Ausbildung und Einbildung
DIE KLASSENGESELLSCHAFT VERTEILT IHRE KARRIEREN
Daß jedermann durch einige Instanzen der Ausbildung geschleust wird, hat, wie vieles andere Wirken, dem bürgerlichen Sozialstaat seltsame Komplimente eingetragen:
- Das moderne Gemeinwesen soll sich um die Beseitigung der Unwissenheit verdient gemacht haben, an der frühere Generationen laboriert hätten; die breiten Massen soll er aus der unverschuldeten Unmündigkeit befreit haben, zu der sie der automatische Ausschluß vom Alphabet verurteilt hätte.
Eine nicht gerade überzeugende Darstellung der Leistungen allgemeiner Schulpflicht, bedenkt man, daß für jeden Anlaß - von medizinischen über fernsehtechnische bis zu Fragen der Atomkraftbenutzung und ihrer Folgen - die gewöhnlichen Leute auf die kundigen Auskünfte und Ermahnungen von Fachleuten aller Art angewiesen sind. Zumal von deren Aufklärung nie viel mehr übrig bleibt als ein paar Anweisungen, wie man sich auf dieses oder jenes einzustellen habe. Ganz zu schweigen von den moralischen Übungen, in denen der Rat von Psychologen und Gottesmännern jegliches Bescheidwissen ersetzt. Auch den bürgerlichen Bildungspredigern ist im übrigen aufgefallen und Anlaß zu geheucheltem Kopfschütteln, daß mitten in der modernen 'Bildungsgesellschaft' eine Unmenge Analphabeten herumturnen und sich wie viele andere nützlich machen, ohne dabei sonderlich negativ aufzufallen.
- Die moderne Demokratie soll das Bildungsprivileg und damit ein Stück überkommene Klassenschranken weggeräumt haben. Weil allen 'gleiche Bildungschancen' eröffnet sind und nur noch das 'Leistungsprinzip' gilt, soll jedem im Prinzip die ganze Welt offenstehen und jeder den seinen individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten und Anstrengungen gebührenden Platz in der Gesellschaft finden.
Auch das keine übermäßig glaubwürdige Interpretation des bürgerlichen Ausbildungsbetriebs. Zur Beseitigung oder auch nur 'Nivellierung' der kleinen Unterschiede zwischen Kanzlern, Unternehmern, Richtern, Professoren und Pfaffen auf der einen Seite, Fabrikarbeitern und Büroangestellten auf der anderen Seite hat das allgemeine Bildungswesen jedenfalls nicht geführt. Das will auch keiner behaupten; selbsterarbeitet und daher gerecht soll es aber zugehen. Daß die Nachkommenschaft der unteren und oberen Schichten nach ihrer Teilnahme an den öffentlichen Bildungsveranstaltungen mehrheitlich wieder dort landet, wo sie herkommt, ist in der 'Mobilitäts'-Gesellschaft allerdings auch kein Geheimnis, sondern Gegenstand der Ausdeutung. Darüber hinaus besagt der freie Zugang zur Bildung wenig über Inhalt und Zweck dieser gesellschaftlichen Veranstaltung, also auch wenig über die Kenntnisse, die dort vermittelt, die Fähigkeiten, die gefordert, die Anstrengungen, die honoriert werden. Wenn jetzt Proletarier außer "Bild" auch noch den Erlkönig und sogar Marx lesen können, so daß nach dem Befund revisionistischer Geschichtsprüfer heutzutage endlich eine fortschrittliche Bewußtseinsbildung der breiten Massen möglich und letztlich unausweichlich ist, so heißt das noch lange nicht, daß sie mit diesem Angebot und dieser Freiheit etwas anfangen können. Volksbildung macht weder zufrieden noch subversiv. Sie verteilt Karrieren. Und die gehen anders; sowohl bei den gebildeten Schichten als auch beim großen Rest.
Wissen="Macht" - oder brotlose Kunst? Eine falsche und gar nicht ernst gemeinte Alternative bürgerlicher Berechnung in Sachen Ausbildung
An der gängigen Behauptung, die Ergebnisse organisierten Nachdenkens seien praktisch dasselbe wie 'Macht' und 'Kapital', also die Verfügung über Gewaltmittel und Reichtum, ist nur eins richtig: Irgend wie spielt hierzulande das Wissen eine staatstragende Rolle; irgendwie gehört seine Anwendung zum wirtschaftlichen Wachstum der Nation. Aber keine noch so wohlklingende Theorie über die Dreieinigkeit von Politik, Geist und Kultur kann zustandebringen, daß ein wissenschaftliches Ordnungsmodell dasselbe ist wie die tagtägliche Herstellung einer genehmen Staatsordnung. Und die Fortschritte der theoretischen und praktischen Naturbeherrschung verwandeln sich auch nicht automatisch und naturnotwendig in wachsende Milliarden auf privaten Geschäftskonten und Arbeitsplatz- und Lohnverluste. Wofür Maschinen und andere feine Erfindungen eingesetzt werden, ist nämlich keine Frage richtiger Naturerkenntnis. Für die andere Wissenschaftsabteilung kann von Durchschauen der gesellschaftlichen Verhältnisse oder ihrer Einrichtung gemäß vernünftigen Überlegungen gar keine Rede sein. Staatsapparat, eherne Eigentumsordnung, selbst Moral und passendes Sittengesetz sind vorgegeben, wenn Geistesgrößen sich zu ihrer vielfältigen Begründung aufschwingen. Die Verfassungsmäßigkeit der Gedankenbahnen ist sogar gesetzlich verbürgt. Macht, Kapital und Wissen hängen umgekehrt zusammen. Die Inhaber der Herrschaft, die Besitzer der Produktionsmittel und der Finanzmittel bestimmen die Entwicklung des Wissens, vergeben und finanzieren allgemeine und besondere Aufträge und verfügen über die Ergebnisse einschließlich der hellen Köpfe, in denen diese ja drinstecken. Deshalb sortiert sich jeder Gedanke so naturnotwendig nach den Gegebenheiten von Politik und Geschäft.
