SCHWERPUNKT
Freie Schulwahl und Bildungsgerechtigkeit(1) | St. Georgenstrasse 181a, 9011 St. Gallen, Schweiz |
Johannes Giesinger Email: giesinger@st.gallen.ch |
Online publiziert: 20. Juni 2009
Schlüsselwörter Bildungsrechtigkeit - Chancengleichheit - Freie Schulwahl - Moralphilosophie - Erziehungsphilosophie - Bildungspolitik - Soziale Segregation
School choice and educational justiceA sketch of the problem
Abstract One of the controversial points in the debate on schools choice is the problem of educational justice. Does the introduction of choice schemes decrease or increase social inequality within the education system? The objective of this contribution, which leads on from current debates in Anglo-Saxon moral and educational philosophy, is not to answer this question, but to analyze the apparent dissent. The role of normative principles and empirical assumptions on the situation will be investigated.
Keywords Educational justice - Educational policy - Equality of opportunity - Moral philosophy - Philosophy of education - School choice - Social segregation
Für die Einführung von Schulwahl-Modellen, wie sie in unterschiedlichen Ausprägungen bereits in vielen Industrieländern Realität sind,1 werden hauptsächlich drei Argumente vorgebracht:
Ein erstes Argument vertraut auf die positiven Effekte von Marktmechanismen im Bildungswesen: Wahlfreiheit auf Seiten der Eltern, verbunden mit weitgehender Autonomie der Schulen, soll Wettbewerb unter den verschiedenen Institutionen erzeugen und auf diese Weise zu einer Steigerung der Effizienz, zu verbesserter Qualität und verstärkter Innovation führen.
Von dieser marktliberalen Argumentation ist das Freiheits-Argument zu unterscheiden, welches beispielsweise Rob Reich (2007) als zentrale normative Grundlage für die Gewährung von Wahlmöglichkeiten ansieht. Eltern kommt demnach das Recht zu, über Erziehung und Bildung ihrer Kinder in gewissen Grenzen selbst zu bestimmen und daraus ergibt sich auch eine staatliche Verpflichtung, ihnen die freie Wahl der Schule für ihre Kinder zu ermöglichen.2
Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht jedoch das Gerechtigkeits-Argument für freie Schulwahl, gemäß dem das herkömmliche System ungerecht ist, weil es echte Wahlfreiheit den Wohlhabenden vorbehält und damit die Bildungschancen ungleich verteilt (vgl. z. B. Brighouse 2008). In der Tat verfügen wohlhabende Eltern in Ländern, wo bislang keine freie Schulwahl besteht, über weitgehende Wahlmöglichkeiten: Sie können ihr Kind auf eigene Rechnung in eine private Schule schicken oder ungeachtet der dort herrschenden Immobilienpreise in ein Wohnquartier umziehen, dessen Schule über einen guten Ruf verfügt. Freie Schulwahl, so deren Befürworter, eröffne die gleichen Chancen auch den sozial Benachteiligten und gewährleiste deshalb echte Chancengleichheit.
Diese Auflistung wesentlicher Argumente lässt erahnen, dass die Befürworter der freien Schulwahl längst nicht nur unter den "neoliberalen" Verfechtern einer Freisetzung von Marktkräften zu finden sind, sondern auch im linken politischen Spektrum sowie unter denjenigen, welche aus pädagogischen oder weltanschaulich-religiösen Gründen mit der Ausrichtung der öffentlichen Schule nicht einverstanden sind. Deren Interessen decken sich hier teilweise mit den Anliegen derjenigen Liberalen, welche den Eltern größtmögliche Autonomie in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder sichern wollen.
Das Freiheits- und das Gerechtigkeits-Argument gewinnen ihre Plausibilität aus der Tatsache, dass sich das Konzept der freien Schulwahl, wie es ursprünglich vom Ökonomen Milton Friedman (1955/1962; vgl. auch Friedman & Friedman 1980, Kap. 6) entwickelt wurde, in einem wesentlichen Punkt von den Positionen derjenigen abgrenzt, welche den vollständigen Rückzug des Staates aus dem Bildungswesen fordern. Radikal marktliberale Ökonomen, aber auch libertäre (libertarian) Philosophen wie Robert Nozick (1974) oder Jan Narveson (1988) vertreten die Auffassung, der Staat habe weder Schulen zu führen noch zu finanzieren. Friedmans Modell sieht demgegenüber vor, die Finanzierung des Bildungssystems (teilweise) als staatliche Aufgabe zu betrachten, während die Führung von Schulen Privaten zu überlassen ist. Ein zweiter Grundgedanke Friedmans lautet, dass staatliches Geld nicht den Schulen direkt, sondern deren "Kunden" also den Eltern und Schülern zur Verfügung gestellt werden soll: Die Finanzierung soll über sogenannte Bildungsgutscheine (vouchers) auf der Nachfrageseite ansetzen. Indem Eltern und Schüler sich für die von ihnen bevorzugte Schule entscheiden, bringen sie den ihnen zustehenden staatlichen Beitrag in die Finanzierung dieser Schule ein. Durch staatliche Gelder also werden auch ärmere Familien mit Kundenmacht auf dem entstehenden Bildungsmarkt ausgestattet. Nur aufgrund dieses öffentlichen Engagements lassen sich das zweite und das dritte der oben genannten Argumente sinnvoll vertreten: Elterliche Autonomie kann sich nur entfalten, wenn die finanziellen Ressourcen dafür vorhanden sind und nur dann lässt sich auch ein Zuwachs an Gerechtigkeit oder Chancengleichheit erwarten.
