Sonntag, 3. April 2011

Zuhause im Netz - Eine qualitative Studie zu #Mustern und #Motiven der #Internetnutzung [Publizistik 2009]

 

Publizistik
© VS-Verlag 2009
10.1007/s11616-009-0060-y

Aufsatz

Zuhause im Netz

Eine qualitative Studie zu Mustern und Motiven der Internetnutzung

Michael MeyenContact Information, Kathrin Dudenhöffer1, Julia Huss1 und Senta Pfaff-Rüdiger1

(1)  Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, LMU München, Schellingstraße 3, 80799 München, Deutschland

Contact Information Michael Meyen
Email: meyen@ifkw.lmu.de

Online publiziert: 17. November 2009

Zusammenfassung  Ziel des Beitrags ist es, neben Nutzungsmustern und Nutzungsmotiven den Stellenwert des Internets im Alltag und im Medienrepertoire nachzuzeichnen. Empirische Grundlage sind 102 qualitative Einzelinterviews mit Internetnutzern zwischen 14 und 67 Jahren. Die Teilnehmer wurden nach dem Prinzip der "theoretischen Sättigung" ausgewählt. Theoretischer Hintergrund sind der Uses-and-Gratifications-Approach und die Habitus-Kapital-Theorie von Bourdieu. Die Befunde zeigen, dass das Internet zwar fest in den Alltag der Befragten integriert und dort nicht mehr wegzudenken ist, die Angebote aber je nach Alter, Geschlecht und sozialer Position sehr unterschiedlich genutzt werden. Während ältere Onliner und Menschen mit einem kleinen Verkehrskreis und geringer Aufstiegsmotivation vor allem "leibnahe" Bedürfnisse befriedigen (Alltagserleichterung, Kontakt zu Angehörigen und engen Bekannten), nutzen junge Menschen (unter 30 Jahren), Männer und Berufstätige (vor allem Selbstständige und Angestellte in gehobenen Positionen) ein größeres Spektrum an Anwendungen.

Schlüsselwörter  Internet - Nutzungsmotive - Uses-and-Gratifications-Approach - Bourdieu - Leitfadeninterviews


Internet in Everyday Life
A qualitative study of patterns and motives for Internet use
Abstract  This study focuses on the relevance of the Internet to everyday life and the factors that influence Internet usage, based on an investigation of typical patterns of use and motives for use. The empirical basis of the study consists of 102 in-depth interviews with German Internet users aged 14–67 years. The sample was selected by applying the method of theoretical saturation, while the theoretical background was based on the uses-and-gratifications approach and the sociology of Bourdieu. The findings demonstrate that the Internet is indeed integrated in the everyday lives of the interviewees and that most of them cannot imagine life without the Internet. The interviews also reveal that the use of online applications varies with age, sex and social position: Whereas older online users and those with a small social network and low motivation for professional advancement use the Internet to satisfy mainly day-to-day needs (facilitating everyday life, contacting relatives and establishing strong ties), younger people (those under 30 years of age), men and members of the workforce (especially the self-employed and executives) use a wider variety of online applications.

Keywords  Internet - Motives - Uses-and-gratifications-approach - Bourdieu - Guideline interviews

Dr. Michael Meyen   ist Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der LMU München.
Kathrin Dudenhöffer   ist Doktorandin am IfKW.
Julia Huss   ist Doktorandin am IfKW.
Senta Pfaff-Rüdiger   ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IfKW.

1   Forschungsinteresse

In dieser Studie wird danach gefragt, wovon der Umgang mit dem Internet abhängt. Wie lassen sich die Unterschiede bei der Nutzung erklären und welche Faktoren beeinflussen den Stellenwert, den die unterschiedlichen Anwendungen aus den Bereichen der Individual-, Gruppen- und Massenkommunikation für den Einzelnen haben? Die Internetausbreitung hat sich zwar verlangsamt, da aber mittlerweile rund zwei Drittel der Deutschen online sind, werden zunehmend auch die Bevölkerungsgruppen erreicht, die dem Internet früher fernstanden: Ältere, Frauen und Menschen mit niedriger Formalbildung, die häufig schon deshalb länger offline blieben, weil sie im Beruf ohne Netz ausgekommen sind (vgl. Gerhards u. Mende 2003). Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2008 hat den größten Zuwachs bei den "Silver-Surfern" gemessen und bei allen Nutzungsunterschieden im Detail festgestellt, dass sich die "Gender Gap" zwischen On- und Offlinern noch deutlicher verringert hat als die Alterskluft (vgl. Eimeren u. Frees 2008, S. 330, 335). Für besonders spannend hielten die Autoren einen Nutzungsunterschied, den sie an der Altersgrenze von 30 Jahren festmachten: Während das Internet für die Jugend ein "All-in-one-Medium" sei, würden ältere Menschen nach wie vor "sauber" zwischen Fernsehen, Hörfunk, Print und Internet trennen. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob es sich bei diesem Nutzungsverhalten nur um "eine biographische Phase" handelt oder um Vorboten eines "neuen, aktiveren und individualisierteren Medienverhaltens", das vor allem durch die multimediale Sozialisation der jungen Generationen zu erklären ist (Eimeren u. Frees 2008, S. 343–344).