Deswegen ist aber Wissen auch alles andere als graue Theorie, unnützer Luxus und brotlose Kunst. Sicher, die Politiker in Bonn und anderswo verwerfen manche schöne Problemlösung, die ihnen für ihre schweren politischen Entscheidungen von Wissenschaftlerseite entwickelt wurde; manche Entdeckung erscheint den Geschäftsleuten zu unrentabel zur Anwendung, manche ausgereifte Technik zu teuer im Vergleich zur billigen Arbeitskraft; und die vielen Sinndeutungen der modernen Welt kommen nie zu der Wirkung, die sie sich so gerne zusprechen. Aber wo Bedarf nach Gedanken als Herrschafts- und Geschäftsmittel besteht, und das ist keineswegs selten, erfreuen sie sich der größten Wertschätzung, auch wenn sie selber die ihnen zugeschriebene Bedeutung gar nicht rechtfertigen und völlig kostenlos gedacht werden können. So stimmt auch nicht der Generalverdacht einer gewissen Nichtsnutzigkeit gegen einen ehrenwerten bürgerlichen Berufsstand, der sich getrennt vom praktischen Treiben um die Lieferung brauchbaren Gedankenguts bemüht, zumal mit Händen zu greifen ist, daß ohne die frei organisierte Forschungs- und Sinnstiftungstätigkeit der Natur- und Geisteswissenschaft Gesellschaft und Staat nicht auskommen wollen. Der Verdacht kommt ja auch ohne ein einziges Wort der Kritik gegen den Inhalt des Gedankenguts aus, das er verächtlich macht. Um eine rationelle Unterscheidung zwischen nützlicher Naturwissenschaft und höherem Blödsinn, zwischen richtigen und daher tauglichen Einsichten und apologetischen, also spinnösen Gedankengängen geht es gar nicht. Da gilt das Motto: ,Das mag ja alles stimmen, aber was nützt es!' Auch will keiner auf Eindeutigkeit und Richtigkeit des Denkens gegen Pluralismus bestehen, wenn er auf das Sammelsurium unterschiedlichster Theorien verweist, bei denen sich keiner mehr auskenne und mit denen deshalb nichts anzufangen sei. Diese Eigenart moderner Gesellschaftswissenschaft gilt ja als das demokratische Gütesiegel einer freien Wissenschaft, die einen Angebotskatalog und kein Vorschriftenwesen liefern soll.
Auch wenn die Gültigkeit von Gedanken in der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt wird, kommt dasselbe gegensätzliche Verwechslungsspielchen zur Anwendung. Einmal heißt es, daß heutzutage Wissenschaft per se höchste 'Autorität' genieße. So als seien Kenntnisse und Erkenntnisse dasselbe wie die offizielle Anerkennung ihrer Träger und als hätte die prinzipielle Hochachtung vor den Geistesvertretern ihren Grund in den mannigfachen Einsichten, die man ihnen verdankt. Dabei verhält es sich wieder umgekehrt: Bildung und Wissen, die nicht vom Staat beglaubigt, in Amt und Würden eingesetzt, als gültiger Wissenskanon festgeschrieben und zur Anwendung gelangt sind, gelten wenig bis gar nichts. Nur wenn sie in den Rang einer staatsdienlichen Theorie erhoben werden, sei es, weil sie an der Universität mit Amtsautorität gelehrt werden, sei es, daß Bonner Umweltpolitiker sich von den einen die staatsverträglichen Belastungsgrenzwerte vorrechnen lassen, von anderen aber lieber nicht.
Umgekehrt will diese Anerkennung durch genehme Ergebnisse immer neu verdient sein. Parteiliche Ordnungsdogmen und gewinnträchtige Auskünfte über die Natur sind schon verlangt, wo's um Autorität geht. Deswegen wird der Abteilung 'gesellschaftliches Nachdenken' gern der Vorwurf gemacht, sie untergrabe nur Autorität, statt eine darzustellen. 'Intellektueller' steht gleichbedeutend für die Beschimpfung, statt verbindlicher Auskünfte und Verhaltensmaßregeln, wie sie sich gehören, nur schädliche Zweifel an allem und jedem zu säen. Daß jede theoretische Beschäftigung Distanz zu ihrem Gegenstand unterstellt, gilt da schon als gefährliche Infragestellung der Sache. So lassen sich auch noch die verantwortlichsten und parteilichsten Gedankengänge von den wirklichen Autoritäten der Gesellschaft in den Ruf unverantwortlicher Besserwisserei bringen; und Kritik kann gar nicht "konstruktiv" genug sein. Das sind die Folgen des liberalen Staatsinteresses, die Gedanken frei blühen zu lassen, damit sie sich der Zensur "der Gesellschaft" stellen.
Gerne wirft alle Welt auch Wissen und persönlichen Erfolg in einen Topf. 'Wer lernt, kommt auch zu was', heißt es, und Erfolg und Mißerfolg führt man darauf zurück, daß der eine 'schlau', der andere aber 'dumm' ist, es also an intellektuellen Fähigkeiten fehlen lasse und deswegen 'der Dumme' ist. Zwar steht man mit einem guten Abitur und einem erfolgreich abgeschlossenen Studium auf der richtigen Seite der feinen Gesellschaft; aber doch nur deshalb, weil die Gleichung Wissen="Karriere" in die staatliche Entscheidung fällt und sich der Wissenserwerb an seinen staatlichen Bedingungen bewährt hat. Ohne bestandene Prüfungen, akademische Titel und vor allem entsprechenden Posten gilt keiner wirklich als intelligent. Meistens wird deshalb die Gleichung rückwärts buchstabiert: Der gesellschaftliche Erfolg bezeugt allemal den entsprechend gebildeten Charakter.
Die Umkehrung dieser opportunistischen Auffassung folgt nicht selten auf dem Fuß: 'Studiertsein bringt's für sich gar nicht.' 'Schlau' ist deswegen ein Synonym für gekonnte Berechnung in Erfolgsdingen. Es ist nämlich geläufig und akzeptiert, daß, wie alles, auch Bildung nur dann etwas wert ist, wenn sie zu einer Karriere taugt und sich an den Anforderungen der Berufswelt bewährt hat.
Ein gutes Zeugnis stellen diese Auffassungen der Ausbildung und dem Wissen in dieser Gesellschaft nicht aus. Erstens, weil sie den berechnenden Umgang für selbstverständlich halten und danach jeden Gedanken beurteilen und charakterisieren. Zweitens, weil das gar keine vereinzelte Privatspinnerei, sondern gültige Auffassung ist, die insbesondere die Geistesgrößen und politisch Verantwortlichen selber pflegen. Drittens, weil es sich bei diesen Ideologien also um ein Stück Bildungsgut handelt, das gepflegt und verbreitet wird. Viertens, weil damit die staatlichen Berechnungen mit seinem Ausbildungs- und Wissenschaftsbetrieb zwar nicht erklärt, aber unterschrieben werden. Fünftens, weil damit als gerecht gilt, daß sich die Erfolgserwartungen der Mehrheit an den gültigen Voraussetzungen für eine Karriere blamieren, noch bevor sie richtig ausgebildet ist.