Der Behauptung, freie Schulwahl führe zu mehr Chancengleichheit, schlägt allerdings heftiger Widerspruch entgegen: Das genaue Gegenteil sei zu befürchten, behaupten manche Gegner des Konzepts freier Schulwahl. Im Folgenden wird keine definitive Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von freier Schulwahl und Chancengleichheit angestrebt. Vielmehr soll ein Beitrag zum Verständnis des vorliegenden Dissenses geleistet werden. So ist zu fragen, welche Rolle unterschiedliche normative Konzeptionen von Bildungsgerechtigkeit und divergierende empirische Annahmen bei der Entstehung dieses Dissenses spielen. Als drittes Element ist die Tatsache in den Blick zu nehmen, dass Wahlmodelle unterschiedlich ausgestaltet werden können. Von deren konkreter Ausgestaltung hängen auch die erwartbaren empirischen Folgen ab. Unterschiedliche normative Auffassungen wiederum führen zu unterschiedlichen Bewertungen des jeweiligen Wahl-Arrangements.
Der nächste Teil des vorliegenden Beitrags unterscheidet verschiedene Konzeptionen von Bildungsgerechtigkeit, während der dritte darauf aufbauend auf das Problem des Designs von Wahlmodellen und der Beurteilung von deren empirischen Folgen eingeht.
Gemäß dem Gerechtigkeits-Argument fördert freie Schulwahl die Chancengleichheit im Bildungssystem. Ob diese Aussage korrekt ist, hängt unter anderem davon ab, wie der Begriff der Chancengleichheit interpretiert wird. Folgt man dem im Rahmen von internationalen Vergleichsstudien verwendeten Verständnis dieses Begriffs, so läuft die genannte Aussage auf die Behauptung hinaus, durch freie Schulwahl lasse sich der statistische Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung abschwächen. Daran, wie stark dieser Zusammenhang ausgeprägt ist, lässt sich nach dieser Auffassung das Maß an Chancengleichheit ablesen, welches in einem bestimmten Bildungssystem realisiert ist: Bekanntlich weisen Deutschland und die Schweiz besonders große Leistungsdisparitäten zwischen den sozialen Schichten auf und verfügen deshalb nach gängiger Einschätzung über geringe Chancengleichheit (vgl. insbesondere Baumert & Schümer 2001; Baumert, Stanat & Watermann 2006). Betrachtet man den von empirischen Bildungsforschern verwendeten Begriff von Chancengleichheit genauer, so fallen zwei Dinge auf: Erstens ist diese Auffassung klar resultatorientiert. Worauf es ankommt, sind die in einschlägigen Tests messbaren Leistungen der Schüler. Zweitens enthält sich diese Konzeption genauer Angaben über den erstrebenswerten Zustand. So kann etwa gefragt werden, ob Chancengleichheit erst dann erreicht wäre, wenn die soziale Herkunft keinerlei Einfluss mehr auf die erbrachten Leistungen hätte. Weiter ist unklar, welche Bedeutung natürlich bedingten Leistungs-Hemmnissen zuzumessen ist. Ebenso bleibt die Bewertung des Einflusses persönlicher Entscheidungen auf die erbrachten Leistungen offen.
Dieses Verständnis von Chancengleichheit verfügt also nicht über klare Zielvorstellungen und damit bleibt weitgehend ungeklärt, welche Hindernisse beim Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, aber auch schulischen Zertifikaten, als illegitim einzustufen sind.3 Die empirische Forschung zu den Bedingungen schulischer Leistung, die gerade auch durch die PISA-Studien neue Impulse erhalten hat (vgl. Watermann & Baumert 2006), versucht diejenigen Faktoren zu identifizieren, welche Leistungs-Ungleichheiten hervorbringen. Eine ethische Betrachtungsweise beurteilt diese Faktoren die sich für bestimmte Schüler als Hindernisse erweisen im Lichte gewisser Zielvorstellungen. Ein bildungspolitischer Zugang wiederum fragt auf der Basis normativer Erwägungen und empirischer Erkenntnisse nach den Maßnahmen, die ergriffen werden könnten, um illegitime Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Dabei ist klar, dass ein und dieselbe Maßnahme im Lichte unterschiedlicher Zielvorstellungen befürwortet werden kann, denn ein bestimmtes Hindernis kann im Kontext unterschiedlicher Zielvorstellungen als illegitim erscheinen. Andererseits lässt sich eine Zielvorstellung auch dadurch gewinnen, dass man angibt, welche Hindernisse für schulischen Erfolg als illegitim anzusehen sind. Es sind diese beiden miteinander verwobenen Gesichtspunkte Zielvorstellungen und Hindernisse anhand derer sich unterschiedliche Konzeptionen von Bildungsgerechtigkeit unterscheiden lassen.4
