Mittwoch, 21. August 2013

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Titel: Die Revolution von oben

 

 
[via Nachdenkseiten]
 
 

Markus Grill, stern, 17. Dezember 2003

Vor vier Jahren las Arbeitgeberpräsident Martin Kannegiesser eine Meinungsumfrage, die ihn ärgerte. Darin stand, dass die Bevölkerungsmehrheit Wirtschaftsbosse für egoistisch hält, für Leute, die "nur an ihre eigenen Interessen" denken und "kein Verständnis für die Sorgen der kleinen Leute" haben. Der Arbeitgeberpräsident raufte sich die verbliebenen Haare und fragte sich: Was tun? Kannegiesser hoffte damals, dass Kanzler Schröder endlich die von der Wirtschaft ersehnten Sozialreformen anpackt – und nun diese Umfrage! 67 Prozent der Befragten verbanden mit dem Wort Reform "Befürchtungen" oder "Skepsis". Beim Stichwort soziale Marktwirtschaft fiel den Leuten im Osten vor allem "Egoismus" und "Ausbeutung" ein. Kannegiessers Fazit: "Das, was die Bevölkerung will, und das, was die Führungskräfte in der Wirtschaft für notwendig hielten, klaffte himmelweit auseinander."

Was sollte der Boss der Metall-Arbeitgeber tun? Aufgeben? Alle Hoffnungen fahren lassen, dass Rot-Grün einen wirtschaftsfreundlichen Kurs einschlägt? Gar auswandern, seine Waschmaschinenfirma gleich mit nach Asien verlagern? Oder hier bleiben und sich ein anderes Volk suchen? Der milde lächelnde Kannegiesser entschied sich für Letzteres. Weil man 82 Millionen Menschen nicht einfach auswechseln kann, griff er zu einer List. Er wollte die Leute ein bisschen umerziehen. "Aufklären" nennt er das. Ihnen mit schlauen Parolen die Notwendigkeit von radikalen Reformen einhämmern, sie mit Plakaten, Anzeigen und TV-Spots überschütten, auf dass die Leute die Wünsche der Wirtschaft als ihre eigenen begreifen. Kannegiesser, 62, und die Bosse von Gesamtmetall waren sich rasch einig, dass man "viel Geld in die Hand nehmen" müsse, um eine PR-Maschine für ein wirtschaftsfreundliches Klima zum Laufen zu bringen. Kannegiessers Argument: "Wir als Metall- und Elektroindustrie sind wie keine andere in die Weltwirtschaft eingebunden. Wir sind also viel stärker darauf angewiesen, dass sich die Produktionsbedingungen für Unternehmen verbessern."

50 Millionen Euro machte Gesamtmetall locker und gründete damit im Jahr 2000 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Das war der Auftakt. Seitdem folgen Reforminitiativen ohne Ende. Sie heißen Bügerkonvent, Klarheit in die Politik, Marke Deutschland, Deutschland packt's an oder, jüngstes Beispiel, Konvent für Deutschland, eine Initiative von Roland Berger, 66, und Hans-Olaf Henkel, 63, mit Roman Herzog, 69, als Galionsfigur. Es ist eine außerparlamentarische Opposition von oben. Angeführt von alten Männern wie dem Ex-Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer, 72, die lange Zeit für die Entwicklung der Republik verantwortlich waren. Die Old Boys wollen die Köpfe und Herzen der Bevölkerung verändern und sie zu Wirtschaftsreformen überreden. Dabei ist die Agenda 2010 für sie erst der Anfang eines viel weiter gehenden Abbaus staatlicher Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Ihr Einfluss geht mittlerweile so weit, dass von Sabine Christiansen bis Maybrit Illner keine Talkshow mehr ohne sie auskommt.

Die Finanziers der Propaganda bleiben dabei gern im Hintergrund. So wollte auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall bei der INSM nicht selbst die Reformbotschaften verkünden. Allzu leicht hätte man Einseitigkeit unterstellt. Deshalb wurde ein Kuratorium gegründet, in dem Edmund Stoiber, Oswald Metzger oder Tietmeyer vertreten sind. Das Kuratorium traf sich bis heute kein einziges Mal, aber das ist auch nicht so wichtig.