Das moderne Schulwesen: Lehren, um zu unterscheiden - Lernen, um zu konkurrieren
Der bürgerliche Staat hat sich das Monopol auf die Ausbildung gesichert. Mit der Schulpflicht eröffnet er den Verpflichteten einen nach Dauer, Inhalt und Differenzierung vorgeschriebenen Weg und befreit die Ausbildung des Jungvolks von den Momenten des Zufälligen und Privaten. Hing es früher an der Laune eines Gönners oder am Geldbeutel des Vaters, ob ein junger Mensch ins vorhandene Wissen eingeführt wurde, so macht der heutige Staat für alle seine angehenden nützlichen Mitglieder die Aneignung von Kenntnissen, theoretische Bildung, gleichermaßen zur Pflicht. Es geht ihm um Volksbildung, und ein privates Schulwesen duldet er nur in Unterordnung unter sein Schema. Mit seiner Schulpflicht stellt der Staat klar, daß die Vermittlung von Wissen nach Inhalt, Art und Umfang eine gesellschaftliche Angelegenheit und keine Privatsache ist. Für seine und der Wirtschaft Zwecke ist ein olk heutzutage nur dann für nützlich zu erachten, wenn es mit Wissen ausgestattet ist. Im Unterschied zu den "Entwicklungsländern", wo eine allgemeine Ausbildung erst einen Anreiz dafür schaffen soll, daß ausländisches (Kapital-)lnteresse diesen Produktionsfaktor um die anderen geldlichen und sachlichen Bestandteile der Produktion ergänzt, steht für die demokratische Klassengesellschaft fest, daß sie ein konkurrenztüchtig ausgebildetes Volk braucht und anwendet.
Nicht fest steht jedoch, für wen wieviel Wissen notwendig ist. Das soll eben die Schule herausfinden, und zwar indem sie Schüler unterschiedslos mit dem Wissen konfrontiert. Das Resultat ist jedermann bekannt: Mit der Herstellung eines gebildeten Volkes ist die Volksbildung wirklich nicht zu verwechseln.
Leistung berechtigt zu mehr Leistung
In dieser Konfrontation mit dem Wissen wird der Schüler auf seine Lernfortschritte hin geprüft. Festgestellt und dokumentiert wird diese in der Notengebung. Regelmäßig muß der Schüler nachweisen, wie es um sein Mitkommen bestellt ist - er wird bewertet. Diese Bewertung geschieht einfach und objektiv in 6 Stufen von "sehr gut" bis "ungenügend":
"LEISTUNGSPRINZIP: der Grundsatz, daß Lern- und Arbeitsleistung im Vordergrund stehen müssen, im Unterschied zu den Bestrebungen, die Schulerziehung ausschließlich auf die Förderung der Individualität und des subjektiven Ausdrucksbedürfnisses der SchüLer zu gründen. Die Unterrichtsleistungen der Schüler werden in Noten (Leistungsstufen) ausgedrückt. Die ständige Konferenz der Kultusminister hat am 23./24.1.1953 folgende Notenstufen festgelegt..." (Brockhaus)
Wenn der Zweck der Leistungsbewertung so offenkundig ist, muß erst einmal rätselhaft bleiben, wieso sich dann "Bestrebungen" halten, die auf den ersten Blick einen ganz entgegengesetzten Zweck verfolgen. Es wird wohl so sein, daß sie auf den zweiten Blick die genau passende Ideologie zum "Leistungsprinzip" sind...
Für jede Altersstufe ist ein bestimmter Lernstoff festgelegt, den sich jeder Schüler im Verlauf des so eingeteilten Schuljahres aneignen soll. Diese Aneignung wird als Leistung gemessen. Die Konsequenzen "mangelhafter" oder "ungenügender" Leistung sind bekannt: Der Schüler hat das Jahr zu wiederholen, und tritt keine Verbesserung ein, so ist ihm die nächsthöhere Stufe des Lernens vorzuenthalten - er hat eine Leistung nicht vollbracht, die ihn dazu berechtigt hätte, sich die nächste Leistung abverlangen zu lassen. Mit der 4. bzw. 5. Jahrgangsstufe kommt es zu einer prinzipiellen Gabelung: Die Mehrheit geht in die Hauptschule, wo nach allgemeiner Überzeugung kein wesentlicher Zugewinn an Wissen mehr stattfindet; die Minderheit hat die Anfangsgründe der Allgemeinbildung mit dem Nachweis absolviert, daß ihr eine "Verallgemeinerung" ihres Wissens zusteht.
Offensichtlich stellt die Volksbildung also einen Katalog der Allgemeinbildung auf, u m nach den wenigen zu suchen, die einen möglichst weitreichenden Durchgang durch diesen Katalog verdienen. Wissenserwerb als gemessene Leistung ist als Mittel eingerichtet, Tauglichkeit am Schüler herauszufinden. Aus dem Befund über seine Leistungen wird ein Urteil über seine Befähigung schlechthin. Und diese "erschlossene" Eigenschaft entscheidet dann über die Frage: Ist der Schüler geeignet für die nächste Stufe? Die Auslese aus dem Schülermaterial dringt auf Unterschiede: Sie mißt an den Schülern die Quanta Wissen, die sie sich einverleibt haben - daran werden sie verglichen, und danach werden sie sortiert.
Der (die) Fächer der geistigen Anstrengung
Wie bei jeder anderen Leistungsmessung auch, wird die schulische Leistung gemessen als sachgemäße Anstrengung i n der Zeit. Die Anstrengung besteht in der Betätigung des Geistes in allen seinen Abteilungen. Die Sache ist der Lernstoff, der zum einen aufgenommen und wiedergegeben sein will, zum anderen dem Schüler eigene Schlußfolgerungen und Urteile abverlangt. Die Zeit ist gegeben als Schulstunde und Schuljahr, woraus sich wiederum die Zeitdauer für die punktuelle Überprüfung des Gelernten ("Klassenarbeit") ableitet. Die Zeit ist natürlich immer knapp bemessen, da sich nur so die Anstrengung einstellt - Anstrengung auf Grundlage der Freiwilligkeit unterstellt die Schule wohlweislich nicht. Das wäre ein ziemlicher Widerspruch: Freiwilligkeit unterstellt ein selbstgebildetes Interesse am Gegenstand, woraus sich dann Anstrengung als nützlich oder erfreulich ergibt - die Leistungsmessung beruht jedoch auf einem allen Kindern gleichermaßen vorgegebenen Stoff, an dem sie zu zeigen haben, wieviel davon sie sich in bestimmter Zeit eintrichtern wollen und können. Inwiefern sich daran wieder ein Interesse bildet, wird sich zeigen; eins ist jedoch jetzt schon klar: Wenn sich schon einmal ein Interesse ganz aus der Interessantheit des Gegenstandes begründet, dann wird es von der Schule entweder vereinnahmt oder ausgeschieden.