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die zunehmende Verbreitung des Internets die Nutzungsunterschiede nicht eingeebnet, sondern lediglich verlagert hat – vom Netzzugang zur Qualität der Nutzung. Der Umgang mit dem Internet und der Stellenwert, den die einzelnen Anwendungen haben, werden weiter nicht nur vom Alter beeinflusst, sondern auch von der sozialen Position und damit vom Geschlecht sowie von der Stellung im Beruf. Da sich der subjektive Sinn, den die Menschen mit dem Internet verbinden, besser erfassen lässt, wenn man ihren Lebenslauf, ihren Alltag sowie ihr Medienrepertoire (und damit funktionale Alternativen) kennt, stützt sich diese Studie auf Leitfadeninterviews (Grundgesamtheit: Deutsche ab 14 Jahren). Die 102 Befragten wurden nach dem Verfahren der "theoretischen Sättigung" ausgewählt. Theoretischer Hintergrund sind der Uses-and-Gratifications-Approach (vgl. Rubin 2002) und die Habitus-Kapital-Theorie (vgl. Bourdieu 1987). Die Entscheidung für diese Theorien hat Folgen für die Konzeptualisierung der Internetnutzung und für das methodische Herangehen. In Abschn. 2 werden die Annahmen skizziert, die die Studie geleitet und letztlich auch bestimmt haben, warum mit einem qualitativen Verfahren gearbeitet worden ist (Abschn. 3). Im Ergebnisteil werden zunächst Nutzungsmuster und Motive diskutiert (Abschn. 4). Anschließend wird eine Nutzertypologie präsentiert, die die Frage beantworten soll, welche Faktoren die Internetnutzung beeinflussen.


2   Theoretischer Hintergrund

Zur Ausbreitung des Internets liegt eine überwältigende Menge an Publikationen vor. Untersucht wurden unter anderem der Zugang zum Netz, die Reichweite der verschiedenen Internetdienste, die Nutzungsdauer und die Zusammensetzung der Nutzergruppen (vgl. Eimeren u. Frees 2008; Köcher 2008), die Konkurrenz zu den "alten" Medien (vgl. Oehmichen u. Schröder 2008), die Struktur und die Gründe der Offliner (vgl. Zillien 2008), die Motive der Nutzer und die Faktoren, die die Zuwendung beeinflussen (vgl. LaRose u. Eastin 2004), die Selektionsentscheidungen und das emotionale Erleben beim Surfen (vgl. Schweiger 2001), Onlinespieler (vgl. Quandt et al. 2007) und Onlineshopper (vgl. Breunig 2003) sowie in jüngster Zeit verstärkt all das, was sich mit "Web 2.0" etikettieren lässt (vgl. Ellison et al. 2007; Haas et al. 2007; Schmidt 2007; Boyd u. Ellison 2008; Hodkinson 2008). Dazu kommen methodische und theoretische Beiträge, die sich mit den Problemen empirischer Forschung beschäftigen (vgl. Welker u. Wenzel 2008) oder zum Beispiel mit den Folgen der Internetkommunikation für die Legitimation der Demokratie (vgl. Dahlberg 2007).

Vergleichsweise selten wurde dagegen untersucht, welchen Stellenwert das Internet im Alltag der Menschen sowie in ihren Medienrepertoires hat (vgl. Hasebrink u. Popp 2006). Diese Forschungslücke verwundert bei einem Blick auf die Grundannahmen des Uses-and-Gratifications-Ansatzes. Danach konkurrieren Medienangebote mit anderen Formen der Kommunikation und können außerdem funktional äquivalent sein (vgl. Rubin 2002, S. 528). Die Nutzung hängt dabei sowohl von den Bedürfnissen ab, die sich aus der sozialen und psychologischen Situation ergeben, als auch von den Erfordernissen und den Strukturen des Alltags (vgl. Blumler u. Katz 1974; Schweiger 2007). In empirischen Studien wurden zwar zahlreiche Gratifikationsdimensionen herausgearbeitet, die über die traditionellen Kataloge von Greenberg (1974) oder McQuail (1983) hinausgehen und vor allem mit den Eigenschaften des Internets zusammenhängen, die herkömmliche Massenmedien nicht haben (zum Beispiel Beziehungsmanagement, Community-Erlebnisse, Statusgewinn oder Informationssuche; vgl. exemplarisch Song et al. 2004; Flanagin u. Metzger 2001; Stafford u. Stafford 2001). Ohne die Situation und den Alltag der Nutzer zu kennen, lässt sich allerdings kaum sagen, was die Menschen dazu bringt, das Internet zu nutzen. Der Zugang und die Reichweiten einzelner Seiten sowie die Motive für ihre Nutzung sagen noch nichts darüber, wie die unterschiedlichen Internet-Anwendungen in die individuellen Medienrepertoires eingebettet werden und von welchen Faktoren abhängt, was am Ende tatsächlich genutzt wird.

