Gesundheitsrisiko Ungleichheit
[Junge Welt]
http://www.jungewelt.de/2011/05-03/003.php
Hintergrund: Epidemiologen untersuchen, warum in hierarchischen Gesellschaften Erkrankungsrisiken ein soziales Gefälle aufweisen
Von Michael Zander
Gezwungen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, beschloß die Bundesregierung am 3. Dezember 2010 einen Hartz-IV-Regelsatz auf neuer Berechnungsgrundlage. Für Erwerbslose und abhängig Beschäftigte war dies nicht nur deshalb eine Niederlage, weil die Erhöhung des Regelsatzes lächerliche fünf Euro betrug. Ihnen wurde obendrein noch vermittelt, daß andere darüber entscheiden, welche ihrer konsumtiven Bedürfnisse als legitim anzusehen sind und welche nicht. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) spielte sich auf Kosten der Erwerbslosen zum Moral- und Gesundheitsapostel auf. Ausgaben für Tabak und Alkohol waren aus der Berechnung gestrichen worden.
»Das sind Genußmittel, die nicht existenzsichernd sind«, belehrte die Ministerin die Öffentlichkeit (Die Welt, 27.9.10). Bereits Monate vor dem Beschluß meinte die FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger, es werde »viel Geld ausgegeben, um über die Gesundheitsschäden durch Tabak aufzuklären«. Sie sei daher nicht der Meinung, daß Rauchen zum Grundbedarf gehört. Auch habe sie »starke Zweifel, ob die Allgemeinheit den Alkoholkonsum (
) für Arbeitslose weiter bezahlen muß« (Der Tagesspiegel, 26.9.10).
Der Präsident des »arbeitgebernahen« Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, nannte den Konsum von Bier oder Zigaretten einen »Luxus«, der Erwerbslosen nicht zustehe (Rheinische Post, 25.9.10).
Ähnlich steht es übrigens mit so erlesenen Gütern wie Benzin, einem Haustier oder einem Garten, für die im Regelsatz ebenfalls kein anteiliger Betrag vorgesehen ist (Rheinische Post, 27.9.10).Daß von der Leyen, Homburger und Sinn mit derartigen Äußerungen keine dem Anlaß angemessenen Proteste ernten, dürfte nicht zuletzt etwas mit lang geschürten Vorurteilen gegen Erwerbslose und Arbeiter zu tun haben.
Diese werden häufig »Unterschicht« genannt und verdächtigt, ein ungesundes und disziplinloses Leben zu führen. Besonders drastisch äußerte sich diesbezüglich vor einigen Jahren der damalige Grüne Oswald Metzger (heute CDU): »Menschen, die von Transfereinkommen leben«, würden »nicht aktiviert«, meinte er.
»Viele« sähen »ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf« (Der Stern, 20.11.07). Thilo Sarrazin (SPD) meint, Menschen mit geringem Einkommen hätten sich gesundheitliche Probleme selbst zuzuschreiben. »Weil du arm bist, mußt du früher sterben«, heiße es, aber dies sei ein »dummer und polemischer Spruch« (Deutschland schafft sich ab, S. 121).
»Wenn es einen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit gibt, dann äußert sich dieser über Verhaltensparameter, nämlich über Ernährung, Suchtverhalten und körperliche Bewegung. (
) Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem. Diese wirkt sich auf das Verhalten aus und das wiederum auf die Gesundheit« (S. 121 ff.). Weitere Beispiele für derartige Einlassungen könnten beliebig ergänzt werden.