Zunächst einmal müssen die Kinder zeigen, daß sie bei jedem Fach dessen spezifische Anforderung an den Geist begriffen haben und die damit verbundene Anstrengung aufzubringen bereit sind. Sie müssen sich des weiteren bewußt machen, daß diese Anstrengung auf Dauer verlangt ist, daß sich die nächsten 8-12 Jahre in erster Linie um die Schule drehen und Spiel und Vorstellungswelt dem unterzuordnen bzw. zugunsten der schulischen Leistung abzuschaffen sind. Beim
Rechnen
geht es darum, sich einige Regeln anzueignen und es zu einem möglichst fortgeschrittenen Grad der mechanischen Fertigkeit der Anwendung zu bringen. Der Geist soll sich zu einem gewissen Automatismus bequemen und auch aus verschlüsselten Aufgabenstellungen möglichst zielstrebig zu diesem Automatismus zurückkehren, und zwar dalli. Sicherheit in der Kenntnis der Regeln und Sicherheit in der gleichförmigen Anordnung des Zahlenmaterials ist verlangt. Für den Schüler geht das nicht ohne Übung ab. Wer an dem Kriterium "Aufgabe pro Zeit" scheitert, der schließt sich vom Wissen über die Grundlagen des Rechnens aus. Wer Mathematik lernen will, der muß zuvor die mechanische Abteilung dieser Geistestätigkeit besser beherrschen als der Prozentsatz von Schulkameraden, der über dieses Unterrichtsfach hinaussortiert wird. Ein praktisches Überbleibsel bleibt auch für die: Um die Stücke am Arbeitsplatz zu zählen oder einen Einkauf abzuwickeln, brauchen die allermeisten die Finger nicht mehr als Zählhilfe zusätzlich zu belasten. Bei den
naturwissenschaftlichen Fächern
trifft die Schule eine Auswahl eigener Art. Die Einführung in einige Naturgesetze hat zumeist exemplarischen Charakter. Inwiefern der Schüler bei der Demonstration des Magnetfeldes oder bei einer Verfärbung zweier zusammengeschütteter Chemikalien einen Schluß auf die "dahintersteckenden" Naturgesetze zieht und umgekehrt seinerseits zu ein paar Ableitungsschritten imstande ist, wird ihm zwar angedeutet, bleibt aber im wesentlichen seine eigene Geistesleistung. Wenn er es nicht schafft, sich den Stoff darüber "leicht" zu machen, bleibt ihm immer noch, sich das "Beispiel" zu merken, ohne zu wissen, wofür es ein Beispiel sein soll. Wenn man das Fach früh genug abwählen darf, kommt man unter Umständen sogar bis zum Abitur, ohne nennenswerte Naturgesetze begriffen zu haben.
Die
Fremdsprachen
sind für die Leistungsmessung insofern sehr geeignet, als für ihre Beherrschung eine leicht überprüfbare Gedächtnisleistung die erste Voraussetzung ist. Nur wer ein - sich ständig erweiterndes - Quantum an Vokabeln und grammatikalischen Regeln auf Abruf speichert, wird es auch hinkriegen, die eigenen bzw. vorgegebenen Gedanken in eine fremde Sprache zu transponieren. Somit ist diese Gedächtnisleistung auch Voraussetzung für die "Feinheiten des Ausdrucks", für die Freiheiten im Gebrauch der Sprache, an denen ein Schüler sich wieder unterscheiden soll.
Eine intellektuelle Tüchtigkeit eigener Art
Das im Nebeneinander der Fächer immer wieder zuschlagende 'Leistungsprinzip' drückt eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den bestimmten Inhalten aus. Es kommt eben auf die Betätigung aller von ihnen geforderten Geistesleistungen an - das Sich- Bewähren im Nebeneinander der Fächer kommt einem Test auf das gesamte geistige Befähigtsein gleich, das sich aus Übungseifer, Kombinationsfähigkeit, Merkleistung, Gedächtnis, Schlußfolgern, Urteilen usw. zusammensetzt. Wohlgemerkt: Dieses Konglomerat macht nach Auffassung der Schule die Bestandteile der geistig gebildeten Person aus und ist nicht mit der wirklichen Beschaffenheit des Geistes zu verwechseln. Dabei widerlegt die Schule selbst den Aberglauben, die Menschheit würde sich nach "Dummheit" bzw. "lntelligenz" als einer immanenten Beschaffenheit des Geistes unterscheiden - auch wenn sie für die Resultate ihres Wirkens diese volkstümliche Erklärung gerne gelten läßt, da diese dann ja eine unwidersprechlich-naturhafte Qualität erhalten. Unter Eltern wie Pädagogikprofessoren erfreut sich die Lehre von der unterschiedlichen Begabung, aus der die unterschiedliche Schulleistung mit Naturnotwendigkeit folgen soll, größter Wertschätzung. Dabei verlangt gerade die Schule für ihre Lernziele eine zivilisatorische Errungenschaft, die die Umwelt keinem Gen in die Wiege legt. Der Schulerfolg beruht auf einer intellektuellen Tüchtigkeit eigener Art, nämlich darauf, daß der Schüler sich mittels seines Willens zur Erfüllung der schulischen Anforderungen zwingt. Gleichgültig gegenüber bestimmten Vorlieben oder Abneigungen fordert die Schule gleichgewichtige Befassung mit allen Fächern, ist also auch rücksichtslos gegen "individuelle Schwächen", die sie von ihrem Standpunkt aus ganz richtig als unwichtige Zufälligkeiten ansieht. Ihre Maxime ist der Durchschnitt, und wo der anzusetzen ist, muß man genauso ihr überlassen wie die Festlegung des Lernstoffs. Das Institut des Notenausgleichs ist somit nur ein scheinbares Entgegenkommen an die individuellen Neigungen: Wer eine Schwäche in einem Fach aufweist, muß den Nachweis erbringen, daß dies nicht einer prinzipiellen Leistungsschwäche geschuldet ist, indem er nämlich überdurchschnittliche Lernleistungen in anderen Fächern kompensatorisch nachweist; um einzelne individuelle Flops mag sich die Schule nicht kümmern, wenn sich der Schüler nur insgesamt als leistungsfähige und -bereite Person beweist. Im übrigen ist auch eine solche Schwäche auf Dauer zumindest in ein "ausreichend" umzuwandeln...
Die Schule lügt also nicht, wenn sie behauptet, die "Gesamtperson" zu beurteilen - es ist ja die von ihr geschaffene "Gesamtperson". Die Noten messen keine Intelligenzquotienten, sondern sind die Darstellung des Vergleichs zwischen Anforderungskatalog und Anforderungserfüllung und vergleichen zugleich die Schüler untereinander. Dabei kommt für jeden Schüler ein Notenschnitt heraus, aus welchem sich erkennen läßt, in welchem Umfang er seinen Geist dazu gebracht hat, die Note als die einzig gültige Verobjektivierung seines Geistes zu nehmen. Er muß einsehen und sich darin einrichten, daß das Ganze seiner Neigungen und Abneigungen, Stärken und Schwächen nur soviel "wert" ist, wie es sich hintennach als Note herausstellt. Die "Gesamtperson" wird um so respektabler, je erfolgreicher sie sich den Anforderungen der Schule unterwirft.