Wenn in der Kommunikationswissenschaft gefragt wird, wie die individuelle Mediennutzung zu erklären und vorherzusagen ist, lassen sich vier Traditionen unterscheiden:
  Erstens wird nach speziellen Situationen und konkreten Nutzungsentscheidungen gefragt – zum Beispiel wenn es um die Bewältigung von Stress geht oder ganz allgemein um die Regulierung der Stimmung (vgl. Zillmann 2000), um den Einfluss des Wetters oder anderer äußerer Faktoren (vgl. Rott u. Schmitt 2000) sowie um bestimmte Personen- und Raum-Konstellationen (vgl. Holly et al. 2001).
  In den Arbeiten, die sich mit den Schlagwörtern Sozialisationsperspektive und Medienbiographie zusammenfassen lassen, werden zweitens die Erfahrungen thematisiert, die Menschen in ihrem Leben und hier vor allem mit Medienangeboten gemacht haben (vgl. Peiser 1996).
  Drittens werden Persönlichkeitsmerkmale untersucht – Eigenschaften, die relativ stabil sind und das Handeln eines Menschen ganz unabhängig von der konkreten Situation, von biographischen Erfahrungen und von der sozialen Position beeinflussen (vgl. McCrae et al. 2000; Fahr u. Böcking 2005; Schweiger 2006).
  In der soziologischen Forschungsrichtung wird viertens untersucht, welchen Einfluss die klassischen soziodemografischen Merkmale, die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus, handlungsleitende Themen und Alltagsmuster haben (vgl. Bausinger 1984; Silverstone 1994).

Die Untersuchung, die in diesem Beitrag präsentiert wird, lässt sich dieser vierten Tradition zuordnen. Gefragt wird danach, welchen Einfluss die soziale Position auf den Umgang mit dem Internet hat. Dabei geht es nicht um konkrete Situationen, um besondere äußere Umstände und auch nicht um einzelne Anwendungen oder um einen bestimmten Kommunikationsmodus (vgl. Hasebrink 2004; Suckfüll 2004), sondern um langfristige und eher stabile Nutzungsmuster sowie um das komplette Internetrepertoire.

Um die Vorwürfe zu entkräften, dass Nutzungsmotive erstens willkürlich und theorielos konstruiert werden und dass die Ergebnisse der Uses-and-Gratifications-Forschung zweitens häufig von Selbstauskünften abhängen, obwohl man bezweifeln kann, dass die Befragten ihre eigenen Kommunikationsbedürfnisse artikulieren können (vgl. Rubin 2002, S. 532; Ruggiero 2000), stützt sich dieser Beitrag auf die Habitus-Kapital-Theorie. Bourdieu (1987) bietet eine Erklärung, warum Menschen so handeln, wie sie handeln, und von welchen Faktoren Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata abhängen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Habitus-Konzept. Der Habitus ist bei Bourdieu nicht angeboren, sondern speist sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht. Diese (individuellen und kollektiven) Erfahrungen wiederum hängen in erster Linie von der sozialen Position ab und führen zu "Systemen dauerhafter Dispositionen", die als "strukturierende Strukturen" wirken (Bourdieu 1976, S. 165). Übersetzt: Der Habitus legt fest, was möglich ist – wie ein Akteur die Welt wahrnimmt, wie er andere bewertet, welchen Geschmack er hat, wie er denkt und handelt, wie er seinen Körper präsentiert und sich bewegt (vgl. Bourdieu 1976, S. 165–167). Das Habitus-Konzept ist damit ein Schlüssel zu den Internetgewohnheiten eines Menschen. Um konkrete Praxisformen (wie etwa die Nutzung von Social Network Sites) beschreiben und untersuchen zu können, hat Bourdieu den Habitus analytisch geteilt – in einen "Opus operatum" und einen "Modus operandi". Der Modus operandi (wie und warum man handelt) wird dabei durch den Opus operatum definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an Dispositionen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie, Kinder, Kapitalausstattung, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Da Akteure über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, entwickeln sie bei Bourdieu einen "praktischen Sinn", der ihnen erlaubt, "auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten" zu reagieren (Bourdieu 1987, S. 190–191).

Das Habitus-Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Entscheidende Determinante ist dabei die soziale Position eines Akteurs. Bei Bourdieu ist der Kampf um Status Synonym für menschliches Leben überhaupt. Er geht davon aus, dass wir handeln, um uns von anderen abzuheben – ein Prozess, der ständig läuft und der uns nicht bewusst sein muss. Den Spielraum des Einzelnen beschreibt Bourdieu mit dem Begriff Kapital. Er unterscheidet vier Kapitalformen: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital (Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen), soziales Kapital (Netzwerke) und symbolisches Kapital (Reputation). Kapital ist dabei in jedem Fall "akkumulierte Arbeit" (Bourdieu 1983, S. 183). Bei Bourdieu ist der Arbeitsbegriff mit Aufwand und Mühe, mit Investitionen und mit (latentem) Zwang konnotiert. Auch den "Erwerb von Bildung" bezahlt man "mit seiner Person" – selbst in privilegierten Umgebungen, in denen "die Inkorporierung von kulturellem Kapital" möglicherweise "völlig unbewusst" und ungewollt abläuft (Bourdieu 1983, S. 186–187). In jedem sozialen Feld verspricht zwar eine andere Kapitalmischung den größten Handlungsspielraum, letztlich aber streben bei Bourdieu alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen zu unterscheiden und ihre Position zu verbessern.