Wichtig ist dagegen, dass die Propagandamaschine auf Hochtouren läuft. Als Geschäftsführer fungieren der ehemalige Pressechef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Dieter Rath, und der Ex-Wirtschaftsjournalist Tasso Enzweiler. Die beiden legten eine flächendeckende Anzeigenkampagne auf und warben mit Sprechblasen von Lothar Späth, Uli Hoeneß, Arnulf Baring oder Roland Berger. "Deutschland kann den Aufstieg schaffen", stand da. Oder: "Der Fehler liegt im System." Das war zwar ein bisschen allgemein gehalten, störte anfangs aber nicht. Es ging ja nur darum, das Meinungsklima zu ändern. Inzwischen habe die Initiative konkrete Vorschläge erarbeitet zur Gesundheits-, Renten- und Arbeitsmarktreform, sagt Kannegiesser. Was er wirklich will, hat er oft genug deutlich gemacht: Senkung der Lohnkosten, mehr Druck auf Arbeitslose.

Im kommenden Jahr läuft die bisherige Finanzierung der INSM aus, doch Kannegiesser hat sich in seinem Verband dafür stark gemacht, der Propagandatruppe weitere 50 Millionen Euro zukommen zu lassen. Außerdem steht der INSM noch ein warmer Geldregen aus München bevor. Dort residiert im noblen Vorort Grünwald Dieter Rickert, 63, Deutschlands bekanntester Headhunter. Für das "Manager Magazin" gehört er zu den 50 einflussreichsten Männern der deutschen Wirtschaft. Der passionierte Pfeifenraucher kassiert mindestens 100.000 Euro pro Vermittlung.

Rickert sieht die Lage in Deutschland ähnlich mies wie Kannegiesser. "Das Problem sind aber nicht die Politiker, die wissen nämlich, was man machen muss. Sie trauen sich nur nicht, weil sie Angst vor den Wählern haben, die keine Reformen wollen." Deshalb will auch Rickert die Bevölkerung "aufklären". "Die Wähler haben ja letztlich keine Ahnung, was in der Republik passiert, die benehmen sich wie ein Fanclub, nicht wie ein verständiges Wahlpublikum." Dabei sei klar, was passieren müsse: Arbeitskosten runter, mehr private Vorsorge, längere Arbeitszeiten, weniger Kündigungsschutz, weniger Arbeitslosenhilfe und so weiter. "Aber die Leute sehen das immer noch nicht ein." Deshalb müsse man es ihnen ganz simpel erklären. "Politische Botschaften so wie bei der 'Sendung mit der Maus'." Die Initiative, die Rickert Anfang 2004 gründen will, soll daher "Klarheit in die Politik" heißen.

Ursprünglich wollte der Headhunter dazu bei Unternehmen eine Milliarde Euro einsammeln. Dieser Batzen sollte in einer Stiftung geparkt werden und jährlich mit Zinsen und Spenden 100 Millionen Euro zur Finanzierung der Kampagnen abwerfen. Im Juli lud Rickert 500 Unternehmer zu einem Treffen in den Bayerischen Hof in München ein, 100 erschienen. Schnell war aber klar, dass nicht genug Geld zusammenkommt. Jetzt plant Rickert eine Ministiftung, die jährlich 100 Millionen Euro Spendengelder einsammeln soll.

Die Geschäftsführung will er der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft überlassen. Sie soll mit Werbeagenturen die "optimale Ansprache für den typischen 'Bild'-Leser austüfteln". "Lichtfiguren" sollen für Glaubwürdigkeit sorgen. "Meine Traumkombination wäre neben Tietmeyer der Kardinal Lehmann und Martin Walser." Vom Kardinal ist Rickert neuerdings ganz begeistert, seit er eine Rede Lehmanns vor der INSM gelesen hat. "Elektrisiert" hat ihn vor allem der Satz, dass "die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht wachsen kann, sondern eher zurückgenommen werden muss". Rickert klatscht in die Hände: "Genau! Bei uns ist es aber exakt umgekehrt gelaufen: Immer mehr Wohlstand und trotzdem immer höhere Sozialleistungen." Die Leute müssten einfach einsehen, dass wir uns das nicht mehr leisten können. Er hält es deshalb für sinnvoll, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige zu kürzen oder die Zahl der Urlaubstage von 30 auf 21 zu verringern.