»Sozialer Gradient«
Tatsächlich untersucht die Epidemiologie einen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit und kommt dabei zu bemerkenswerten Einsichten. Nicht einmal Sarrazin und Co. werden bestreiten, daß in der Vergangenheit die persönliche Gesundheit stark davon abhing, welcher sozialen Klasse man angehörte. Zwar sind es in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« die Reichen, die an Tuberkulose erkranken, hauptsächlich traf es jedoch das Proletariat. Obwohl Robert Koch (18431910) bereits 1882 den Tuberkel-Bazillus als Erreger nachweisen konnte, waren es nicht im engeren Sinne medizinische Maßnahmen, mit denen man die Verbreitung der Tbc zunächst eindämmte. Lange bevor in den 1950er Jahren die ersten wirksamen Medikamente zur Anwendung kamen, konnten die Todesfälle deutlich gesenkt werden. Bewirkt wurde dies durch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse und insbesondere der Ernährungslage.Heute sind in Europa an die Stelle von Tuberkulose andere Beeinträchtigungen getreten, vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wie im 19. Jahrhundert sind davon nicht alle Klassen und Schichten in gleichem Maß betroffen. Entlang den gesellschaftlichen Hierarchien, gemessen an Vermögen, Einkommen, Bildungsabschluß und Berufsposition, besteht ein Gefälle bezüglich der Chance auf Gesundheit und Langlebigkeit. In der Fachsprache heißt das, daß Erkrankungen einen »sozialen Gradienten« aufweisen. Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieses Gradienten leisteten zwei Langzeiterhebungen in Großbritannien, die sogenannten Whitehall-Studien.
Von 1967 bis heute wurden etwa 28000 Angestellte des öffentlichen Dienstes untersucht. Das zentrale, auch für die Wissenschaftler in dieser Deutlichkeit überraschende Ergebnis lautete: Je niedriger ein Angestellter in der Hierarchie des öffentlichen Dienstes steht, desto höher sein Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung und desto geringer seine Lebenserwartung.
Im Rahmen von Whitehall I wurden zunächst nur männliche Probanden untersucht, weil man damals glaubte, Herzinfarkte seien vor allem ein Männerproblem. Whitehall II bezog dann ab 1984 auch weibliche Angestellte mit ein, und es zeigte sich, daß ein sozialer Gradient über die Geschlechtergrenzen hinweg besteht.Für eine Erklärung wäre es naheliegend, auf unterschiedliche Lebensstile zu verweisen. Die unteren Angestellten rauchen tendentiell eher, sie bevorzugen fettreichere Kost und bewegen sich weniger. Allerdings ist es möglich, in einer Statistik diese verhaltensbezogenen Faktoren herauszurechnen, indem man sie konstant hält, beispielsweise indem man nur Nichtraucher miteinander vergleicht.
Wie Analysen zeigen, kann nur ein knappes Drittel der in Whitehall II gemessenen gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Ebenen der Angestelltenhierarchie auf den individuellen Lebensstil zurückgeführt werden. Gesundheitsschädliches Verhalten spielt eine wichtige, aber dennoch eher untergeordnete Rolle. Die entscheidenden Faktoren müssen andere sein. Darüber hinaus wäre zu fragen, warum solches Verhalten in den unteren Klassen gehäuft vorkommt, auch wenn die Betroffenen über das Risiko informiert sind.
Überraschender Befund
Michael Marmot ist Epidemiologe und Leiter von Whitehall II. Bis 2008 war er Vorsitzender einer Kommission der Weltgesundheitsorganisation, die sich mit sozialen Faktoren von Gesundheit befaßt. In seinem Buch »Status Syndrome« (London: Bloomsburry, 2005) diskutiert er Forschungsergebnisse zum sozialen Gradienten von Gesundheit.Eine ganze Reihe von Krankheiten weist heutzutage einen sozialen Gradienten auf. Darunter finden sich das Risiko für Schlaganfall, Erkrankungen des Herzens, der Lunge, der Leber, des Magen-Darm-Trakts und viele psychische Leiden. Zahlenmäßig fallen bei letzteren vor allem Diagnosen der sogenannten kleinen Psychiatrie ins Gewicht, also beispielsweise Depressionen oder Angststörungen. Wer weiter unten in der Hierarchie steht, hat eine geringere Lebenserwartung und ein höheres Risiko, durch einen Unfall, Selbstmord oder Gewalt zu sterben.