Teilt man diese Annahmen, hat dies Folgen für die Konzeptualisierung von Internetnutzung. Zum einen ist die Zuwendung zu Onlinediensten nicht ohne den Habitus und die soziale Position zu erklären (Sozialisationsperspektive, Medienbiographie, soziologische Forschungstradition). Um den praktischen Sinn zu verstehen, den ein Mensch mit der Internetnutzung verbindet (Habitus als Modus operandi), muss ich wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als Opus operatum), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Zum anderen dürfte jede solche Handlung bewusst oder unbewusst vier unterschiedlichen Zielen dienen:
  Identitätsmanagement: Dieser Begriff zielt auf die Auseinandersetzung mit sich selbst und auf die Arbeit am "Ich" (vgl. Scherer u. Wirth 2002, S. 339–340). Identitätsmanagement bedeutet, den eigenen Wert zu taxieren, die eigene Lage zu bestimmen und das Meinungsklima zu erkunden (vgl. Festinger 1954; Hartmann et al. 2004; Noelle-Neumann 1980). Ohne die eigene Position zu kennen, kann man nicht wissen, ob es sich lohnt, Kapital zu akkumulieren.
  Kapitalmanagement: Während es beim Fernsehen, Radiohören oder Zeitunglesen vor allem um kulturelles und symbolisches Kapital gehen dürfte (Medienwissen und Medienrepertoires als "Unterscheidungszeichen", vgl. Bourdieu 1987, S. 120, 355), lässt sich bei der Internetnutzung auch soziales und ökonomisches Kapital erwerben (Stichworte: E-Economy, Social Network Sites).
  Alltagsmanagement: Das Internet wird wie alle Medienangebote "im Alltag" genutzt (vgl. Röser 2007a). Es strukturiert die Zeit, kann Probleme lösen und liefert Ideen, Gesprächsstoff und Stichworte.
  Emotionsmanagement (vgl. Schramm u. Wirth 2006): Jede Zuwendung zu Medienangeboten löst Emotionen aus, die den Rezeptionsprozess mitbestimmen.

Gerade bei der Internetnutzung bietet sich der Begriff Management an, weil der Zwang zur Selektion hier besonders groß ist und permanent Entscheidungen anstehen (vgl. Wirth u. Schweiger 1999, S. 48). Die strategischen Momente, die zu jeder Form von Management gehören, lassen sich dabei über Bourdieus "praktischen Sinn" erfassen. Während das Emotions- und zu großen Teilen auch das Alltagsmanagement an spezielle Situationen und konkrete Nutzungsentscheidungen gekoppelt ist und mit Bourdieus "Denkwerkzeugen" Habitus und Kapital nur auf Umwegen erfasst werden kann (zum Beispiel wenn man annimmt, dass ein Angebot wie Spiegel Online den Tagesablauf strukturiert, Teil des Habitus geworden ist und vielleicht immer ganz ähnliche Emotionen auslöst), sind Identitäts- und Kapitalmanagement eher mittel- und langfristig angelegt und in seiner Theorie verankert. Da sich diese Studie außerdem auf Leitfadeninterviews stützt, mit denen sich eher stabile Nutzungsmuster erheben lassen, ist zu vermuten, dass sie vor allem das Emotionsmanagement unterschätzt. Natürlich war in den Gesprächen auch von Emotionen die Rede – allerdings nur, wenn bestimmte Episoden im Gedächtnis geblieben waren oder wenn Emotionen habitualisiert auftreten.


3   Untersuchungsdesign

Die Entscheidung für ein qualitatives Verfahren hängt mit dem Erkenntnisinteresse und dem theoretischen Hintergrund zusammen. Qualitative Methoden sind standardisierten Verfahren bei der Frage überlegen, welche Bedeutung Internetangebote für die Menschen haben, weil die Befragten hier die Möglichkeit haben, frei über ihren Alltag, ihre Bedürfnisse und ihre Nutzungsgewohnheiten zu sprechen. Die Unterschiede sollen mit Hilfe der Habitus-Kapital-Theorie erklärt werden – eine Theorie, die einen detaillierten Einblick in die Erfahrungswelt der Befragten verlangt und so geradezu nach qualitativer Forschung ruft. Leitfadeninterviews können allerdings bestenfalls typische Varianten ohne Anspruch auf Vollständigkeit beschreiben und niemals Aufschluss über die Verteilung von bestimmten Handlungsmustern in der Grundgesamtheit geben (hier: Deutsche ab 14 Jahren). Um nicht auf Verallgemeinerungen verzichten zu müssen, sind die Befragten nach dem Verfahren der "theoretischen Sättigung" ausgewählt worden (vgl. Fuchs-Heinritz 2000). Dieses Verfahren geht davon aus, dass es bei einem Handlungsbereich wie der Internetnutzung nicht unendlich viele Spielarten gibt. Um den Bereich beschreiben zu können, müssen die Befragten für möglichst unterschiedliche Varianten stehen, wobei die Annahmen, die die Auswahl bestimmen, so lange ergänzt und angepasst werden, bis die "neuen Fälle" keine zusätzlichen Informationen mehr liefern.