Was die Radikalität seiner Ansichten angeht, kann Rickert es mit einer weiteren Initiative aufnehmen, dem Bürgerkonvent von Meinhard Miegel, einem aus Talkshows bekannten Wirtschaftsprofessor. Miegel, 64, ist ein alter Hase im Politikbetrieb: 1977 gründete er zusammen mit Kurt Biedenkopf das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, eine neoliberale Denkfabrik. Seit 20 Jahren weist der stets in feines Tuch gekleidete Professor darauf hin, dass die Deutschen immer älter werden und deshalb die Rente in ihrer heutigen Höhe nicht mehr finanzierbar ist: "Langfristig werden wir uns nur noch eine Rente auf Sozialhilfeniveau leisten können. Für den Rest muss man selbst vorsorgen." Setzen sich Miegels Ansichten durch, nutzt das vor allem den Versicherungskonzernen – nicht zufällig ist Miegel auch Berater des von dieser Branche unterhaltenen Instituts für Altersvorsorge.

Miegels Mission ist es, der Bevölkerung klar zu machen, dass "Deutschland vor einem Umbruch in Größenordnungen steht, die die meisten noch gar nicht realisiert haben". Es gehe "beinhart und alternativlos" darum, "dass das Versorgungsniveau aus den öffentlichen Kassen zurückgeführt werden muss". Nicht nur die Rente, auch die Pflegeversicherung und die Krankenversicherung fliege uns "bald um die Ohren". Miegel verkündet seine Botschaften am liebsten in Talkshows – und am allerliebsten in Talkshows, in denen keine Arbeitslosen oder andere Betroffene sitzen. Als Miegel erfuhr, dass solche Personen in der SWR-Talkshow "Nachtcafé" auftreten würden, sagte er einen Tag vor Aufzeichnung der Sendung ab und begründete das damit, dass man "diesen Personenkreis möglichst unter sich diskutieren lassen sollte".

Miegel leidet unter "der Uneinsichtigkeit der Bevölkerung": "Die Leute lehnen völlig Unvermeidliches als unzumutbar ab", ruft er. Deshalb will er überall lokale Bürgerkonvente gründen, die Druck auf örtliche Abgeordnete ausüben sollen, damit die Politiker nicht nachlassen im Reformeifer. In Stuttgart, München und Vellmar (Nordhessen) sind schon solche Konvente entstanden.

Für Headhunter Dieter Rickert sind diese lokalen Konvente ein Grauen, keine klare Linie sei da erkennbar. Rickert erzählt genüsslich, wie er vor kurzem zu einem Abendessen eingeladen war, bei dem 20 Akademiker zusammensaßen. "Einer brachte einen Packen Unterlagen des Bürgerkonvents mit. Da hab ich mich dumm gestellt und gefragt: 'Erklären Sie doch mal, was wollen Sie eigentlich?' Da sagte er: 'Ja, so geht's doch nicht weiter in der Politik.' Weil er nicht erklären konnte, was er genau wollte, nahm ich das Manifest des Bürgerkonvents und las es vor. Die Damen gähnten, die Herren hörten zu, am Ende fragte ich, was nun konkret passieren soll? Es herrschte heillose Verwirrung."

Auch bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft rümpft man über Miegels Bürgerkonvent die Nase. Tietmeyer und Kannegiesser stören sich daran, dass der Bonner Professor die Geldgeber des Konvents verschweigt, der allein für seine groß angelegte Werbekampagne rund sechs Millionen Euro ausgab. Nach stern-Recherchen steckt der Düsseldorfer Kaufmann und CDU-Großspender Udo van Meeteren, 77, als Finanzier hinter dem Bürgerkonvent. Van Meeteren behauptet aber, nicht der einzige Spender zu sein. Er habe den Bürgerkonvent nur mit 5.000 Euro unterstützt.

Rudolf Speth, Politikwissenschaftler in Berlin und Verfasser einer Studie über den Bürgerkonvent, kritisiert die "fehlende Transparenz" und "tendenziell undemokratische Struktur" von Miegels Truppe: "Bei einer Summe von sechs Millionen Euro ist es für die Öffentlichkeit wichtig, dass sie über die Herkunft und die damit verbundene Interessenlage informiert wird." Bemerkenswert findet Speth am Bürgerkonvent auch den "Widerspruch zwischen der Parteinähe der Protagonisten und der strikten Anti-Partei-Haltung in den Texten und öffentlichen Äußerungen." Miegel gehöre "zum Kern des zentralen Netzwerks der CDU".