Der Gradient entsteht nicht nur durch Unterschiede zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen, vielmehr erstreckt sich das Gefälle über alle sozialen Positionen. Dieser Befund ist, wie Marmot schreibt, »ziemlich überraschend«, geradezu erstaunlich: Warum sollten, wie im öffentlichen Dienst, »gut ausgebildete Menschen mit guten, sicheren Arbeitsplätzen ein höheres Risiko haben, tot umzufallen, als Menschen mit etwas mehr Bildung und einer etwas besseren Stelle? (
) Warum sollte jemand mit einem Masterabschluß eine längere Lebenserwartung haben als jemand mit einem Bachelor?« Daran knüpft sich die Frage, wie soziale Phänomene körperliche Folgen zeitigen können.
Langer Schatten der Arbeit
Eine wichtige Antwort lautet: Streß. Dieser Begriff bedeutet allerdings in der Forschung, wie Marmot betont, etwas anderes als im alltäglichen Sprachgebrauch. Streß heißt nicht einfach, beschäftigt zu sein und viele Termine zu haben. Menschen entwickeln in Bedrohungssituationen eine Form von Streß, bei der Cortisol ausgeschüttet wird und die bei Tieren die Fluchtbereitschaft erhöht. Häufiger als Erdbeben und andere bedrohliche Naturereignisse müssen Menschen soziale Gefahren fürchten, beispielsweise Beschämung oder Unterlegenheit. Chronischer Streß, so die Kernthese Marmots, weist selbst einen sozialen Gradienten auf und trägt wesentlich zu einer Vielzahl von Erkrankungen bei. Er tritt dann auf, wenn es Menschen an Autonomie fehlt, d.h. an Einfluß auf die eigenen Lebensbedingungen, an Vorhersagbarkeit von Ereignissen und an hilfreichen Beziehungen. Unter diesen Umständen werden Schwierigkeiten, die anderen als positive Herausforderung erscheinen mögen, als belastend erlebt.Marmot unterstreicht in diesem Zusammenhang den »langen Schatten der Arbeit«. Diese erfüllt in der bestehenden Gesellschaft wichtige Funktionen, von denen man im Fall von Erwerbslosigkeit ausgeschlossen ist. Arbeit sichert erstens Einkommen und Lebenschancen; zweitens hat sie Folgen für die eigene Entwicklung und das Selbstbild; und drittens definiert der Beruf den sozialen Status. Man kann, wie Marmot lakonisch anmerkt, der schlechteste Vater, Sohn oder Bruder der Welt sein; ist man beispielsweise der Arzt vor Ort, dann ist man jemand in der Gemeinde. Ob allerdings Arbeit die Gesundheit eher stabilisiert oder beeinträchtigt, hängt von ihren Eigenheiten ab. Dies betrifft nicht nur offensichtliche Belastungen wie schwere körperliche Tätigkeiten, Schichtdienst, Lärm oder den Kontakt mit Schadstoffen. Wichtig ist das Verhältnis zwischen Anforderungen und Einflußmöglichkeiten bzw. zwischen Mühen und Belohnungen. Müssen Menschen in Arbeitsbedingungen ausharren, unter denen dieses Verhältnis ungünstig ist, stellt dies ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar.