In einem ersten Schritt ist zu fragen, worauf sich die jeweilige Zielvorstellung bezieht: Hier gibt die soeben vorgestellte Konzeption eine klare Antwort, indem sie die erreichten Resultate als entscheidend darstellt. Diffus bleibt diese Konzeption hingegen in der Verteilungsfrage, die in einem zweiten Schritt angegangen werden muss. Betrachten wir aber zunächst das erstgenannte Problem: Eine Alternative zur resultatorientierten Sicht besteht darin, auf der Ebene von Schule und Unterricht anzusetzen und allen eine bestimmte Art von Unterricht oder eine bestimmte Unterrichtsqualität zu versprechen. Mit diesem Vorgehen könnte der pädagogisch und didaktisch problematischen Verpflichtung ausgewichen werden, bestimmte Resultate zu garantieren. Ob ein Schüler unter bestimmten Bedingungen Lernfortschritte erzielt, hängt immer auch von ihm selbst und seinen eigenen Entscheidungen ab und kann nicht vollständig in die Verantwortung von Lehrpersonen gestellt werden. In diesem Sinne scheint es angebracht, nicht Resultate, sondern Lernchancen im Rahmen eines guten Unterrichts sicherzustellen. Damit wird die individuelle Entscheidung, diese Chancen nicht zu nutzen, als legitimes Hindernis für Lernfortschritte dargestellt. Dies jedoch erscheint als problematisch, weil die Motivationen und Entscheidungen von Schülern zumindest teilweise durch Einstellungen bestimmt sind, welche sie sich in Rahmen ihrer Familie angeeignet haben und für die sie selbst nicht verantwortlich zu machen sind.5
Wenn Eltern für ihre Kinder eine Schule auswählen, entscheiden sie sich damit jedenfalls nicht für bestimmte Resultate, sondern für Lernchancen. Sie wählen eine bestimmte Schule allerdings in der Erwartung, dass ihre Kinder dort eine echte Chance besitzen, gewisse Resultate zu erzielen. Dem jeweiligen Unterricht selbst ist die Orientierung auf diese Resultate in Form von Lernzielen inhärent. Damit ist eine mögliche Lösung des hier diskutierten Problems angedeutet: Sinnvollerweise wird man nicht von Resultaten, sondern von Zielen sprechen und einen Unterricht garantieren, welcher deren Erreichung möglich macht.
Im Folgenden sollen zwei weitere Möglichkeiten zur Festlegung von Zielvorstellungen erwähnt werden, die im vorliegenden Kontext in Betracht gezogen werden könnten: Erstens könnte die Formulierung einer Konzeption von Bildungsgerechtigkeit auf der Ebene der Ressource n verteilung ansetzen. Schließlich sind es in erster Linie die ungleich verteilten Ressourcen, welche zu einer Ungleichheit der Wahlmöglichkeiten zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Schichten führen. Die Ebene der elterlichen Wahlfreiheit bietet einen weiteren Ansatzpunkt für die Formulierung einer Zielvorstellung: Manche Argumentationen von Befürwortern freier Schulwahl erwecken den Eindruck, als betrachteten sie die ungleiche Verteilung von Wahlchancen an sich ungeachtet ihrer Folgen als ungerecht. Allerdings werden sich die wenigsten auf die Behauptung festlegen wollen, auf die Folgen (für die Verteilung von Lernchancen oder Bildungsresultaten) komme es nicht an. Plausibler ist es denn auch, ungleiche Wahlfreiheit als wesentliches Hindernis im Hinblick auf andere Zielvorstellungen zu sehen. Ähnliches gilt für die Idee, den Aspekt der Ressourcenverteilung in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist Harry Brighouse (vgl. 2000, 2008), der linksliberale Sympathisant freier Schulwahl, welcher diese Idee immer wieder ins Spiel bringt, ohne sie aber letztlich zu vertreten. Angesichts der krass ungleichen Verteilung von Bildungsressourcen in den Vereinigten Staaten, wo die öffentlichen Schulen aus dem lokalen Steueraufkommen alimentiert werden, erscheint es in der Tat naheliegend, Ressourcen-Gleichheit als Zielvorstellung zu akzeptieren. Gewisse Arrangements von freier Schulwahl könnten die Erreichung dieses Ziels garantieren.
Gegen das Ansinnen, den Aspekt der Wahlfreiheit oder die Ressourcenverteilung als entscheidend zu betrachten, spricht, dass die Lebenschancen von Kindern letztlich nicht davon abhängen, sondern von den tatsächlichen Lernchancen und den erreichten Resultaten. Das Problem einer gerechten Verteilung von Bildung ist gerade deshalb so drängend, weil sie die Verteilung von Lebenschancen beeinflusst. Damit ist die zweite der oben genannten Fragen angesprochen: die Verteilungsfrage.
Wie bereits deutlich wurde, vermeidet das von der empirischen Bildungsforschung verwendete Verständnis von Chancengleichheit eine präzise Beantwortung der Verteilungsfrage und enthebt sich damit der Lösung von Schwierigkeiten, welche entstehen, wenn man der Frage nachgeht, welche Verteilung von Bildungsresultaten, Unterrichtsqualität oder allenfalls auch Ressourcen als gerecht einzustufen ist. In all diesen Fällen erweist sich insbesondere die Anwendung von Gleichheits-Prinzipien als schwierig, sofern man sich nicht mit vagen Formulierungen zufrieden geben will.
