Die deutsche Steuerlüge
Alexander Dill
Was ist eigentlich Wirtschaft? Teil 2
[via heise.de]
http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/34/34797/1.html
Im zweiten Teil seiner Serie Was ist eigentlich Wirtschaft erklärt Alexander Dill vom Basel Institute of Commons and Economics[1] die deutsche Steuerlüge in vier Abschnitten: Die Propaganda des Bundes der Steuerzahler, die Lüge vom Nettoeinkommen, die Lüge von der Progression, die Lüge von den Steueroasen.
Merkwürdige Frage: Wenn ein Land 50 Jahre lang einen Überschuss nach dem anderen erwirtschaftet - wie kann es dann eine Staatsschuld von 2 Billionen aufbauen? Darauf gibt es derzeit mindestens zwei Antworten.
Die erste, die offizielle, durch die staatlichen Institute für Volkswirtschaft attestierte, lautet: "Der Staat" lebt über "seine" Verhältnisse. Er hat teure Schwimmbäder und Museen gebaut.
Er steckt den faulen Beamten und Arbeitslosen, den Ossis, Studenten und Politrentnern buchstäblich das Geld in den Hintern. Der deutsche Staatshaushalt ist zum Selbstbedienungsladen der Subventionen, Alimente und Vergünstigungen verkommen.
Diese Antwort wird derzeit auch ohne Widerspruch für Irland, Griechenland und Portugal gegeben, die deshalb inzwischen 50% ihrer Steuereinnahmen für Zins und Tilgung ihrer Staatsschulden aufwenden müssen.
Die inoffizielle, aber volks- und betriebswirtschaftlich einzig mögliche Antwort lautet: Der Staat hat Schulden gemacht, weil er nicht genügend Steuern eingenommen hat.
Dass diese einzige ebenso klare wie bittere Wahrheit nicht den Weg in die Wirtschaftspresse und erst Recht nicht an die VWL-Lehrstühle oder gar zu den Herren Steinbrück und Schäuble gefunden hat, liegt an einer jahrzehntelangen Tradition, die man als die deutsche Steuerlüge bezeichnen könnte. Es lohnt sich, ihre wesentlichen Elemente einmal allgemeinverständlich zusammenzufassen.
Erstens: Die Propaganda des Bundes der Steuerzahler
Der Bund der Steuerzahler findet jedes Jahr mit seinem Schwarzbuch[2] den Weg in alle Medien. Seine Message: Der verschwenderische Staat verjubelt unsere mühsam erarbeiteten Steuergroschen. Seit neuestem dürfen die wutbürgerischen Fans des Bundes selbst die Top Ten der Verschwendung bewerten. 2011 ist es ein Campingplatz in Niedersachsen[3], der etwa 500.000 Euro gekostet hat.
Zwischeninformation: Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Staatsschulden zwischen August 2010 und Mai 2011 um etwa 230 Milliarden Euro erhöht (laut Bund der Steuerzahler).
Auf Platz zwei der Verschwendungsliste steht die Anschaffung von fünf Alphörnern für 5500 Euro.
Als das Basel Institute of Commons and Economics Ende 2009 den Bund der Steuerzahler darüber informierte, dass die 79 Milliarden Euro Zuschuss zur staatlichen Rentenversicherung, um Beamte, Gutverdiener (Beitragsbemessungsgrenze) und Selbständige von der Versicherungspflicht auszunehmen, auch eine Steuerverschwendung sei, schrieb der Geschäftsführer des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel, "derartige" Ausgaben berücksichtige der Bund der Steuerzahler nicht.
Natürlich sind dann auch Hilfen für Griechenland und Hypo Real Estate oder die Subvention der Kernkraft keine Steuerverschwendungen.
Zweitens: Die Lüge vom Nettoeinkommen
Das Bundesfinanzministerium[4], noch unter Peer Steinbrück, wusste es in seiner Werbung ganz genau: Einer Krankenschwester mit 1.850 Euro brutto verbleiben 1.241,30 Euro "in der Tasche". Da die Dame des Beispiels in Köln arbeitete, regte dies zur Nachberechnung an. Wie viel aber hat die Dame tatsächlich in der Tasche?