Moralität als Lernerfolg
Diese Unterwerfung produziert ihre eigene, dazugehörige Moral. Umgekehrt: Ohne diese Moral ist schulische Leistung gar nicht zu erbringen. Sie hat ihren Ursprung in der Verdoppelung des Lernens: Es ist die Aneignung vorgegebenen Stoffes und es ist die damit einhergehende Anstrengung, die getrennt davon abstrakt aufgebrachte Bereitschaft, ihn sich fraglos und in der geforderten Zeit anzueignen. Es ist eine Leistung eigener Art, an jedem Gegenstand das Moment des spontanen Desinteresses nicht und das Interesse nur soweit gelten zu lassen, wie es der staatliche Lehrkanon vorschreibt.
Am "Fehler" mancher Schüler, die mangelnde Aneignung des Stoffs durch die bloße Bekundung der Bereitschaft - vom Gehorsam bis zur Schleimerei - kompensieren zu wollen - ein "Fehler", dessen ausbleibender Erfolg sie entweder zu immer peinlicheren Selbstdarstellungsformen animiert, oder sie zur Absage bewegt: "Ich bin hier sowieso fehl am Platze" -, läßt sich ersehen, daß eben beides erforderlich ist. Die Schule läßt sich Wissen durch Bravheit nicht abhandeln; andererseits bringt es zu einem "Wissenden" - also zu einem, der das Klassenziel erreicht - auch nur der, der ein gerüttelt Maß an Bravheit aufbringt. Wenn er nämlich für die Schule lernt und das Verhältnis Schule-Schüler als ein Unterordnungsverhältnis begriffen hat, dann braucht es für ihn nicht Duckmäuserei und Leisetreterei, sondern gerade im Gegenteil ein verständiges Sich- Einrichten: Die schulischen Zwecke und Anforderungen haben nun mal "Vorrang".
Daran lernen die Schüler schließlich, sich selbst und andere nach "vernünftigen Kriterien" zu beurteilen. Aus den Noten erschließen sich ihnen die Grade der Bewährung, die sie nach Meinung der Schule nachweisen konnten. So mancher tolle Hecht auf der hintersten Bank wird darüber allmählich ganz grau, und sehr rasch bilden sich schon im kindlichen Hirn feste Vorstellungen, was ein "Guter" und was ein "Schlechter" ist, wer "was kann" und wer "zurecht rausfliegt". Da die Noten unübersehbare gesellschaftliche Gültigkeit haben, der Staat keinen Zweifel daran läßt, daß er seine leistungswilligen Jungbürger durch diese Brille betrachtet und sortiert, kommen jene gar nicht umhin, diese Beurteilung als das Urteil über die Person zu nehmen - freilich nie ohne die begleitende Klage über "Ungerechtigkeit". Aber alles Räsonieren über "eigentlich" übergangene Fähigkeiten, nicht berücksichtigtes Können, über die Benachteiligung gegenüber anderen, hilft nicht darüber hinweg, daß die Schule ihr Urteil vollstreckt. Der auf dem Weg zur "Realitätstüchtigkeit" befindliche Schüler akzeptiert das und macht damit zwei wichtige Schritte:
- Er weist seine Vorstellungen über sich und seine Zukunft ins Reich der Träume und Wünsche, die nur dann wahr werden, wenn die Schule damit einverstanden ist; sie ist mit ihren Bedingungen und Vorschriften sein erster und entscheidender "Lebenskampf".
- Er macht die schulischen Urteile über seine Person zu seinem Selbstbewußtsein und anerkennt als dessen Gradmesser die gesellschaftlichen Voraussetzungen, deren "Widerspiegelung" die Schule ist.
Ganz allgemein heißt Moral für den Schüler: Auf dem gesellschaftlich vorgegebenen Betätigungsfeld muß man sich durchbeißen, nach Sinn und Zweck nur fragen, um sich nach den gegebenen Antworten dann auch zu richten. So stellt sich die erste moralische Lehre ein: "Den inneren Schweinehund überwinden!" Wer das nicht schafft, hat wirklich "no future" - andererseits findet er darin seinen Trost, wofür Moral schließlich auch zuständig ist. Wenn er nämlich nicht weit gekommen ist, so weiß er wenigstens einen "Grund" - sich selbst. Damit ist er in den Grundgedanken der moralischen Tätigkeit eingeführt: Es handelt sich um einen geistig verfertigten Selbstbetrug, der sich das Zurechtkommen mit Zwängen als selbstgesetzte Absicht des eigenen Willens und die Grade des Zurechtkommens als unterschiedlich gelungene Willensleistung erklärt. An der Schule macht sich der Schüler klar, daß ohne diese neben und zum Stoff aufzubringende Technik der Selbstformation der Erwerb von Wissen nicht geht.
Moral als Fach
Auf diese abstrakte moralische Leistung hat es der Staat abgesehen, hält sie jedoch unbedingt für ausbauungswürdig. Er verlangt, sozusagen als "inhaltliche" Füllung, eine eigene geistige Leistung, nämlich die gekonnte Beweisführung der Moral, die Kunst, ihr argumentativ Berechtigung zu verschaffen: Moral wird gelehrt und verstanden. Die Domänen dieser Übung sind - merke: selbstverständlich mit Noten! - der Religions-(Ethik-), Sozialkunde-, Geschichts- und der Deutschunterricht. Damit soll nicht behauptet sein, mit den anderen Fächern ließe sich das nicht machen. Die Übergänge von der Ameise zum Staat, vom Knall im Chemie-Lehrraum zu Staunen und Ehrfurcht vor der Natur, von der Bewunderung für die französische Kultur zu selbstverständlich hochzuhaltenden Eigenheiten der heimatlichen Nation, sind bekannt und bewährt; selbst im Rechnen ist viel vom fleißigen und vom faulen Arbeiter die Rede, obwohl man den Dreisatz auch anhand der Bestechungsgelder für Politiker gut üben könnte.