Für Brighouse (2008, S. 41) etwa besteht Bildungsgleichheit in einer gleich guten schulischen Versorgung für jedes einzelne Kind ("[an] equally good provision for each child"). Nicht der gleiche, sondern ein gleichwertiger Unterricht, also ein Unterricht, welcher den individuellen Voraussetzungen angepasst ist, scheint damit gefordert. Dabei bleibt jedoch offen, inwiefern die Idee der gleich guten Versorgung eine kompensatorische Förderung derjenigen beinhaltet, welche aufgrund ihres familiären Hintergrunds allenfalls auch wegen einer angeborenen Lernschwäche schulisch benachteiligt sind. Brighouse schließt sich der Auffassung an, wonach soziale und ethnische Herkunft keinen Einfluss auf den schulischen Erfolg haben sollten und Leistungs-Unterschiede, welche zu einer signifikanten Ungleichheit der Lebenschancen führen, als illegitim einzustufen sind (ebd., S. 42). Diese letzte Formulierung scheint ein gewisses Maß an Gleichheit auf der Ebene der Resultate zu erfordern. Gerade dies ist durch Brighouses Verständnis von Bildungsgleichheit aber infrage gestellt: Garantiert man jedem Kind, auch dem sozial privilegierten und dem begabten, eine gleich gute Versorgung, so bedeutet dies, dass der Unterricht auch deren Bedürfnissen gerecht werden muss. Dies jedoch führt unter Umständen gar zu einer Verschärfung der bestehenden Ungleichheit.
Das alternative Vorgehen, welches nicht mit Gleichheits-Prinzipien, sondern mit der Idee einer angemessenen oder ausreichenden Bildung6 operiert, wird von Brighouse abgelehnt (Brighouse & Swift 2008, 2009). Gemäß dieser Idee ist nicht in erster Linie relevant, ob Bildungschancen gleich verteilt sind, sondern inwiefern deren Verteilung weitergehenden politisch-moralischen Zielen angemessen ist. In aktuellen Beiträgen (Satz 2007, 2008; Anderson 2007; vgl. auch Liu 2006) wird die volle Mitgliedschaft in der demokratischen Gemeinschaft demokratische oder bürgerliche Gleichheit als Ziel definiert, dem das Bildungssystem zu genügen hat.7 Dieses Ziel kann weiter konkretisiert werden: Die Fähigkeit zu autonomer Lebensgestaltung, zu politischer Partizipation und zur Integration in den Arbeitsmarkt können als Bedingungen für die vollwertige Teilhabe am demokratischen Leben gesehen werden. Dies wiederum erlaubt eine Konkretisierung der Fähigkeiten und Kenntnisse, die eine angemessene Bildung ausmachen. Die Fähigkeit, gut lesen zu können, scheint etwa für alle drei Bereiche relevant. Hingegen erscheint es nicht als notwendig, dass alle gleich gut lesen können, um als vollwertige Mitglieder an der demokratischen Gemeinschaft teilzuhaben. Nicht gleiche Resultate sind demnach in diesem theoretischen Kontext gefordert, sondern eine gute Grundbildung.
Darin jedoch kann sich die Idee der demokratischen Angemessenheit nicht erschöpfen. Der Wert von Bildung ist zumindest teilweise positional bestimmt, das heißt, deren Wert für den Einzelnen hängt auch davon ab, wie viel davon die anderen haben (vgl. Brighouse & Swift 2006). Dies ist bereits im Bereich der Grundbildung in Rechnung zu stellen: Zwar lässt sich unabhängig von Vergleichen zwischen Individuen festlegen, worin eine gute Lesekompetenz besteht. Wie gut man lesen können muss, um einen Arbeitsplatz zu finden, hängt jedoch auch davon ab, welche Kenntnisse andere Bewerber mitbringen. Analoges gilt für den Wettbewerb um soziale Positionen insgesamt: Wer mehr oder bessere Bildung besitzt, verfügt über einen kompetitiven Vorteil. Aus diesem Grund kann sich der demokratische Staat nicht auf die Sicherung der Grundbildung beschränken, sondern muss durch weitergehende Bildungsangebote faire Bedingungen im Wettbewerb um soziale Vorteile sicherstellen. Dies jedoch ist, zumindest nach der Auffassung von Harry Brighouse und Adam Swift (2006; ähnlich Koski & Reich 2008 sowie Strike 2008) nur durch die Anerkennung von Gleichheits-Prinzipien möglich: Da jede Bildungsungleichheit zu einem kompetitiven Nachteil für die Schlechtergestellten werden kann, muss Bildung demnach gleich verteilt werden.
Dieser Schlussfolgerung widersetzen sich Anderson und Satz vehement. Sie bestreiten allerdings nicht, dass der Staat für faire Bedingungen im Wettbewerb um soziale Vorteile zu sorgen hat. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Ideal der demokratischen Gleichheit, dem die Verteilung von Bildung angemessen sein soll: Werden gewisse soziale Gruppen durch Bildungsungleichheiten aus dem Wettbewerb um attraktive soziale Positionen ausgeschlossen, so können sie sich zu Bürgern zweiter Klasse degradiert fühlen. Welche positionalen Ungleichheiten im Lichte dieser allgemeinen Idee als illegitim gelten müssen, ist jedoch alles andere als klar. Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht nur von normativen Erwägungen ab, also einer Konkretisierung der Idee demokratischer Gleichheit, sondern auch von der empirischen Einschätzung der Verhältnisse im jeweiligen Bildungssystem und in der Gesellschaft insgesamt. Die Mechanismen des Ausschlusses nehmen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Formen an. Während in Deutschland unter anderem die gegliederte Struktur des Bildungssystems den sozialen Aufstieg von Arbeiterkindern erschwert,8 haben die ärmeren Familien in den Vereinigten Staaten vor allem mit ökonomischen Hindernissen beim Zugang zu guter Bildung zu kämpfen. Aufgrund der schlechten Ausstattung vieler öffentlicher Schulen ist die Qualität der Grundbildung mancherorts so schlecht, dass die Schüler keine echte Chance auf den Übertritt in ein gut geführtes College haben. Gemäß Andersons Einschätzung ist der Besuch eines guten Colleges nicht aber einer der bekannten Spitzenuniversitäten als Voraussetzung für den Zugang zur sozialen Elite zu sehen. Der Idee des fairen Wettbewerbs ist folglich Genüge getan, so Anderson, wenn allen Schülern mit entsprechendem Potenzial eine Grundbildung gewährleistet wird, die ihnen die Chance auf gute Hochschulbildung eröffnet. Gleichzeitig betont sie, in Übereinstimmung mit Satz, es müsse Eltern freigestellt bleiben, wieviel an Ressourcen sie für die Bildung ihrer Kinder aufwenden wollen. Eltern sollen also nicht daran gehindert werden, den Kindern durch private Investitionen positionale Vorteile zu verschaffen, indem sie ihnen den Besuch von Elite-Institutionen ermöglichen, welche Ärmeren weitgehend verschlossen bleiben.