Man mag einwenden, die Krankenschwester könne für 500 Euro nicht in Köln leben, sollte doch zu Fuß zur Arbeit gehen, kein Handy und kein Internet haben. Faktisch bekommt die Krankenschwester jedoch Hartz IV, muß aber dafür 38 Stunden im Schichtdienst arbeiten.
Drittens: Die Lüge von der Steuerprogression
Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung konnte kürzlich einen großen Beweis für die Steuergerechtigkeit in Deutschland verkünden: 10 Prozent der Höchstverdiener bezahlen 53% der Einkommensteuer. Viele Wirtschaftsmedien übernahmen diese frohe Botschaft. Das Manager-Magazin vermeldete[5]:
Eine Minderheit der Bürger finanziert also den Großteil der Staatseinnahmen. So ist es auch gewollt, denn in der sozialen Marktwirtschaft gilt das Prinzip, dass starke Schultern mehr tragen als schwache.
Es dauerte einige Monate, bis der Autor dieser Jubelmeldung, Sven Böll, eine vom Basel Institute of Commons and Economics errechnete Aufstellung der Steuereinnahmen erhielt, die dann auch in Telepolis mit großer Resonanz veröffentlicht wurde (Ist die Tilgung der deutschen Staatsschulden möglich?[6]). Danach trug die Einkommensteuer 2009 nur 5,08% zu den Steuereinnahmen bei, weniger als die Gewerbesteuer.
Um dieses Missverhältnis zu verschleiern, veröffentlicht das Finanzministerium gerne Tabellen wie diese[7]. Lohn- und Einkommenssteuer befinden sich darin in einem, gerecht-solidarischen Topf. Die kalte Progression, also die hohe Besteuerung, sobald man einmal einen Monat mehr Lohn oder Weihnachtsgeld erhält, gilt als Beweis für die Progression.
Tatsächlich gibt es eine Progression: Sie reicht vom Hartz-IV-Empfänger bis etwa 75.000 Euro Einkommen (Ledige). Ab dieser Summe sinkt die Belastung durch Steuern und Abgaben kontinuierlich bis fast auf Null ab. Und so sieht das aus:
Da solche Aufstellungen nie veröffentlicht werden, eine kurze Erläuterung. Der Hartz-IV-Empfänger muss sein Einkommen komplett verkonsumieren. Damit erreicht er einen Maximalsteuersatz von 19%, also den Mehrwertsteuersatz. Die Krankenschwester muss bei 1.850 Euro brutto insgesamt 954,54 Euro Steuern und Abgaben errichten. Der Abteilungsleiter mit 75.000 brutto pro Jahr darf zu seinen 42% Steuern auch noch 21% Sozialabgaben abführen. Das addiert sich mit 5% Mehrwertsteuer auf 68% Gesamtsteuerbelastung.
Der Vorstand mit 700.000 Euro Jahreseinkommen bezahlt theoretisch den Höchststeuersatz von 45%, aber aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze nicht mehr wie die Krankenschwester 21%, sondern nur noch 3% seines Einkommens für Sozialabgaben. Mit 2% Mehrwertsteuer kommt er auf 50% Gesamtbelastung, die er aber durch vermietete Eigentumswohnungen und verlustreiche Firmenanteile in der Regel auf 20% reduzieren kann.
Der Erbe oder Vermögende schließlich zahlt - wie der Hartz-IV-Empfänger - nur noch die Mehrwertsteuer. Diese macht bei einem Einkommen von 200.000 Euro noch 6.000 Euro oder 3% aus, weil sie geschäftlich über (eigene) Firmen absetzbar ist und nur ein kleiner Teil des Einkommens in mehrwertsteuerpflichtigen Konsum fließt.
Viertens: Die Lüge von den Steuerparadiesen
Ganze Horden von Prominenten wurden in den letzten Jahren medienträchtig als Steuersünder überführt. Die Botschaft: Die deutsche Regierung lässt Steuersünder nicht entkommen. Besondere Publizität erlangten die CDs von Schweizer und Liechtensteiner Bankkunden aus Deutschland.