Teilnahmebedingung war die private Internetnutzung. Die ersten 60 Befragten wurden von Münchener Masterstudentinnen über einen Quotenplan rekrutiert, der neben leicht ermittelbaren Merkmalen von Habitus und sozialer Position (Lebensphase/Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Größe des Wohnorts) auch Personengruppen nannte, bei denen eine besondere Beziehung zum Internet zu erwarten war (Informatiker, Onlinespieler, Internetsüchtige, Wissenschaftler). Nach einer Zwischenauswertung wurden Hypothesen entwickelt, wo es außerdem abweichende Verhaltensweisen geben könnte, um gezielt nach solchen Menschen suchen zu können (Manager, Blogger, arbeitslose Akademiker, Homosexuelle, E-Sportler). Für die "theoretische Sättigung" hätten vermutlich 40 bis 50 Befragte gereicht. Vor allem bei Jugendlichen, Studenten, Müttern mit Kleinkindern, Hausfrauen, Büroangestellten und älteren Menschen kristallisierten sich schon nach wenigen Interviews typische Nutzungsmuster heraus. Die größere Stichprobe hat allerdings erlaubt, diese Nutzungsmuster differenzierter beschreiben und besser im sozialen Raum verorten zu können. Insgesamt wurden 102 Interviews geführt:
  Geschlecht: 54 Frauen, 48 Männer
  Alter: 14 Personen jünger als 20 Jahre, 43 Personen zwischen 20 und 29 Jahren, 36 Personen zwischen 30 und 49 Jahren und 9 Personen über 50 Jahre;
  Lebensphase: 33 Personen in Ausbildung (davon 18 Studenten), 20 Berufstätige mit Kindern im Haushalt (davon 3 Alleinerziehende), 8 Berufstätige mit erwachsenen Kindern; 31 Berufstätige ohne Kinder; 2 Personen im Ruhestand, 8 Arbeitslose;
  Partnerschaft: 58 Menschen mit und 44 ohne Partner;
  Formalbildung: 30 Personen mit Hochschulabschluss, 32 mit Abitur, 17 mit mittlerer Reife, 9 mit Hauptschulabschluss, 7 Gymnasiasten, 3 Realschüler und 4 Hauptschüler;
  Wohnort: 79 in der Stadt, 23 auf dem Land.
Bedingung war, dass sich die Gesprächspartner nicht kannten. Der Kontakt wurde in der Regel über Dritte hergestellt – in Studentengruppen, die sich untereinander geholfen haben ("ich kenne jemanden, der einen Counterstrike-Spieler kennt, den du interviewen könntest"). So war zugleich garantiert, dass die Befragten tatsächlich bereit sind, an der Untersuchung teilzunehmen. In wenigen Ausnahmen (Blogger, E-Sportler, Homosexuelle) lief die Rekrutierung per Mail-Anfrage oder über ein Schneeballverfahren (einige Befragte nannten weitere potenzielle Gesprächspartner). Die 14 Interviewerinnen besuchten ein Projektseminar am Münchener Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (zwölf Semesterwochenstunden, Dauer: ein Jahr), wo sie auf die Interviews vorbereitet wurden und den Leitfaden entwickelten. Dort wurde nur vorgegeben, welche Themen berührt werden sollten, und den Befragten damit erlaubt, Episoden anzubringen und Schwerpunkte zu setzen. Die Themenkomplexe lassen sich mit den theoretischen Annahmen begründen:
  Lebenslauf und aktuelle Lebenssituation: Herkunft und Sozialisation, Alltagsstrukturen (Arbeit, Freizeit), Wohnung, Familie, Einkommen und Bildung, Bewertung des eigenen Lebens (Habitus als Opus operatum, Position im sozialen Raum);
  Mediennutzung (Tageszeitungen, Zeitschriften, Funkmedien): Zugang, Ausstattung, Nutzungsmuster, Motive, Bewertung (Uses-and-Gratifiactions-Approach: funktionale Alternativen zur Internetnutzung, Habitus als Modus operandi);
  Internet im Alltag: technische Ausstattung, Bedeutung und Einbettung in den Alltag (vgl. Röser 2007a); Nutzungsmuster, Motive, Bewertung (Habitus als Modus operandi).