Religion und Deutsch zeichnen sich dadurch aus, daß dieser Übergang hier das ausschließliche Thema ist. Die Bibel und die Sprache sind locker zu überwindende Voraussetzungen, um auf "das Wesentliche" zu kommen. An allem und jedem wird ein enormer Sinn entdeckt. Die Religion ist gut geeignet, Demut, Bescheidenheit und Toleranz an vielen Beispielen abzuhandeln, die durch Abfragen und Benotung wiederum in den Stand gültiger Kenntnisse versetzt werden. So versteht sich der fertige Bürger auf den alltäglichen Gebrauch von Bibelsprüchen - denen man das Leiden Jesu gar nicht mehr anzusehen braucht -, um sich selbst oder anderen die (Un)Richtigkeit des Tuns "nachzuweisen", ist also für alle Lebenslagen mit der passenden Nicht-Erklärung versorgt. Den "Nachteil" des Religionsunterrichts, daß hier noch zu sehr das zu respektierende "subjektive Urteil" im Vordergrund steht - weswegen in solchen Stunden oft genug das freie Labern stattfindet, auch das natürlich nicht sinnlos -, überwindet der Deutschunterricht durch die unerbittliche Vorschrift der vom subjektiven Urteil anzustellenden Relativierung seiner selbst. Diese Leistung wird erst in den höheren Klassen - und zwar im Doppelsinn des Wortes - wirklich verlangt, da es so selbstverständlich ja wirklich nicht ist, auf jeden Gegenstand mit mindestens zwei Meinungen loszugehen; und dann durch handwerklich korrektes Gegeneinanderhalten eine Untersuchung vorzuspiegeln; bloß um am Schluß zu folgern, daß alle diese Meinungen ihre Berechtigung haben und man sich unmöglich ein abschließendes Urteil über den Gegenstand bilden kann, dafür aber durchaus eine individuelle Präferenz an ihm entwickeln darf. So lernt der Schüler im Besinnungsaufsatz, über allen sachlichen Gegensätzen ein methodisches Prinzip walten zu lassen, nämlich das der Toleranz, also sich jeden inhaltlichen Gedanken dergestalt zu verbieten, daß er ihn gleich zur bloßen Bebilderung für das Prinzip ummodelt.
Da setzt der Staat darauf, in der "Vorgabe von Themen" dem Schülervolk seine aktuellen "Probleme" vorstellig machen zu können. Und gerade weil die Schüler gelernt haben, diese "Probleme" unter ihr methodisches Prinzip eines ewig-menschlichen Meinungswiderstreits einzuordnen, kann der Auftraggeber sich sicher sein, daß diese "Probleme" damit als die aktuell gültigen eingeführt sind, ohne daß jemand auf die Idee verfiele, ihnen wirklich auf den Grund gehen zu wollen - womöglich sogar die Frechheit aufbringt, diesen "Problemen" ihre Berechtigung zu bestreiten und sich nach den Taten des Staates zu erkundigen.
Deutschnoten unterscheiden die Jugend nach der Fähigkeit, die eigene sittliche Reife zu Protokoll zu geben - auch ein Gesichtspunkt dafür, manche Schüler nicht vorrücken zu lassen.
Selektion - ganz "kindgemäß"
Das in der Note verkörperte Urteil über den Schüler besagt: Eben weil man Wissen in ihn immer nur nach Maßgabe des"Leistungsprinzips" steckt, ist die Note als Auskunft darüber zu verstehen, was in ihm steckt und was er deswegen werden kann. Der Vergleich der Schüler legt für sie mehr oder minder gute Erfolgsaussichten fest. Die Schule beharrt auf dem Zusammenhang von Lernunterschieden und Verteilung von "Lebenschancen". Die Kinder werden über den Leisten des Lehrplans geschlagen - sie werden damit erst vergleichbar -, ihre gesellschaftlich gültigen Unterschiede damit hergestellt. Allerdings soll sich unter den Unterschieden und "Chancen" keiner etwas anderes vorstellen als: Wie viele Stufen der Ausbildung hat der Schüler durchlaufen, welche Anforderung hat er geschafft? Woher kommt dann die Auffassung, man könne die Schule auch ganz und gar auf die "Förderung der Individualität und des subjektiven Ausdrucksbedürfnisses" verpflichten: Diese angeblichen "Bestrebungen", die der "Brockhaus" entdeckt haben will - mehr als die Schule versteht das Lexikon also auch nicht von der Schule -, stammen von den Schulmeistern selbst, die dies als ihr "eigentliches" Anliegen in die Welt hinausposaunen. Einerseits lassen sie keinen Zweifel daran, daß sie unterscheiden wollen - die Weigerung, Noten zu geben, ruft die Dienstaufsicht auf den Plan. Andererseits aber lassen sie keinen Tag verklingen ohne die Beteuerung, daß sie die Selektion nur zum Besten des Kindes durchziehen. In der wissenschaftlichen Pädagogik ist das Ideal einer Schule ohne Noten, in der alles mindestens genauso effektiv vollzogen werden könnte, nicht auszurotten.
Die Wohltat, die sie dem Schüler zukommen lassen wollen, besteht in dem Vorsatz, seinen "Fähigkeiten und Neigungen" zu entsprechen, s o daß er sich "bewähren" kann:
"Ziel jeden demokratischen Schulwesens ist es, jedem Kind eine seinen Fähigkeiten und Neigungen angemessene Ausbildung zu ermöglichen.
Der Schulunterricht dient der leiblich-geistig-charakterlichen Ertüchtigung der Jugend... Sinn jedes Unterrichts ist letztlich, dem Menschen zu helfen, sich in der Welt zu bewähren." (Brockhaus)
Dieses "Bewähren" hat es in sich: Immerhin unterstellt es einen dem Individuum unverrückbar vorgegebenen gesellschaftlichen Zustand, der ihm einiges abverlangt. Um damit zurechtzukommen, braucht es Anstrengun verschiedener Art, wobei Wissenserwerb ("das Geistige") nur eins unter anderem ist. Mindestens ebenso wichtig ist die "leibliche und charakterliche Ertüchtigung", also die Vorbereitung des Auszubildenden darauf, daß sein künftiger gesellschaftlicher Platz hohe Anforderungen an Gesundheit und Moral stellen wird. Was da als "Hilfe" auftritt, ist die Klarstellung, daß Anpassung verlangt und Wissen nicht die Richtschnur des Handelns ist - daß es also einiges auszuhalten gibt. Daß sich der große Teil der Schüler sehr aufs Aushalten wird konzentrieren müssen, daß "leibliche und charakterliche Ertüchtigung" für ihn die angemessene "Vorbereitung aufs Berufsleben" ist und ihm Versorgung mit Wissen letztlich "wenig nützt", ist kein Geheimnis - vielmehr der im Ausbildungsapparat mit Händen zu greifende Zweck der Selektion.
Die korrekte pädagogische Umsetzung des staatlichen Auftrages besteht darin, die Trennung der Gesellschaft in die Elite und den großen Rest zu antizipieren, und zwar indem sie mit einem mehrheitlichen Schwung von "Schulversagern" rechnet - und das bedauert. Daß die Pädagogen diese Versager selbst produziert haben, kommt ihnen natürlich nicht in den Sinn, höchstens in der gemeinen Umdrehung, daß sie sie "nicht verhindern" konnten. Da ist dann ganz viel Selbstbezichtigung angebracht, und regelmäßig kommen die Schulmeister der Nation nicht um die Feststellung herum, daß sie ihre Schäflein überfordert haben. Ihr Ideal dazu heißt Kindgemäßheit des Unterrichts und besteht in der Ideologie, der Zugang zu Wissenselementen aller Art hinge von ihrer kindischen Aufbereitung ab. Die Kritiker des "verkopften" Schulwesens nehmen das gleich so, daß der Unterricht den Kindern 'Lebenschancen' verbauen würde, weil er sie von oben herab zu gescheit machen, sie "mit Wissen überfrachten" wolle. Statt ihnen Gelegenhei zu geben, ganz ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Eigenschaften herauszukehren.