Kürzlich traf sich erstmals ein weiterer Club von konservativ-liberalen Systemveränderern unter dem Namen Konvent für Deutschland. Vorzeigefigur ist der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, hinter dem Verein stecken der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel und der Unternehmensberater Roland Berger. Berger sitzt in seiner Zentrale in München und erläutert mit müder Stimme, "dass unser politisches System, wie jede Ordnung, die sich nicht anpasst, verkommen ist", und wir die "Entscheidungsprozesse effizienter gestalten müssen". Ihn stört vor allem, dass der Bundesrat mehr als die Hälfte aller Gesetze des Bundestags blockieren kann. "Maggie Thatcher hätte als Bundeskanzlerin in Deutschland keine ihrer Reformen durchgebracht."

Berger und Henkel wollen mit bekannten Namen für ihre Vorschläge werben. Neben Herzog haben sie die üblichen Verdächtigen ins Boot geholt: Lambsdorff, Metzger, Glotz und einige andere. Eine Anschubfinanzierung kam von der Deutschen Bank. Immer wieder werde man im nächsten Jahr mit Vorschlägen an die Presse gehen und so die "Reform der Reformfähigkeit" in Deutschland pushen.

Berger findet es klasse, dass überall nun radikal-liberale Konvente und Initiativen entstehen und die Reformbereitschaft der Bevölkerung anheizen. "Das zeigt doch auch, dass immer mehr Bürger mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden sind." Bürger? Oder sind es eher Eliten, die da eine andere Republik propagieren? Berger kontert: "Die Tatsache, dass es Eliten sind, die Dinge in Bewegung bringen, ist doch nicht neu. Es gibt keine Revolution, die nicht von der Elite ausging. Auch Lenin war Elite."

Die wichtigsten Trommler für ein anderes Deutschland

Fünf Reforminitiativen hämmern der Bevölkerung mit millionenschweren Anzeigenkampagnen und prominenten Unterstützern ihre Botschaft ein: Reformen sind gut – Sozialabbau ist besser!

Bürgerkonvent
These: Meinhard Miegel (früher CDU-Bundesgeschäftstelle) will den Reformstau in Deutschland "aktiv überwinden" – durch TV-Spots, öffentliche Auftritte und lokale Konvente.
Unterstützer: Hans-Olaf Henkel, Roland Berger, Otto Graf Lambsdorff, Peter Glotz, Rupert Scholz.
Finanzierung: unklar, nach stern-Informationen u. a. durch Düsseldorfer CDU-Großspender.

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (auch: Chancen für alle)
These: Soziale Marktwirtschaft ist durch zu viel Wohlfahrtsstaat überlastet, er muss gestutzt werden. Haben den "Reformer des Jahres" wählen lassen, schalten Anzeigen, platzieren Unterstützer in Talkshows.
Kuratorium: Hans Tietmeyer, Martin Kannegiesser (Gesamtmetall), Oswald Metzger, Randolf Rodenstock, Edmund Stoiber u. a.
Unterstützer: Arnulf Baring, Roland Berger, Peter Glotz, Arend Oetker, Lothar Späth, Florian Gerster, Michael Glos, Dagmar Schipanski u. a.
Finanzierung: 50 Millionen Euro von Gesamtmetall, weitere 50 Millionen Euro geplant.

Konvent für Deutschland
These: Das politische System hat sich überlebt, Bundestag und Bundesrat blockieren sich zu häufig. Deutschland braucht eine Neuordnung.
Konventskreis: Roman Herzog, Roland Berger, Hans-Olaf Henkel, Klaus v. Dohnanyi, Peter Glotz, Oswald Metzger, Otto Graf Lambsdorff, Rupert Scholz, Henning Voscherau u. a.
Finanzierung: Anschub von Deutscher Bank, weitere Finanziers gesucht.

Initiative Klarheit in die Politik (in Gründung)
These: Die Bevölkerung kennt die Vorzüge von Reformen nicht – sie muss aufgeklärt werden.
Gründer: Dieter Rickert, Headhunter.
Unterstützer: 20 Unternehmer und Privatpersonen – die Namen sind noch geheim.

Team-Arbeit für Deutschland
Ziel: Bürgerengagement gegen Arbeitslosigkeit stärken, indem man viele Mitstreiter ins Boot holt: Manager, Künstler, Journalisten. Geplant: bundesweite Aktionstage, Werbekampagnen.
Initiator: Wolfgang Clement.
Unterstützer: Florian Gerster, Peter Hartz, Gunter Thielen, Hubertus Schmoldt und 500 Unternehmen der "Initiative für Beschäftigung".
Finanzierung: 10 Millionen Euro pro Jahr aus Steuergeldern.

© stern, Markus Grill




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