Das deutsche Publikum war glücklich. Bei 52% Belastung für eine Krankenschwester fühlte man einen Hauch von Steuergerechtigkeit, wenn Zumwinkel&Co ein paar Millionen zurückzahlen müssen. "Die Kavallerie", tönte Peer Steinbrück, werde man den Steueroasen senden.
Nach Berichten des Schweizer Fernsehens[8] konnte der deutsche Staat aus diesen wählerwirksamen Jagdzügen 2010 rund 2 Milliarden Euro lukrieren. Dies entspricht etwa der Höhe der Steinkohlesubvention.
Eine Frage wurde aber nirgendwo gestellt: Wenn es in der Schweiz so steuergünstig ist, warum nahm dann nicht ein Einziger der geschätzten 10.000 Selbstanzeiger dort seinen Wohnsitz? Immerhin haben Deutsche, erst Recht Wohlhabende, dort völlige Niederlassungsfreiheit und brauchen weder ein Visum, noch müssen sie Schweizer werden.
Der Grund ist nicht die seelisch-geistige Verbundenheit mit dem deutschen Wohlfahrtsstaat, sondern die Tatsache, dass Deutschland zumindest für Wohlhabende ein Steuerparadies ist. Bisher wird das auch eingeräumt, aber in erster Linie mit Steuerhinterziehung und fehlenden Kontrollen der Finanzämter in Verbindung gebracht. Buchautor Kim Otto in Telepolis (Steuerparadies Deutschland[9]):
Seit Jahren haben die Länder Personal abgebaut und der Bund erlässt keine effektiven Gesetze gegen Steuerhinterzieher. So lassen Landes- und Bundespolitiker selbst die milliardenschwere Steuerflucht der Reichen zu.
Sicher ist es so, dass in Deutschland in beachtlichem Umfang Steuern entzogen werden. Die eigentliche Quelle des Reichtums aber, die überhaupt erst ein steuer- und abgabenfreies Leben ermöglicht, ist völlig legal: Es sind die Vermögenszuwächse, deren steuerfreie Realisierung nicht nur Unternehmer, sondern auch Durchschnittsverdiener wohlhabend macht. In Zahlen heißt das: Allein zwischen 1995 und 2008 stiegen die deutschen Grund- und Geldvermögen von 4.630 Milliarden Euro auf 8.200 Milliarden Euro, also um über 3 Billionen Euro.
Im gleichen Zeitraum stieg die Staatsverschuldung aber nur um 643 Milliarden Euro. Es hätte ausgereicht, einen Teil dieser Vermögenszuwächse zu besteuern - und Deutschland hätte heute noch 1 Billion statt 2 Billionen Schulden.
Ein guter Freund von mir kündigte an, seine ererbten und vermieteten Immobilien im Wert von 3 Millionen Euro nun verkaufen zu wollen. Er wird darauf nicht einen Euro Steuern zahlen müssen, denn Steuern zahlt in geringem Umfang der Erwerber, nicht der Verkäufer. Mein Freund wird darauf achten, dass sein Vermögen keine steuerpflichtigen Erträge erwirtschaftet, sondern nur Vermögenszuwächse.
In der kapitalistischen Schweiz müsste er nicht nur die fiktive Miete aus der selbstbewohnten Immobilie als Einkommen versteuern, sondern auch noch 9,5% Sozialabgaben auf sein Bruttoeinkommen, also auch auf Mieten und Zinsen leisten. Da bleibt er doch lieber im kommunistischen Deutschland.
Anhang
Links
[1]
http://www.commons.ch
[2]
http://schwarzbuch10.steuerzahler.de/start.php
[3]
http://schwarzbuch10.steuerzahler.de/topten.php?idarticle=377
[4]
http://www.finanzbuchverlag.de/mediafiles/uploads/fbv/dill-raubzug/14_Die_Lue...
[5]
http://www.manager-magazin.de/politik/artikel/0,2828,713681,00.html
[6]
http://www.heise.de/tp/artikel/33/33657/1.html
[7]
http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-58352-11.html
[8]
http://www.videoportal.sf.tv/video?id=efda1d24-3da5-4d6a-bbe7-7bbe97a78c87
[9]
http://www.heise.de/tp/artikel/33/33550/1.html
Artikel URL: http://www.heise.de/tp/artikel/34/34797/1.html
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