Die Interviews fanden zwischen Juni und November 2008 meist in der Wohnung der Befragten statt und dauerten etwa 60 Minuten. Am Schluss wurden die Befragten gebeten, ihre Lieblingsseite im Internet aufzurufen, um die Aussagen zum Stellenwert des Internets einzuordnen (etwa über den Platz, den der PC in der Wohnung hat) sowie Ausstattung (Gerät, Flatrate, Schnelligkeit der Verbindung) und Kompetenz einschätzen zu können. 13 Interviews wurden online mit dem Chatprogramm Skype geführt. Bei diesen Gesprächen fehlen zwar einige Informationen, die für die Interpretation wichtig sind (zum Beispiel: Wohnung, PC, Aussehen des Befragten). Zum einen konnten auf diese Weise aber auch Menschen befragt werden, die sonst nicht erreichbar gewesen wären (etwa Internetnutzer, die den Zugang zum eigenen Heim oder sogar den persönlichen Kontakt verweigerten, wie einige Arbeitslose, Computerspieler oder Homosexuelle), und zum anderen wurden über Skype ausschließlich Menschen befragt, die mit dieser Kommunikationsform vertraut sind. Die persönlichen Gespräche wurden mit einem Tonband aufgezeichnet und in normales Schriftdeutsch übertragen. Um das Material auswerten zu können, wurde ein Kategoriensystem für eine qualitative Inhaltsanalyse entwickelt (vgl. Mayring 2002; Lamnek 1998), das die gleichen drei Oberkategorien enthielt wie der Leitfaden und bei den Nutzungsmotiven nach den vier Managementformen fragte, die in Abschn. 2 diskutiert wurden. Die Aussagen der Befragten wurden dabei jeweils zu einem Porträt verdichtet, in dem erstens die Persönlichkeit (Habitus als Opus operatum, soziale Position), zweitens die Mediennutzung und drittens die Internetnutzung (Habitus als Modus operandi) vor dem skizzierten theoretischen Hintergrund interpretiert wurden. Diese Porträts geben folglich auch Aufschluss über Nutzungsmuster und Nutzungsmotive und erlauben so neben einer Typenbildung (Abschn. 5) Aussagen über die Bedeutung, die das Internet heute hat (Abschn. 4).


4   Ergebnisse I: Nutzungsmuster und Nutzungsmotive

Die technische Entwicklung sowie der Preisverfall von Telekommunikationsdiensten (vor allem die flächendeckende Einführung von Flatrates 2006/07) haben dazu geführt, dass das Internet "im Alltag" angekommen ist. Während im Zeitalter der Online-Pioniere erhebliche Vorkenntnisse und eine hohe Frustrationstoleranz nötig waren und das Internet außerdem den Reiz der Innovation in sich trug, kann heute buchstäblich jeder die Dienste nutzen, ohne sich darüber viele Gedanken machen zu müssen. Carsten Lenk (1997) hat gezeigt, wie der zunächst (nach dem Sendestart 1923) als Sensation gefeierte Radioapparat eines Tages (Ende der 1920er Jahre) im Alltag "verschwunden" ist – ein Kasten in der Zimmerecke, der per Knopfdruck auch von der Hausfrau zu bedienen war und im besten Fall ein angenehmes Hintergrundgeräusch lieferte. Dieser Prozess ist inzwischen auch beim Internet abgeschlossen. Bevor die Nutzungsunterschiede sozial verortet werden (Abschn. 5), wird zunächst zu sechs Thesen verdichtet, wie und warum die Menschen im Netz zuhause sind.

These 1 Der Weg ins Internet führt über Beruf und Familie

Der Umgang mit dem Netz ist in Beruf, Schule oder Studium längst zu einer Kernkompetenz geworden und trägt dadurch auch zum Identitätsmanagement bei: "Ich lebe davon, dass ich ansprechbar, präsent und sichtbar bin", sagte beispielsweise ein Jugendpfarrer, Mitte 30. Die Kommunikation mit seinen Jugendgruppen läuft bei ihm fast ausschließlich über das Internet, und seine Predigten stellt er sich morgens am PC zusammen. Eine Touristik-Studentin schaut täglich auf ihrer Hochschul-Webseite nach, "welche Vorlesungen verschoben werden oder ausfallen". Beruf, Schule oder Studium verlangen, erreichbar zu sein – bei nicht wenigen Befragten schon "direkt nach dem Aufstehen" (VWL-Studentin, Mitte 20). Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben. Einige Befragte erledigen im Büro online ihre Einkäufe und Freizeitrecherchen und beantworten dafür abends daheim geschäftliche E-Mails. Selbst Personen, die am Arbeitsplatz das Internet eigentlich nicht benötigen, kommen über berufliche Gründe ins Netz – etwa bei der Suche nach speziellem Wissen. "Die Philosophie des Hauses ist es, so lang wie möglich ohne Computer zurechtzukommen", sagte ein 28-jähriger Krankenpfleger über seinen Arbeitgeber. "Alles mit Papier und Zettelchen." Trotzdem informiert er sich im Internet, zum Beispiel über bestimmte Krankheiten. Wer nicht arbeitet oder das Internet im Job nicht benötigt, findet über Familie oder Freunde ins Netz. Für eine Caritas-Angestellte, 59 Jahre, wurde das Internet erst interessant, als ihr Sohn ins Ausland ging. Die Familie zusammenhalten, obwohl Kinder und Enkel nicht in der Nähe sind – das ist das zentrale Motiv vieler älterer Nutzer (vgl. Ahrens 2007, S. 192). Jugend oder Ehemann sind dann oft auch für die technische Einrichtung des PCs zuständig und erklären Anwendungen wie Skype. Eine 49-jährige Heilerziehungspflegerin war stolz, "einen zusammengebastelten" Computer ihres Sohnes zu haben. "Recycled. Das ist extravagant, das hat nicht jeder."