Daß es für den großen Rest mehr an Wissen nicht braucht, drehen sie also dergestalt um, daß die Schule gar zu "wissenschaftlich" wäre; neben die stattfindende Selektion vermittels des Wissens tritt die Versicherung, die Ausgeschiedenen wären bestens damit bedient, wenn man sie vor weiterem Wissen verschont. Dies nennen sie "praktische Begabung" und lügen dabei auch kaum - schließlich berufen sie sich auf ihre eigenen Resultate. Wenn sich im Kind ein Fließbandarbeiter herausgestellt hat, dann ist die ihm verpaßte Ausbildung tatsächlich zu weiten Teilen eine "unnötige Belastung". So wird von allen Seiten der Schein gepflegt, die Schule könnte noch "ganz anders" auf den Schüler eingehen und das Beste aus ihm herausholen. Dadurch erhalten die tatsächlichen Resultate der Selektion den Charakter des Vorläufigen, sie sind "bloß" dem Manko geschuldet, daß ein pädagogisches Ideal noch nicht verwirklicht ist. Andererseits steht damit aber auch fest, daß sich die Schule - bei aller Vorläufigkeit - die größte Mühe gegeben hat, dem Kind zu entsprechen: Der ihm zugewiesene gesellschaftliche Platz kann so jenseits seiner "Natur" nicht sein...
Moralische Indoktrination - ganz selbstbewußt
Was die moralische Einschwörung seiner Bürger betrifft - da versteht der Staat keinen Spaß. Er weiß als Grundlage seiner Machtentfaltung brave Untertanen mit einem treuen Nationalismus, die "an ihrem Platz" selbstredend ihre reichtumsmehrende Pflicht tun. Deswegen begleitet er die alltäglich stattfindende staatsbürgerliche Unterweisung, wie sie in den dafür eingerichteten Fächern geleistet wird, mit einem Verdacht. Gerade weil ihm am "Sinn" des Religions-, Sozialkunde-, Geschichts- und Deutschunterrichts so viel liegt, muß er sich sorgen, daß sich da linkes Gedankengut einschleicht, worunter er Indoktrination zu Unzufriedenheit versteht; und die Behörden fragen sich ob angesichts solcher Gefahren die altvertrauten Verfahren der Charakterbildung, wie sie schon die vorbürgerliche Pauk- und Religionsschule kannte, die zuverlässigsten sind.
Da der Staat als Einrichter des Bildungswesens umstandslos von seinem Interesse an bedingungslos brauchbaren Resultaten ausgeht, stellt er laufend dringende Anträge an seine Männer und Frauen "vor Ort", sie möchten doch den Kindern häufiger und direkt sagen, welche Tugenden bei einem nützlichen Bürger gefragt sind: Er wünscht für seinen Nachwuchs ein vorgezogenes Betreuungsverhältnis, das kein noch so harmloses "Anspruchsdenken" weckt, sondern Unzufriedenheit als Charakterfehler, als Auftakt zum Unglück oder gleich zum Terrorismus bekämpft. Der überragende Zweck der Schule ist für ihn das Anpassen eines flugblattsicheren Gesinnungspanzers. Die Schule stellt er sich idealiter als die Manipulationsinstanz vor, die den formbaren Kleinen die falschen Gedanken austreibt, sie dauerhaft vor Anfechtungen des Materialismus schützt und die richtigen Gedanken in sie einpflanzt. Unter diesem Gesichtspunkt mag er "kritische Bibelexegese" oder ausschweifende "Erörterung" gesellschaftlicher "Probleme" manchmal gar nicht leiden: Er bezweifelt nicht nur, ob letztlich die richtigen (Sinn-)Gedanken rüberkommen, sondern muß sogar befürchten, daß das eigentliche Anliegen "zerredet" wird und durch übermäßigen Gebrauch geistiger Fähigkeiten Zweifel gesät werden.
Darum behauptet er immer mal wieder, das Gefühl, das man in der Schule doch auch "unmittelbar ansprechen" könne, würde es bringen, und er anempfiehlt den verstärkten Gebrauch von Morgengebet, Nationalhymne und Schulfesten. Da kann doch wirklich jeder Schüler "sich ganzheitlich einbringen" - ohne jede intellektualistische Überforderung. Natürlich hat das seine Konjunkturen: Je weniger Wissen für immer mehr menschliche Anhängsel an die Maschinerie erforderlich ist, je größer die stehende industrielle Reservearmee ist und je mehr die alles überragende Tugend des soldatischen Gehorsams in den Vordergrund tritt, um so luxuriöser erscheint dem Staat der volksweite Vergleich am Wissen, um so niedriger können nach seiner Meinung die Lernziele angesetzt werden und um so vordringlicher ist eine solide Erziehung des Gemüts.
Das gebiert einen wunderschönen Dauer"streit", dessen Grundlage die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den zwei Abteilungen der moralischen Zurichtung ist: Das Sich-Einverleiben des Stoffes, das ohne passende Lernmoral gar nicht geht, sieht dann doch glatt wie eine Parteinahme für eine freie und selbstbestimmte Willensbildung des Schülers aus gegenüber einer staatlichen "Vorschrift", die dem Willen einen bestimmten Inhalt begründungslos aufzwingen will. Die Verlaufsform dieses fruchtbaren "Streits" sieht dann so aus, daß der Staat in die Schulen "hineinregiert" als hätte er sie als von sich unabhängige Instanz in die Freiheit entlassen! -, wohingegen diese einen heldenhaften Kampf um ihre "Selbständigkeit" führen.
Dabei haben sie ein Argument auf ihrer Seite: So funktioniert Manipulation doch gar nicht der Wille des Manipulierten muß mitspielen! Der Schulalltag bringt das Ideal hervor, daß der Schüler sich aus Einsicht unterordnet. Wenn man ihm einfach bloß so sagt, was sich gehört, dann nimmt er das doch nur als Vorschrift - wo bleibt die Überzeugung? - und umgeht sie nach Kräften.
So ergänzen sich Schule und Kultusbehörde prächtig in ihrem Streben nach einer demokratischen Manipulation. Der Staat erklärt, wie er sich einen Untertanen vorstellt - die Schule verspricht, ihn mit einem passenden Selbstbewußtsein auszustatten. Der selbstbewußte Untertan ist allemal das beide Seiten verbindende Erziehungsziel und nach wie vor leider auch das Resultat.