Verlust der Freiheit
Diese Einsichten haben auch Bedeutung für das, was in reichen Gesellschaften unter Armut zu verstehen ist. Rechtspopulisten wie Sarrazin verfolgen zwei Strategien: Zum einen polemisieren sie gegen einen Begriff relativer Armut. Demzufolge werde es immer Arme geben, auch dann, wenn alle ihr Einkommen verdoppeln könnten. Zum anderen bestreiten sie, daß es in einem Land wie der BRD Armut gibt, indem sie, gelegentlich mit Verweis auf die »Globalisierung«, Maßstäbe der Dritten Welt oder vergangener Epochen anlegen. Sarrazins berüchtigte Rechnung, wonach man sich auch mit einem Hartz-IV-Budget »gesund und abwechslungsreich« ernähren könne, wurde an anderer Stelle kritisiert (jW-Thema vom 23.9.10). Obendrein hält Sarrazin Gesundheit für eine »Gabe der Natur«. Daß in Deutschland die Essenstafeln florieren, habe mit Armut nichts zu tun: »Wo es etwas umsonst gibt, wird das Gesamtbudget entlastet.« Ebenso gut könne man Unterhaltungselektronik verschenken, dem fehle aber »der für Wohltäter so attraktive biblisch-emotionale Appeal (...), den eine öffentliche Speisung hat«. Das Geld würde besser investiert in »Kochkurse, Hauswirtschaftskurse und Verhaltenstrainings für die Unterschicht«. Indem er angebliche Verhaltensdefizite vorschiebt, lenkt Sarrazin vom eigentlichen Problem des Mangels ab. Mühelos kann er sich mit den Rentenansprüchen eines Spitzenbeamten als disziplinierter Asket inszenieren. Finanzielle Mittel sind aber umso wichtiger, je weniger man davon hat.Marmot zitiert eine Umfrage, in der Menschen aufzählten, was sie haben oder tun müßten, um nicht arm zu sein. Mindestens 50 Prozent der Befragten nannten folgende Gegenstände oder Aktivitäten: Kaputte Elektrogeräte und abgenutzte Möbel ersetzen, eine Wohnung mit angemessener Einrichtung bewohnen, eine Hausratversicherung, Telefon, Fernsehen, Teppiche, Geld für persönliche Ausgaben, besondere Kleidung für Bewerbungsgespräche oder andere soziale Anlässe, Familie und Freunde zu Feierlichkeiten oder zum Essen einladen, Geschenke für sie kaufen, in den Urlaub fahren. Es sind all diese Dinge des Alltags, für die bei Erwerbslosigkeit oft das Geld fehlt und die schmerzlich an die eigene soziale Lage erinnern. Armut in einem reichen Land heißt aber noch mehr. Es bedeutet, seine Freiheit zu verlieren, denn zur Freiheit gehört, an gesellschaftlichen Gütern teilzuhaben, die eigenen Lebensumstände beeinflussen zu können und nicht der Willkür anderer, beispielsweise der Behörden, ausgeliefert zu sein. Nicht das Leben führen zu können, das man führen will, verursacht chronischen Streß und damit ein erhöhtes Krankheitsrisiko. Unter diesen Umständen dürfte es sehr naheliegend sein, sich zurückzuziehen und sich mit all jenen Gewohnheiten zu entschädigen, auf die so viele Politiker gleichsam mit Fingern zeigen: Rauchen, Alkohol, fett- und kohlehydratreiche Kost und eine Bequemlichkeit, die körperliche Bewegung deutlich reduziert. »Ungesundes Verhalten« zu ändern heißt auch und vor allem, Verhältnisse zu ändern, unter denen ein solches Verhalten notwendig ist. Eine Gesundheitspolitik, die das verschweigt und obendrein noch die Lasten der medizinischen Versorgung überproportional den Geringverdienenden aufbürdet, ist nur Heuchelei.
