ort besucht. Pazifisten findet man in Überlingen selten.

Die Oberbürgermeisterin jedenfalls gehört nicht dazu. Ihr Rathaus duckt sich im Schatten des Münsters, den Ratssaal ziert Holzschnitzerei aus dem 14. Jahrhundert. Hier wurde früher Recht gesprochen, die Hände konnte man in einer eigens ins Holz geschnitzten Wanne in Unschuld waschen. "Niemandem sind Kriege behaglich, aber die Welt ist eben anders", sagt Sabine Becker, über Krieg und Frieden entschieden nun mal andere: "Als Kommunalpolitikerin kümmere ich mich um genügend Kindergarten-Plätze, dass der Haushalt in Ordnung ist und die Stadt verschönert wird." Da hilft es, dass bei der Produktion und Entwicklung moderner Lenkflugkörper keine Emissionen entstehen. Diehl ist eine saubere Fabrik.

"Der Tod ist ein Meister vom Bodensee"

In Überlingen steht nicht die einzige Waffenschmiede am See. Wer die B 31 am Bodensee Richtung Osten fährt, sieht die Fabriken aufgereiht am Straßenrand wie Soldaten, sauber und ordentlich sieht das aus, keine rauchenden Schlote, Hightech zwischen Reben. Oberschwäbische Waffenstraße nennen Rüstungsgegner diese Route in Anlehnung an die idyllische oberschwäbische Barockstraße. In Immenstaad passiert man EADS Cassidian/Astrium, den Rüstungszweig der EADS, der Kampfflugzeuge herstellt, Drohnen und Raketen. In Friedrichshafen beherrscht MTU/Tognum das Stadtbild, wo Motoren für Panzer, Haubitzen und U-Boote produziert werden. Und die Zahnradfabrik ZF gleich nebenan liefert das dazu passende Getriebe. Ebenfalls in Friedrichshafen und etwas weiter östlich in Lindau und Lindenberg produziert Liebherr Elektronik und Steuerungssysteme für den Kampfhubschrauber Eurocopter. Und es sind noch viele kleinere Zulieferer darüber hinaus, die sich im Dunstkreis der Großen hier im Dreiländereck angesiedelt haben. "Der Tod ist ein Meister vom Bodensee", variiert der profilierte Rüstungsgegner Jürgen Grässlin die "Todesfuge" von Paul Celan.

Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure. Nach den USA und Russland liegt es laut dem Stockholmer Friedensinstitut SIPRI auf Platz drei. Dabei hat Deutschland das strengste Waffenkontrollgesetz, das es verbietet, deutsche Waffen in Spannungsgebiete zu liefern und das die Einhaltung von Menschenrechten zu einem wichtigen Kriterium für die Genehmigung von Rüstungsexporten macht. Doch derzeit wird geliefert an Pakistan, den Irak, Saudi-Arabien, Südkorea und Bahrain, an Länder also, die nicht eben Vorbild sind in Sachen Menschenrechte. Entscheidungen über die jährlich rund 16 000 Einzelgenehmigungen fällt das Bundesausfuhramt, das dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist. Größere Entscheidungen, wie etwa über die Lieferung von bis zu 1200 Fuchs-Radpanzern nach Algerien, werden im Bundessicherheitsrat getroffen, einem geheim tagenden Gremium unter dem Vorsitz von Angela Merkel und acht Ministern.

Laut Rüstungsexportbericht der Bundesregierung von 2010 wurden in diesem Jahr für mehr als zwei Milliarden Rüstungsgüter exportiert, ein Blick auf die Vergleichsliste zeigt, dass das Rüstungsgeschäft seit 2002 kontinuierlich wächst. Das Geschäft mit dem Krieg ist also ein Bombengeschäft. Und Diehl in Überlingen verdient kräftig mit. Im vergangenen Jahr etwa hat Diehl Defence in Überlingen 611 Millionen Umsatz gemacht, wie dem Geschäftsbericht zu entnehmen ist.

Das wollen wir doch genauer wissen und gerne persönlich mit den Verantwortlichen reden. Doch die Diehl-Geschäftsführung spricht weder über die Gewinne aus dem Rüstungsgeschäft noch über die Waffen gerne. Und auch nicht über die Toten und Verletzen, die ihre Raketen made am Bodensee verursachen. Die Anfrage sei zu kurzfristig, mehrere Wochen im Voraus möchten schon sein, wenn man über ein solch sensible Themen sprechen wolle, sagt der Öffentlichkeitssprecher Charles Weston am Telefon. Schriftlich beantwortet man ("Bitte verzichten Sie auf die Nennung von Namen") dann vier von elf Fragen ("Bitte haben Sie Verständnis") und lässt knapp ausrichten: Nein, eine waffenfreie Welt könne man sich nicht vorstellen. Ja, Verteidigungsminister Thomas de Maiziere war diesen Sommer zu Besuch.