These 2 Das Internet ist im Alltag angekommen

Das Internet ist in Berufs- und Freizeitroutinen integriert, strukturiert den Tag und gibt Sicherheit. Den Reiz des Neuen hat es weitgehend verloren. Während einige Befragte kontinuierlich im Netz sind, gehen die meisten zu festen Zeiten gezielt online, nutzen dabei meist ein begrenztes Spektrum an Seiten und wechseln nicht in den "Stöbermodus" (Unternehmensberater, Ende 20). Private Hauptnutzungszeiten sind der frühe Abend und (vor allem bei den Jüngeren) die TV-Primetime (vgl. Eimeren u. Frees 2008, S. 339). "Mein Mann schaut fern, und ich mache was am Computer", sagte eine Verkäuferin, Ende 20. Eine Ärztin, 30, geht online, während sie ihr Baby stillt. Ein Laptop ermöglicht vielen Befragten dort ins Internet zu gehen, wo sie gerade sind. Das Internet ist schnell zum Hilfsmittel im Alltag geworden. Geschäfte jeder Art können jetzt von zu Hause erledigt werden (Alltagsmanagement). "Die Rennerei" zur Bank falle weg, sagte ein Schüler. Eine 39-jährige Mutter bestellt "die großen und schweren Sachen" bei Amazon, ein Betriebsmanager, 58, kaufte seiner Frau eine ausgefallene Nachttischlampe aus dem Film "Die fabelhafte Welt der Amelie", und eine jüngere Mutter sagte, sie könne zum Beispiel schnell nachschauen, "wann das Kreisverwaltungsreferat offen hat". Fast alle Befragten nutzen Routenplaner und Wetterseiten. Neben Aufwand und Zeit spart das Internet auch Kosten: Viele der Befragten kaufen online ein oder vergleichen Preise. Röser (2007b, S. 159) hat "Verbraucherinformationen, Markttransparenz sowie Online-Shopping" als Ursachen für die Internetausbreitung beschrieben.

These 3 Das Internet bietet Zugang zum Weltwissen

Ganz besonders schätzen die Befragten, dass sie jederzeit alles nachschlagen können, was sie wissen wollen. Das Internet erleichtert die Akkumulation von kulturellem Kapital. "Dort bekomme ich alles", sagte eine Verkäuferin, Ende 20. Haupt-Einstiegsfenster ist die Suchmaschine Google (vgl. Eimeren u. Frees 2008, S. 336). Die Nutzung geht dabei weit über herkömmliche Lexika hinaus. In den Interviews wurde über Geburtsvorbereitungskurse gesprochen, über Jobangebote und über Schneckenbekämpfung – über die Aufgaben oder Probleme, die von den Befragten jeweils gerade zu lösen waren. Eine Angestellte, Mitte 20, geht auf www.frag-mutti.de, wenn sie Flecken entfernen muss, und ein Manager aus dem Schwarzwald, etwa 40, informiert sich für die Hausaufgaben seiner Tochter bei Wikipedia über Spinnen. Für die meisten Befragten spielt es dabei keine Rolle, ob es sich um professionelle Angebote handelt oder um Laien-Einträge. Weltwissen bedeutet auch, dass irgendeine Person schon einmal vor dem gleichen Problem gestanden hat – und darüber hoffentlich in einem Forum oder auf einer Homepage berichtet.

These 4 Die Kontaktpflege verlagert sich ins Internet

Auch soziales Kapital wird im Netz erworben und organisiert. E-Mails oder Instant Messenger ersetzen Telefon und Brief. Wichtigster Vorteil ist hier die Flexibilität. "Das Schöne an E-Mails ist, dass du sie bearbeiten kannst, wann es dir passt", sagte ein Jurist, Mitte 30. E-Mails werden vor allem für Geschäftskontakte und von Älteren genutzt. Für eine junge Mutter ist dies außerdem ein "Weg nach draußen". Während E-Mails für "beide Kommunikationspartner maximale Zeitsouveränität und Zeitersparnis" versprechen (Neverla 2007, S. 49), zeigen Instant Messenger, ob jemand erreichbar ist, und bieten sofortigen Kontakt – was besonders die jüngeren Befragten schätzen. Freundschaften ("strong ties") und Bekanntschaften ("weak ties") werden auch über Social Network Sites gepflegt (vgl. Granovetter 1982). Einige der Befragten sammeln regelrecht Kontakte ("new ties"), wie eine 16-jährige Gymnasiastin, die stolz auf ihre "300 Freunde" auf Partyfans ist. Zudem scheinen Social Network Sites "bridging ties" zu fördern (vgl. Granovetter 1982). Ein Lehrling aus Spremberg nutzt zum Beispiel StudiVZ und gewinnt so Anschluss an die Mittelschicht.