Die Frage der privaten Bildungsinvestitionen erweist sich als einer der wesentlichen Streitpunkte zwischen Bildungsegalitaristen wie Brighouse und Swift auf der einen und den Vertreterinnen des Angemessenheits-Paradigmas auf der anderen Seite.9 Diese Debatte lässt sich allerdings auf die deutschen Verhältnisse nur in Ansätzen übertragen, da Privatschulen hier nach wie vor nur marginale Bedeutung aufweisen. Wie die Idee der demokratischen Gleichheit und die sich daraus ergebende Forderung nach fairen Wettbewerbs-Bedingungen bezogen auf das deutsche oder schweizerische System zu konkretisieren ist, soll an dieser Stelle nicht näher erörtert werden.
Es scheint aber klar, dass die heute bestehenden Ungleichheiten in diesen Systemen weder durch eine egalitaristische Konzeption, noch durch die Idee der demokratischen Angemessenheit legitimiert werden. Angesichts der beträchtlichen Leistungsdisparitäten zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Schichten kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle, wie von Brighouse gefordert, eine gleich gute Bildung erhalten. Die weitgehend staatlich geführten Bildungssysteme scheinen weder ein gutes Grundbildungsniveau für alle zu gewährleisten noch faire Bedingungen im Wettbewerb um sozialen Status und Einkommen. Die Frage, inwiefern die Einführung von Wahlmodellen zu einem Abbau der bestehenden Mängel beitragen kann, stellt sich also im Rahmen beider genannten Paradigmen. Gewisse Hindernisse, deren Beseitigung sich manche von der Einführung freier Schulwahl erhoffen, gelten im Rahmen beider Ansätze als illegitim.
Manche Befürworter von freier Schulwahl sehen in der ungleichen Verteilung der Wahlfreiheit ein zentrales Hindernis für die Sicherung einer fairen Verteilung von Lernchancen oder Bildungsresultaten. Sie können dabei erstens das erwähnte marktliberale Argument ins Feld führen, nach dem durch Wettbewerb unter den Schulen eine allgemeine Qualitätssteigerung zu erwarten ist. Dies könnte sich gerade auch für öffentliche Schulen, die sich gegen private Anbieter zu behaupten hätten, positiv auswirken. Schlechte Schulen müssten sich verbessern, wenn sie ihrer Schließung entgehen wollten; dies verringert möglicherweise die Gefahr, dass Schüler qualitativ unbefriedigende Bildungsangebote in Anspruch nehmen müssen.
Zweitens ist von der Einrichtung von Quasi-Märkten eine Diversifizierung im Bildungsbereich zu erwarten: Schulen werden, um sich von anderen Marktteilnehmern abzuheben, unterschiedliche Profile ausbilden und damit um Kunden werben. Dies bedeutet eine Verabschiedung der Idee des gleichen Unterrichts, die trotz der verstärkten Gewichtung "individualisierter" Unterrichtsformen das öffentliche Schulwesen bis heute prägt. Ein Bildungsmarkt, so die Erwartung, wird mit der Bereitstellung unterschiedlicher qualitativ hochstehender Angebote auf die verschiedenen Bedürfnisse von Schülern reagieren. Dadurch wiederum erhöht sich die Chance, dass für jeden einzelnen Schüler ein zu seinen spezifischen Voraussetzungen passendes Angebot gefunden werden kann.
Drittens bietet sich durch freie Schulwahl die Chance, dass der durch den Schulbesuch im Wohnquartier bestehende Zusammenhang zwischen der räumlichen Segregation der sozialen Schichten und der sozialen Segregation in der Schule aufgebrochen wird. Sozial schwache Familien, welche in benachteiligten Wohngebieten leben, erhalten die Möglichkeit, ihr Kind in einem anderen Schulquartier einschulen zu lassen.
Viertens verunmöglicht es ein fair ausgestaltetes Wahlmodell wohlhabenden Eltern, ihren Kindern durch Inanspruchnahme privater Bildungsangebote einen positionalen Vorteil zu verschaffen.