Die Gene sind es nicht
Klagen über angebliche Lasterhaftigkeit der Armen wird übrigens nicht erst in unseren Tagen geführt. Bereits eine der ersten sozialwissenschaftlichen Studien überhaupt, Friedrich Engels' »Lage der arbeitenden Klasse in England« von 1845 spielt kritisch auf diese Sichtweise an: »Die Fehler der Arbeiter lassen sich überhaupt alle auf Zügellosigkeit der Genußsucht, Mangel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die soziale Ordnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augenblicklichen Genuß dem ferneren Vorteil zu opfern, zurückführen« (MEW 2, S. 355). Dies sei jedoch kein Wunder. »Eine Klasse (...), die allen möglichen Zufällen unterworfen ist, die gar keine Sicherheit der Lebenslage kennt, was für Gründe, was für ein Interesse hat die, Vorhersicht zu üben, ein solides Leben zu führen und, statt von der Gunst des Augenblicks zu profitieren, auf einen entfernteren Genuß zu denken, der gerade für sie und ihre ewig schwankende, sich überschlagende Stellung noch sehr ungewiß ist?« (ebd., S.355f.)Marmot befaßt sich ausführlich mit konkurrierenden Erklärungsansätzen für den sozialen Gradienten und insbesondere für das erhöhte Krankheitsrisiko bei Erwerbslosigkeit. Die genetische Ausstattung kann demnach nicht entscheidend sein, denn die ist relativ konstant geblieben, während neben der Gesundheit beispielsweise auch die gemessene Intelligenz oder die Körpergröße sich in historisch kurzer Frist erhöht haben; gleichzeitig haben sich die Relationen ihres sozialen Gradienten verschoben. Aus den epochalen Verbesserungen der Gesundheit leitet Marmot seinen Optimismus zur Änderbarkeit der ungleichen Risiken ab. Neben der Genetik berufen sich manche Ansätze auf die These, daß nicht Erwerbslosigkeit krank mache, sondern daß umgekehrt Kranke schwieriger eine Stelle bekämen und behielten. In der Regierungszeit Margaret Thatchers stieg die Erwerbslosigkeit so stark an, daß eine schlechtere Gesundheit der Entlassenen nicht länger als Erklärung taugte. Ein weiteres schlagendes Gegenbeispiel sind die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa. Bereits in den letzten zwei Jahrzehnten des damaligen Sozialismus sowjetischer Prägung verringerte sich die Lebenserwartung im Vergleich zu Westeuropa. Mit Einführung des Kapitalismus, dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Infrastrukturen und dem starken Anstieg der Erwerbslosigkeit sackte sie insbesondere in der ehemaligen Sowjetunion jäh ab. Bald klaffte zwischen der Lebenserwartung von Jugendlichen in der EU und derjenigen in Rußland eine Lücke von 15 Jahren! Dafür entwickelten sich im neuen Kapitalismus krasse soziale Ungleichheiten, deren spektakulärstes Merkmal eine reiche und verschwenderische Oberschicht ist. Russische Erwerbslose sollen diese Lage mit dem Satz kommentieren: »Das Schlimmste am Kommunismus ist der Postkommunismus.« Durch eine höhere Erkrankungsrate unter den Entlassenen können diese Entwicklungen jedenfalls nicht erklärt werden.
Ländervergleiche
Für Aufsehen sorgte 2010 die deutsche Übersetzung eines Buchs der britisch-amerikanischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson (Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Frankfurt/M.: Tolkemitt). Im Mittelpunkt des Buchs steht der Vergleich zwischen reichen Gesellschaften, der bei Marmot eher am Rande behandelt wird. Die Autoren zeigen statistische Korrelationen zwischen der Verteilung der Einkommen und dem Ausmaß von gesundheitlichen und sozialen Problemen, die innerhalb der Gesellschaft einen sozialen Gradienten aufweisen. Je höher die Ungleichverteilung der Einkommen, desto geringer ist die Lebenserwartung und desto häufiger sind psychische Leiden, Teenagerschwangerschaften, Schulabbrüche, Tötungsdelikte, der Anteil von Inhaftierten an der Bevölkerung usw. In den zahlreichen Grafiken stehen die USA, Großbritannien und Portugal meist auf der ungünstigen Seite der Verteilung, Japan und die