Zum Jubiläum verzierte Marzipanraketchen

Beim 50-Jahr-Jubiläum des Verkaufsschlagers aus dem Haus Diehl Defence, der Lenkflugkörper, war man nicht so zurückhaltend. Dort wurden im Oktober vor zwei Jahren zur Feier des Tages verzierte Marzipanraketchen gereicht. Und mit bunten Cocktails, die die Namen "Sidewinder" und "IRIS-T" trugen, den Hightech-Erfolgsprodukten aus der Waffenschmiede, durften die Feiernden stilgerecht anstoßen. Das tat etwa der Abteilungsleiter Rüstung im Verteidigungsministerium ebenso wie der stellvertretende Inspekteur der Luftwaffe. Man kennt sich. Dafür sorgt schon die Lobbyarbeit. Diehl hat seine Berliner Vertretung am Pariser Platz, gleich neben dem Brandenburger Tor und in Sichtweite des Reichstags. Von den verschiedenen Sidewinder-Typen lieferte Diehl bis zum Jubiläumsjahr rund 35 000 Flugkörper.

Versteckt hinter lustigem Soldaten-Graffito: das Diehl-Werk in Überlingen.

Das Diehl-Werk liegt oberhalb Überlingens mit freiem Blick auf den Bodensee und die Alpen. An den Bäumen am Werksparkplatz hängen die letzten bunten Herbstblätter, sie konkurrieren chancenlos mit dem Graffito vor dem Zaun, das in grellbunten Farben das Soldatenleben zeigt. Kameras bewachen das umzäunte Werksgelände, und schneller als man schauen kann, radelt der Mann vom Werkschutz heran und will wissen, warum man hier draußen rumsteht. Beobachtet wird bei Diehl ganz genau.

Es war Ferdinand Graf von Zeppelin, der schon 1899 seine Luftschiffe am Bodensee montieren ließ und damit den Grundstein für den Rüstungsstandort Bodensee legte. In seinem Dunstkreis gediehen Dornier und Maybach, später MTU. Schon im Ersten Weltkrieg waren mehr als 3000 Menschen in Friedrichshafen damit beschäftigt, ein Drittel der deutschen Flugzeuge zu produzieren. Begünstigt wird der Standort durch die Nachbarschaft mit Österreich und der Schweiz, die ebenfalls im Rüstungsgeschäft mitmischen. Und nicht zuletzt durch die Landschaft. Die meisten der ehemaligen Diehl-Geschäftsführer leben noch im Ruhestand am Bodensee. Und auch qualifizierte Fachkräfte wissen das idyllische Umfeld ihres mörderischen Arbeitsplatzes durchaus zu schätzen.

Das weiß auch Oswald Burger zu berichten. Mit keckem Hut trifft er zum Gespräch am Überlingen Hafen ein, ein 63-Jähriger mit Schnauzer, der einst aus Überzeugung im roten Marburg studiert hat und heute zwischen Pragmatismus und Zynismus changiert. "Mein pazifistischer Gestus wurde im Laufe der Jahre abgeschliffen", sagt der pensionierte Lehrer. Die Schwester hat bei Diehl gearbeitet, der Schwager bei Maybach, der Schwiegersohn ist Entwicklungsingenieur bei MTU. Das bremst.

Einst hat er die Geschichte des Überlinger Stollens recherchiert, in dem die Nazis Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie einsetzten. Das hat ihm das Bundesverdienstkreuz eingebracht. Heute organisiert er deutsch-israelische Begegnungen, bei denen die Jugendlichen nicht nur Kasernen besuchen, sondern auch im firmeneigenen Segelclub mit Diehl-Mitarbeitern diskutieren. Die deutsch-jüdischen Kulturtage werden ebenfalls vom Raketenbauer oben am Berg gesponsert. Das ist der Kooperation mit dem israelischen Rüstungskonzern Rafael, die Diehl seit Jahren pflegt, sicher nicht hinderlich. "Ich bin zerrissen", sagt Burger, der seit fast 30 Jahren für die SPD im Überlinger Gemeinderat sitzt. Die Überlinger sagen übrigens Bodenseewerk, nicht Waffenschmiede, zu ihrem Hauptgewerbesteuerzahler.

Das große Schweigen

Der Expazifist und Exsozialist Burger kennt die Gründe für das große Schweigen: Die Kirchgänger arbeiten bei Diehl, deshalb hält sich die Kirche zurück. Die Gewerkschafter sitzen als Betriebsräte bei Diehl, deshalb gehören weder die Gewerkschaft noch die SPD zu den großen Kritikern. Die Vereine werden großzügig von Diehl gesponsert. Und in den Schulen sitzen die Kinder von Geschäftsführern, oder es gibt gleich Kooperationsverträge mit Rüstungsfirmen wie beim Karl-Maybach- oder dem Zeppelin-Gymnasium in Friedrichshafen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein – Burger kennt das Marx-Zitat noch aus seinen Politseminaren bei Professor Wolfgang Abendroth in Marburg.