Diese positiven Erwartungen beruhen auf Annahmen darüber, auf welche Faktoren die bestehenden Ungerechtigkeiten im Bildungssystem zurückzuführen sind. Sie benennen Hindernisse, die gewissen Kindern den Weg zu schulischem Erfolg verstellen, und führen aus, in welcher Weise freie Schulwahl diese beseitigen könnte. Dabei wird meist zugestanden, dass das Eintreten der genannten positiven Effekte auch von der Ausgestaltung des jeweiligen Wahl-Arrangements abhängt (3.1). Das wichtigste Gegenargument lautet, dass auch eine optimale Regulierung freier Schulwahl nicht die erwünschten Wirkungen hervorbringt, weil sich das Wahlverhalten der Eltern aus unterschiedlichen Schichten grundlegend unterscheidet (3.2).
Wahlmöglichkeiten eröffnen sich, insbesondere für wohlhabende Eltern, auch im traditionellen System: "The issue is not whether we should have school choice, but what kind of choice", sagt deshalb Brighouse (2008, S. 47). Die Idee freier Schulwahl ist mit dem Versprechen verbunden, allen Eltern, nicht nur den Wohlhabenden, echte Wahlfreiheit zu gewähren. Die Gültigkeit des Gerechtigkeits-, aber auch des Freiheits-Arguments hängt davon ab, ob dies tatsächlich der Fall ist.
Das von Friedman entwickelte Modell sieht einen weitgehend unregulierten Bildungsmarkt vor. Insbesondere erlaubt es den Schulen, ein über den staatlich garantierten Betrag hinausgehendes Schulgeld zu erheben. Auf diese Weise wird der private Sektor subventioniert, ohne dass dadurch echte Wahlfreiheit für ärmere Familien sichergestellt würde.
Die Wohlhabenden profitieren von staatlicher Unterstützung, ohne dass sie ihre bisherigen Privilegien im Bildungssystem aufgeben müssten. So können weiterhin Schulen unterhalten werden, welche für die Ärmeren kaum zugänglich sind.
Auch bei einem Verbot von Zusatzzahlungen fließt staatliches Geld in die Taschen derjenigen, welche es gar nicht benötigen. Deshalb könnte man auch hier sagen, freie Schulwahl führe zu einer "weitergehenden Umverteilung zu den Wohlhabenden" (Appelt & Reiterer 2004, S. 19). Allerdings scheint der Nutzen eines solchen Arrangements für die Ärmeren deutlich größer zu sein als für die Reichen, denn ihnen eröffnet es völlig neue Handlungsoptionen. Bemerkenswerterweise muss dieses Bemühen um Ressourcen-Gleichheit gemäß den Konzeptionen von Anderson (2007) und Satz (2007) als moralisch problematisch eingestuft werden, da es die elterliche Freiheit der Wohlhabenden beschränkt: Ihnen wird damit die Chance genommen, nach eigenem Gutdünken in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. Verhilft man einem so verstandenen Prinzip der elterlichen Freiheit zum Durchbruch, scheint die Ermöglichung gleicher Wahlfreiheit gerade gefährdet.
Wie sich ein Wahl-Arrangement, welches keine Gleichheit der Ressourcen schafft, hinsichtlich der Realisierung bestimmter Zielvorstellungen auswirkt, bleibt eine empirische Frage. Es ist jedoch plausibel anzunehmen, dass fortbestehende Ungleichheiten in der Wahlfreiheit die soziale Kluft im Bildungswesen eher vergrößern als verkleinern werden. Will man echte Wahlfreiheit für alle sicherstellen, so sind, neben dem Verbot von Zusatzzahlungen, weitere Maßnahmen vonnöten (vgl. Bellmann 2008, S. 258f.): So muss sichergestellt werden, dass alle Eltern Zugang zu unabhängiger Information zur Qualität verschiedener Schulen haben. Weiter müssen auch allfällige Zusatzkosten insbesondere die Kosten für die Fahrt zur Schule von der öffentlichen Hand getragen werden. Zudem müsste verhindert werden, dass Schulen ihre Schüler aufgrund von Kriterien wie soziale und ethnische Herkunft oder schulische Leistungsfähigkeit auswählen.
Der wohl einfachste Weg, bei externen Evaluationen gut abzuschneiden und entsprechend gute Ratings zu erhalten, besteht für Schulen in der geschickten Auswahl der Schüler: Zum einen bringen sozial privilegierte Schüler aufgrund der sozialen und kulturellen Praxis ihrer Familien im Durchschnitt eine höhere schulische Leistungsfähigkeit mit. Zum anderen wirkt es sich, wie oftmals angenommen wird, für Kinder und Jugendliche tendenziell positiv aus, wenn sie mit vielen motivierten und begabten Kameraden den Unterricht besuchen.
Vor diesem Hintergrund können Kinder aus sozial schwachen und zugewanderten Familien als "schlechte Risiken" erscheinen, welche die Qualität der Schule und damit deren zukünftige Marktchancen beeinträchtigen. Hier gilt es also, diskriminierende Auswahlverfahren zu unterbinden. Insbesondere muss geklärt werden, wie Schulen vorzugehen haben, wenn sich mehr Schüler anmelden, als tatsächlich aufgenommen werden können. Um zu verhindern, dass benachteiligte Schüler von Schulen als bloße Belastung angesehen werden, könnten diese mit zusätzlichen staatlichen Geldern ausgestattet werden, welche den Schulen die Einrichtung spezieller Förderprogramme ermöglichen würden.10 Diese und andere Regulierungen stellen sicher, dass auch sozial Benachteiligten echte Wahlfreiheit auf dem Bildungsmarkt offensteht.