skandinavischen Länder am anderen Ende. Frankreich, Kanada, Deutschland, Griechenland und andere bilden das Mittelfeld. Als wichtigen kausalen Faktor betrachten die Autoren wiederum Streß und Statusangst, die durch Konkurrenz und Hierarchien ausgelöst werden. Im Ländervergleich wird besonders deutlich, was auch Marmot betont, daß nicht nur Arme von sozialer Ungleichheit negativ betroffen sind, sondern alle Mitglieder einer Gesellschaft, also selbst die Reichen. So liegen die Erkrankungsraten bei Diabetes, Bluthochdruck, Lungen- und Herzkrankheiten in den USA höher als in England, und dies betrifft alle Bildungsschichten. Und in Schweden fallen die Sterbeziffern (Todesfälle pro 10000) unter den Männern im arbeitsfähigen Alter über alle Schichten hinweg geringer aus als in England und Wales. Auch die Wohlhabenden und Gebildeten müssen um ihre soziale Position fürchten. Um den Gefahren einer unsicheren Gesellschaft zu begegnen, beschäftigen sie beispielsweise Sicherheitsdienste und ziehen sich in bewachte Wohngegenden, sogenannte gated communities zurück.In einem Beitrag für das renommierte British Medical Journal befassen sich Marmot und Wilkinson mit dem Einwand, die Konzentration auf psychosoziale Faktoren vernachlässige den materiellen Mangel und begünstige so eine konservative Politik, die auf Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen der Armen verzichte. Dem halten sie eine Studie entgegen, wonach Schwarze in den USA ein vierfach höheres Einkommen hatten als in Costa Rica, aber eine um neun Jahre geringere Lebenserwartung. Letztere müsse etwas mit den psychosozialen Effekten relativer Armut zu tun haben, etwa mit Bildungsbenachteiligungen, Rassismus, Geschlechterdiskriminierung oder Angst vor Verbrechen. Zu zeigen, daß eine gesellschaftliche Struktur und relativer Mangel schmerzliche psychosoziale Folgen haben können, sei das genaue Gegenteil von »victim blaming«, also des Versuchs, den Betroffenen die Schuld an ihrer Lage in die Schuhe zu schieben.Befürchtungen, sie seien möglicherweise für Sozialismus, suchen Pickett und Wilkinson zu beruhigen. Alle Daten stammten aus »entwickelten marktwirtschaftlichen Demokratien«; zu diskutieren sei nicht über »Demokratie an sich«, sondern »über die Unterschiede zwischen demokratischen Gesellschaften«. Es brauche »gewiß keine Revolution, um die Dinge zurechtzurücken«. Diese Stellungnahme wirft sicher viele Fragen auf. So ließe sich etwa einwenden, daß nicht alle der untersuchten Länder in gleichem Maße demokratisch sind und daß unter Umständen auch Demokratien zu ihrer Durchsetzung Revolutionen und zu ihrer ungehinderten Entwicklung Sozialismus benötigen könnten. Damit verläßt man allerdings die Ebene der Befunde und ihrer Interpretation und wendet sich der politischen Strategie zu.An dieser Stelle ist vielleicht von Interesse, wie der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel das Buch von Pickett und Wilkinson kommentiert. Unter der Überschrift »Ungleichheit ist besser« schreibt er im Berliner Tagesspiegel (14.12.10): »Menschen verbinden Glück, Fortschritt und Lebenschancen nicht mit Gleichheit sondern mit Freiheit. Um diese Freiheit sorgen sich Liberale. (
) Der Liberalismus unterscheidet sich von der Philosophie der Gleichheit dadurch, daß er Ungleichheit nicht bedauert, sondern als Preis der Freiheit akzeptiert sofern sie Ergebnis eines fairen, an für alle gleichen Regeln orientierten Wettbewerbs ist. (
) In der Freiheitsordnung ist der Starke nicht automatisch und dauerhaft stark, der Schwache nicht automatisch und dauerhaft schwach. Freiheit, Chancengerechtigkeit und soziale Durchlässigkeit sind die Quellen der Hoffnung, daß Schweiß und Tränen durch sozialen Aufstieg belohnt werden. Wer wissen will, wofür die FDP arbeitet: dafür.«Damit wäre das auch geklärt.
* Michael Zander ist Psychologe und lebt in Berlin
* Michael Zander ist Psychologe und lebt in Berlin
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