Die unmißverständiichen Leistungen des Schulwesens
Kritik an der Schule gibt es wenig, Klagen über ihre Unvollkommenheit, über die Beschränktheit ihrer Leistungen dagegen viel. Sei es, daß die Erwartungen der Schulabsolventen den Standpunkt der Klagen bestimmen; sei es, daß die Ansprüche des Staates und der Wirtschaft an die Schule deren Ertrag für zu gering befinden - ein Mangel, für den die Anstalten selbst gar nichts können, wird ihnen regelmäßig zur Last gelegt. Bildungsreformerische Initiativen zehren wie- die enttäuschten Stellungnahmen der Ausgebildeten immer nur von einer Beschwerde über das Versagen dieser staatlichen Instanz. Mit keinem Zeugnis ist das Ziel erreicht, für das sich die Inhaber des Zeugnisses abgemüht haben, und der Output der Bildungsstätten entspricht nie so recht genau dem Input, den die Arbeitswelt als ihren Bedarf anmeldet.
Beide Vorwürfe braucht sich das staatlich eingerichtete Bildungswesen nicht gefallen zu lassen. Erstens leistet es einiges, um die bedarfsgemäße Verteilung des heranwachsenden Menschenmaterials zu gewährleisten. Der Ausschluß von Karrieren findet gründlich statt; die Absolventen der verschiedenen Bildungsstufen sind statistisch einwandfrei so durchsortiert, daß sich der Andrang auf Vorstandsposten bei der Deutschen Bank ebenso in Grenzen hält wie die Verlegenheit der deutschen Automobilindustrie, Lageristen aufzustöbern. Zweitens sind die Schulen der Nation zwar mit Auslese befaßt, auch mit der Herstellung von Qualifikationen, aber keineswegs die Instanz, die darüber entscheidet, was eine Qualifikation ist. Mit der Qualifikation hat es nämlich so seine eigene Bewandtnis. Sie ist nur zum einen Teil eine Befähigung; viel wichtiger an ihr ist die Frage ihrer Brauchbarkeit. Und noch nicht einmal das stimmt; denn die Brauchbarkeit ist eben auch nur eine Voraussetzung, die keinem ihrer Inhaber etwas nützt, solange sich kein Anwender einfindet. Die Verwechslung von Ausbildung mit einer Garantie auf einkommenswirksamen Einsatz gar in einem bestimmten Beruf -, andererseits mit einer Garantie auf staats- und wirtschaftsdienliche Benützung ist eine Dummheit, die die Funktion der Schule als eines Lieferanten gründlich verkennt. Diese Dummheit unterschlägt nicht nur den Ertrag der schulischen Auslese - brauchbare Leute für alles und jedes kommen schließlich heraus -, sondern auch die Freiheit, welche die Bildungsinstitutionen ganz anderen Subjekten, denen, von denen alles abhängt, verschaffen.
Wegen dieser Freiheit und nicht um einer Harmonie zwischen Erlerntem und Lebenspraxis willen hat der Staat seine Bildungsschuppen getrennt von Fabrik und Büro eingerichtet und auf so eigenständige Kriterien der Sichtung, Unterscheidung und Prüfung festgelegt, daß darüber eine ganze pädagogische Wissenschaft entstanden ist. Auf die konjunkturell wechselnden Bedürfnisse der Arbeitswelt stellen sich die Verwalter des Bildungswesens schon deshalb immer rechtzeitig ein, weil sie ihre Unabhängigkeit allemal nur als Gnade und als Auftrag verstehen, welcher sie auf eine Erziehung verpflichtet, die den Bedürfnissen der Gesellschaft, den Anforderungen der Zukunft oder schlicht: der Praxis genügt. Wenn vom Schulmeister bis zum Studenten alle dem Ideal einer praxisnahen Ausbildung hinterherrennen, so erreichen sie es zwar nie im Sinne der Vorstellung, daß die am Nachwuchs erzeugten Fertigkeiten mit den nachgefragten zusammenfallen. Daß bei den Nachfragern kein Mangel entsteht, garantieren das Bildungsangebot und die Auslesekünste jedoch sehr wohl. Bildungschancen gibt es also mehr als genug. Gründe für den Glauben, daß das Lernen, ein Leben lang womöglich, eine Versicherung gegen die Arbeitslosigkeit sei, gibt es keine.
Die schwierige Bewährung in der Hierarchie der Berufe mit der 'Praxis' als wahrem Lehrmeister
Wenn es der aufgeweckte Schüler nicht schon dem ständigen Geschwafel vom 'Ernst des Lebens' entnommen hat, der ihm irgendwann blüht, so merkt er spätestens nach dem Schulabgang, daß er bisher überhaupt nicht 'fürs Leben', sondern nur für die Schule gelernt hat und daß das eine vergleichsweise gemütliche Geschichte war. Das Prinzip, das nun noch einmal und mit der Härte, die 'die Praxis' mit sich bringt, an ihm geltend gemacht wird, hat er sich allerdings längst notgedrungen zu eigen gemacht: In den Schulen der Nation und der darauf folgenden Berufsausbildung geht es um Qualifikation. Diese Errungenschaft einer gelungenen Ausbildung ist alles andere als eine Kenner- und Könnerschaft, mit der man auf die Welt losgehen und sie nach seinem Bilde gestalten könnte. Die persönlichen Kenntnisse und Fertigkeiten sind umgekehrt dadurch charakterisiert, daß sie einen Menschen dazu befähigen, Ansprüchen z u genügen, auf die er vo seinem Interesse her nie und nimmer freiwillig gekommen wäre - in der Schule den Ansprüchen der Schule und jetzt anderen, handfesteren, die ihm als wirtschaftlicher und staatlicher Bedarf nach dieser und jener Fähigkeit gegenübertreten. Zu diesen Anforderungen muß einer nach seiner Ausbildung passen, auf sie muß er persönlich eingestellt sein, sonst hat er von Haus aus keine Chance auf Verwendung und entsprechende Karriere.
Das höchste Lebens- und einzige Ausbildungsziel ist es, einen Beruf zu ergreifen, zu dem man sich hinterher 'berufen' fühlen soll, weil er einen doppelt festlegt: Erstens liegt mit ihm objektiv fest, was einer können muß und was deshalb als die jeweilige Berufsqualifikation gilt. Von den niedersten Etagen der Hierarchie der Berufe bis zu den Spitzenplätzen, wo es auf eine 'gediegene' Bildung ankommen soll, hat ein Berufs'anwärter' sich danach zu richten, sich dazu zu befähigen - und natürlich dann auch entsprechend seine Fähigkeiten nach Vorschrift einzusetzen. Zweitens steht mit den unterschiedlichen Berufen auch das unterschiedliche Berufseinkommen fest, das mit Qualifikationen zu verdienen ist. Zwar sind die feinen Unterschiede zwischen DM 14.50 die Stun
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