Lothar Höfler: Den Verantwortlichen einen Namen, den Toten ein Gesicht geben.Das bekommt auch Lothar Höfler immer wieder zu spüren. Der 73-Jährige hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau hin und den Rüstungsfirmen auf die Finger zu sehen. Seit zwei Jahren ist nachzulesen, was der gelernte Ingenieur und seine Mitstreiter recherchiert und zusammengetragen haben. Eine etwas andere Heimatkunde, die sich von der Idylle nicht blenden lassen will. Ihr ehrgeiziges Ziel: Den Tätern ein Gesicht und den Opfern einen Namen zu geben. Das ist nicht einfach. Denn die Rüstungsindustrie, die sich selbst lieber als "Sicherheits- und Wehrbranche" bezeichnet, gehört nicht zu den mitteilungsfreudigen Branchen.

Lothar Höfler trägt sein Haar in einer Länge, die heute nicht mehr so in ist, den Mund hat er sich noch nie verbieten lassen. Er war selbst ein Saulus, hat 15 Jahre lang bei Liebherr in der Rüstungsproduktion gearbeitet. Dann hat sich der junge Ingenieur selbständig gemacht, weil er nicht mehr "Teil einer Tötungsindustrie" sein wollte. Höfler liebt den Bodensee. In seiner kleinen Wohnung am Lindauer Marktplatz hängen alte Drucke der Inselstadt, er hat viele Einzelfotos von Lindaus Seeseite akribisch zu einer Gesamtsicht zusammengefügt. Doch das hindert ihn nicht daran, den Finger in die Wunden zu legen. Die Wunden, die Waffen nun mal schlagen. Seit Jahren tragen er und seine Mitstreiter Informationen zusammen, aus Werbebroschüren der Rüstungsindustrie, von Luft- und Seefahrts-Messen mit so harmlosen Namen wie Euronaval oder Aero India. Detailliert haben sie dieses geballte Wissen auf ihrer Homepage zusammengestellt. Firma für Firma, Panzer für Panzer, Rakete für Rakete. Und eine Rüstungskarte vom Bodensee zusammengestellt.

Stuttgarter Friedenspreis an "Aktion Aufschrei – stoppt den Waffenhandel"

Diehl ist auch dabei, klar. Höfler weiß aus vielen Gesprächen, dass Menschen, die ihr Geld mit Rüstung verdienen, so tun, als unterscheide sich ihr Produkt nicht von Rührgeräten oder Akkuschraubern. Er kennt die Argumente: "Wenn Sie von einer Welt ohne Waffen träumen, sind Sie naiv", sagt etwa der Rektor des Karl-Maybach-Gymnasiums in Friedrichshafen, der einen Kooperationsvertrag mit EADS unterschrieben hat. "Wenn wir es nicht machen, machen es andere", sagt der Ingenieur bei MTU. "Wenn wir die Firmen nicht hätten, hätten wir hier im Bodenseekreis mehr als drei Prozent Arbeitslosigkeit", sagt der Rektor des Graf-Zeppelin-Gymnasiums. Und überhaupt: Kooperieren würden sie schon lange mit EADS, Bewerbertraining, Darstellung – was soll daran denn Schlimmes sein?

MTU vor Alpenkulisse.

Die Frau, die unten am Überlinger Landungsplatz, direkt vor Peter Lenks Walserbrunnen, Schokolade und Souvenirs verkauft, hat gar noch nie von Diehl gehört. "Ich wohn' erst seit fünf Jahren hier", sagt sie. Raketen waren noch nie Thema im Pralinenladen. Der Chef der örtlichen Narrenzunft, den sie in Überlingen Narrenmudder nennen, heißt im richtigen Leben Wolfgang Lechler, schreibt Mundartgedichte und würde gerne mehr erzählen. Doch weil er bei Diehl arbeitet, fragt der Produktingenieur vorsichtshalber mal in der Öffentlichkeitsabteilung nach. "Kein Treffen möglich", verfügt Öffentlichkeitsarbeiter Charles Weston.

Lothar Höfler und seine Mitstreiter wollen diese Kultur des Schweigens brechen. Und sie bekommen Unterstützung.

Der diesjährige Stuttgarter Friedenspreis wird  an die Kampagne "Aktion Aufschrei – stoppt den Waffenhandel" vergeben, ein breites gesellschaftliches Bündnis, getragen unter anderem von Pax Christi, Brot für die Welt und DFG-VK. Das neue Buch des "Zeit"-Autoren Hauke Friedrichs, "Bombengeschäfte", nennt Höfler und seine Mitstreiter von Waffen vom Bodensee als Quelle. Und auch Jürgen Grässlin sitzt derzeit an einem "Schwarzbuch Waffenhandel, wie Deutschland am Krieg verdient". Der blutrote Bodensee wird nicht länger totgeschwiegen.

Stuttgarter Friedenspreis 2012 an die Aktion Aufschrei: Veranstaltung im Theaterhaus, Donnerstag 22.November, 19.30 Uhr