These 5 Das Internet erleichtert das Identitätsmanagement

Das Internet ist eine Antwort auf die Individualisierung, die gestiegene Mobilität und den Zwang, das Leben jenseits von traditionellen Bindungen und Netzwerken zu gestalten (vgl. Beck 2000, S. 26–28). Es befriedigt erstens das Bedürfnis nach Autonomie (vgl. Ryan u. Deci 2000, S. 68), weil es erlaubt, selbstbestimmt zu handeln sowie sich selbst zu verwirklichen und darzustellen (über Homepages, Social Network Sites, Rollenspiele oder Seiten für Spezialinteressen), erweitert zweitens das Spektrum für den sozialen Vergleich und für die Beobachtung des Meinungsklimas, weil hier (vor allem in Blogs, Foren und Chats) eine Vielzahl an Lebensentwürfen und Meinungen zur Verfügung steht, mit der weder das "normale Leben" noch das Fernsehen konkurrieren können, gibt drittens auch Minderheiten (etwa Homosexuellen) Selbstbestätigung und Legitimation, weil sie hier Gleichgesinnte finden und einen geschützten Raum, und schafft viertens Gemeinschaften (und damit Gruppenidentitäten), die erst durch (und manchmal nur über) das Internet existieren. Dies beginnt bei Müttern und Großmüttern, die ihre Familie online zusammenhalten, geht weiter über Jugendmilieus, die sich per Link auf Videos aufmerksam machen und so Erfahrungen teilen, und endet nicht bei einer Frau, die auf einer Social Network Site die Gruppe "Mütter ohne Mann" gegründet hat.

These 6 Das Internet weitet seinen Platz im Medienrepertoire aus

Das Internet ist den traditionellen Medien beim Alltagsmanagement und bei der Kontaktpflege (soziales Kapital) überlegen (vgl. Oehmichen u. Schröter 2008, S. 399) und bei der Akkumulation von kulturellem Kapital sowie beim Identitäts- und Emotionsmanagement zumindest eine ernste Konkurrenz. Vor allem jüngere und formal hoch gebildete Befragte haben über Online-Nachrichten, Newsletter oder RSS-Feeds gesprochen und Printmedien eher in eine Genuss-Ecke geschoben. Der Jurist hebt sich das Zeitunglesen beispielsweise als "Erlebnis" für das Wochenende auf, und ein Unternehmensberater, Ende 20, der keine Tageszeitung abonniert, weil er "nie da" ist, kauft sich nur "sonntags oder am Flughafen" ein Blatt: "Das ist für mich absolute Entspannung. Sich da die schönen Sachen rauspicken. Um sich zu informieren, braucht man das sicherlich nicht." Das Internet ist aktueller, vielfältiger, am Arbeitsplatz (sowie oft auch daheim) sofort verfügbar und bietet vor allem über das Web 2.0 Angebote für das Emotionsmanagement (Stichworte: Youtube, MySpace). Einerseits hat das Internet damit eine Nische erobert, die durch die traditionellen Medien nicht oder nicht so effizient abgedeckt wurde (Alltagsmanagement, soziales Kapital), andererseits ersetzt es Presse, Hörfunk und Fernsehen – vor allem bei den jüngeren Befragten. Einige haben ihr Zeitungsabonnement abbestellt. Online ist es schnell und einfach möglich, kulturelles Kapital zu akkumulieren und (ständig) auf dem Laufenden zu bleiben – zwei Motive, die gerade karriereorientierte Menschen reizen (vgl. Abschn. 5). Mit dem Stapel Papier verschwindet außerdem das schlechte Gewissen, wieder keine Zeit für die Zeitung gehabt zu haben. Die Nutzungsmotive, die an den Träger Papier gebunden sind (Genuss beim Anfassen und beim Blättern, Druckästhetik; vgl. Schönbach 1997, 2003), werden auf das Wochenende verschoben. "Unter den Druck der Onlinenutzung" (Oehmichen u. Schröter 2008, S. 395) ist auch das Fernsehen geraten – nicht so sehr bei den Befragten, die sich online über das Programm informieren, Zusatzangebote nutzen (etwa Rezepte aus Kochsendungen oder RSS-Feeds) oder die Tagesschau dann sehen, wenn es ihr Alltag erlaubt. Vor allem die jüngeren Interviewpartner haben berichtet, dass sie abends lieber chatten als fernsehen (oder beides parallel machen) und sich bei Youtube, MySpace oder StudiVZ besser unterhalten können. Dazu kommen Angebote für das Identitätsmanagement (neben Social Network Sites zum Beispiel Rollenspiele wie World of Warcraft oder Sportspiele wie Counterstrike), die wie das Fernsehen Emotionen liefern und erlauben, sich (anonym) mit anderen zu vergleichen, diese Bedürfnisse aber schon deshalb besser bedienen, weil der Nutzer aktiver sein muss und Rückmeldungen bekommt.


5   Ergebnisse II: Typologie der Internetnutzer
Um die vor allem in den Thesen drei bis sechs angedeuteten Unterschiede sozial verorten zu können, wird in diesem Abschnitt eine Typologie präsentiert, die danach fragt, wovon der Umgang mit dem Internet abhängt. Dazu wurden aus dem Interviewmaterial zunächst zwei Kriterien entwickelt, die die Internetnutzung beschreiben können und außerdem erlauben, die Befragten tatsächlich zu unterscheiden:
  Bedeutung des Internets im Alltag. Dieses Kriterium zielt erstens auf die Bindung an das Internet (

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