Die Effekte freier Schulwahl hängen nicht nur von der Ausgestaltung des jeweiligen Wahlmodells ab, sondern auch davon, wie sich die Marktteilnehmer also die Schulen und die Eltern auf der Basis dieser Vorgaben verhalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Wahlverhalten der Eltern: Erstens ist nicht zu erwarten, dass alle Eltern in gleicher Weise willens und fähig sind, sich mit den zur Verfügung stehenden Informationen zu beschäftigen und sich daraus ein kompetentes Urteil zu bilden. Broschüren mit Erläuterungen und Tabellen werden manche Eltern ungelesen zur Seite legen. Ob mündliche Beratungsangebote dieses Problem beheben können, ist offen. Zweitens wurde in verschiedenen Kontexten festgestellt, dass Eltern aus unterschiedlichen Schichten auch bei ähnlichem Informationsstand oftmals unterschiedliche Bildungsentscheidungen treffen.11 Offenbar nehmen Eltern unterschiedliche Bewertungen vor oder verfügen über unterschiedliche Ambitionen in Bezug auf die Bildung ihrer Kinder. Wenn beispielsweise eine Schule mit spezifischen Angeboten für Begabte oder mit einer besonderen Gewichtung kreativer Tätigkeiten wirbt, so wird das gewisse der gebildeten Eltern weit mehr ansprechen als Angehörige der unteren Schichten. Dies führt zu einem dritten Punkt, der das Verhalten der Schulen, nicht der Eltern, betrifft: Auch wenn den Schulen eine diskriminierende Auswahl der Schüler verunmöglicht wird, steht es ihnen weiterhin offen, die Zusammensetzung der Schülerschaft durch die besondere Ausprägung ihres Profils ein Stück weit zu steuern. Angebote wie die genannten dürften vorwiegend leistungsfähige Kinder aus den Bildungsschichten anziehen und die Angehörigen der unteren Schichten gleichgültig lassen oder sogar abschrecken.
Sofern derartige Mechanismen in Gang kommen, führt dies zu einer verstärkten Segregation der Schülerschaft.12 Geht man vom Freiheits-Argument für freie Schulwahl aus, ist diese Konsequenz ohnehin nicht überraschend: Wer allen Eltern ermöglichen möchte, eine ihren religiös-weltanschaulichen oder pädagogischen Einstellungen entsprechende Schulwahl zu treffen, muss in Kauf nehmen, dass Eltern mit unterschiedlichen Werthaltungen ihre Kinder in unterschiedliche Schulen schicken. Eine Segregation entlang weltanschaulicher Linien kann, muss aber nicht mit einer Absonderung der sozialen Schichten einhergehen. Von diesen beiden Arten der Segregation zu unterscheiden ist die getrennte Beschulung von Kindern aufgrund unterschiedlicher Leistungsfähigkeit, wie sie im deutschen System strukturell vorgesehen ist. Ob diese Form der Segregation im Rahmen eines umfassenden Wahlsystems noch Platz hätte, ist eine offene Frage.
Segregation auf der Basis von Leistungskriterien führt im heutigen, weitgehend staatlich geführten System zu einer Absonderung der sozialen Schichten: Nicht nur weisen Kinder aus unteren Schichten zum Zeitpunkt der Selektion im Durchschnitt ein geringeres Niveau in den relevanten Kompetenzen auf; ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit wird zudem von Lehrpersonen systematisch unterschätzt (vgl. etwa Bos et al. 2004). Dieses Problem würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch unter den Bedingungen freier Schulwahl auftreten, sofern den Schulen die Auswahl von Schülern nach Leistungsfähigkeit erlaubt wäre. Auch wenn dies ausgeschlossen wird, führt die Einführung von Schulwahl-Modellen aber, wie gesagt, möglicherweise zu einer sozialen Segregation der Schülerschaft, die tendenziell mit einer Segregation nach Leistungsfähigkeit einhergeht. Dies dürfte primär die schwächeren Schüler benachteiligen, die der Anregung durch stärkere Schüler beraubt wären.13
Soziale Segregation in der Schule führt also tendenziell zu einer Vergrößerung der Ungleichheit in der Entwicklung von Kernkompetenzen. Anderson (2007) vermutet deutlich weitergehende Folgen der Segregation: Soziale Benachteiligte, so sagt sie unter Verwendung von Begriffen Pierre Bourdieus, werden dadurch um Chancen zum Erwerb von "sozialem" und "kulturellem" Kapital gebracht.
Das heißt etwa, dass ihnen durch frühe Absonderung von den Privilegierten der Zugang zu deren sozialen Netzwerken versperrt bleibt (soziales Kapital) und dass sie daran gehindert werden, sich die spezifischen Verhaltens- oder Sprechweisen der gebildeten Mittelschichten anzueignen (kulturelles Kapital). In einer bemerkenswerten Umkehrung der gängigen Betrachtungsweise charakterisiert Anderson die Folgen früher schulischer Segregation für die privilegierten und begabten Schüler ebenfalls als Defizit an sozialem und kulturellem Kapital. Dabei hat sie vor allem deren künftige Rolle als Angehörige der Elite als Entscheidungsträger im Blick.
Für diese Rolle seien sie schlecht qualifiziert, wenn sie schon früh den persönlichen Kontakt zu den Benachteiligten verlören (soziales Kapital) und mit deren spezifischer Lebensweise nicht vertraut seien (kulturelles Kapital).
Soziale Absonderung verhindere, dass zukünftige Führungspersönlichkeiten Verständnis für Benachteiligte entwickeln könnten und begünstige stattdessen die Ausbildung stereotyper Vorurteile gegenüber diesen Gruppen. Dies wiederum führe dazu, dass sie in ihren zukünftigen Positionen die Belange der Benachteiligten nicht verstehen und deshalb auch nicht angemessen berücksichtigen können. Die Kenntnisse, welche sozial verantwortliche Entscheidungsträger benötigen, können nach Anderson nur zum Teil im Unterricht vermittelt werden: Wesentliche kulturelle und soziale Kompetenzen sind demnach nur im persönlichen Kontakt mit Benachteiligten zu erwerben.
Daraus ergibt sich die Forderung, Kinder unterschiedlicher Begabung und Herkunft im Schulsystem nicht voneinander abzusondern. Diese Argumentation stützt einerseits das amerikanische Gesamtschulsystem, welches mit ähnlichen Argumenten bereits von John Dewey (dazu Giesinger 2008b) verteidigt wurde, richtet sich aber gleichzeitig auch gegen die starke soziale Segregation innerhalb dieses Systems. Andersons Argumentation, die auf bestimmten empirischen Annahmen beruht, stellt die Überlegungen Reichs (2007, S. 720f.) infrage, welche auf der Unterscheidung von gemeinsamer Bildung (common education) und gemeinsamem Schulbesuch (common schooling) beruhen.
Die Grundidee der gemeinsamen Schule, so Reich, bestehe darin, allen die gleiche Art von Bildung zu vermitteln, und dies könne auch in Schulen geschehen, deren Schülerschaft entlang sozialer oder religiös-weltanschaulicher Linien segregiert sei. Worauf es ankommt, ist demnach die gemeinsame Orientierung aller Schulen an liberal-demokratischen Idealen: "[I]f an institutional ethos that is open to pluralism and a conception of common education consisting in fostering citizenship and cultivating autonomy are what matter about the common school ideal, then there exists wide room for parental discretion in choosing among schools that are distinguished in a variety of ways, but all embody this educational vision" (Reich 2007, S. 720). Allerdings schließt Reich nicht aus, dass gewisse demokratische Tugenden nur durch persönliche Interaktion zwischen Individuen unterschiedlicher Herkunft entwickelt werden können. Daraus leitet er ab, dass Wahlmodelle in einer Weise eingerichtet werden müssen, dass sie soziale oder weltanschauliche Heterogenität innerhalb der Schule begünstigen (ebd., S. 721).
Damit sind wir wieder bei der Frage, inwiefern freie Schulwahl einer gerechten Versorgung der Kinder mit Bildung förderlich oder hinderlich ist. Wenn eine gute Bildung, allgemein gesagt, in der Förderung von als wertvoll erachteten Kenntnissen und Fähigkeiten besteht, so lässt sich sagen, dass freie Schulwahl ein moralisches Problem bietet, sofern sie auf Grund des unterschiedlichen Wahlverhaltens von Eltern aus verschiedenen Schichten a) tatsächlich die soziale Segregation im Schulbereich verstärkt und damit b) die Entwicklung wertvoller Kenntnisse und Fähigkeiten bei gewissen oder bei allen Schülern behindert. In diesem Sinne beruht die Beurteilung der Gerechtigkeit von freier Schulwahl auf zwei unterschiedlichen empirischen Annahmen, die beide aufgrund der verfügbaren Forschungsergebnisse plausibel sind. Aus Sicht des demokratischen Angemessenheits-Paradigmas, wie es von Anderson und Satz vertreten wird, kann bereits der erste Schritt, die Verstärkung der Segregation, als problematisch angesehen werden: "The prevalence of separate schools for rich and poor", schreibt Satz (2008, S. 435), "undercuts the primary lesson of democracy that we are all social equals". Darüber hinaus führt soziale Segregation möglicherweise auch dazu, dass sich Kenntnisse, Fähigkeiten oder Haltungen, welche für das demokratische Zusammenleben unabdingbar sind, nicht angemessen entwickeln können. Aus egalitaristischer Sicht hingegen ist das Faktum der Segregation nicht an sich von Bedeutung, sondern nur insofern es zu größerer schulischer Ungleichheit führt.
Dies jedoch ist gemäß Brighouse nicht zu erwarten, sofern ein fair ausgestaltetes Wahl-Arrangement entwickelt wird. Brighouse zeigt sich überzeugt, "that choice-mechanisms can be valuable components of a reform strategy aimed at social justice" (Brighouse 2002, S. 655). Anderson und Satz schlagen übereinstimmend vor, freie Schulwahl innerhalb des öffentlichen Sektors zu gewährleisten und sprechen sich damit implizit gegen einen Einbezug von Privatschulen aus (Anderson 2007, S. 619; Satz 2007, S. 648).14 Anders als Brighouse setzen sie sich für ein konkretes Wahl-Arrangement ein. Sein eigenes Anliegen umschreibt Brighouse (2002, S. 655) folgendermaßen: "The purpose of my discussion of actually-existing choice programmes is to isolate which features of choice programmes are likely to serve, and which are likely to inhibit, justice". Gewisse Wahlprogramme, so hebt er auch in seinem aktuellen Beitrag hervor, könnten eher ("more likely") einen Beitrag zur Verwirklichung von Bildungsgleichheit leisten als andere (Brighouse 2008, S. 42). Dies ist einerseits eine plausible Annahme, leuchtet es doch unmittelbar ein, dass ein auf die Bedürfnisse sozial Benachteiligter zugeschnittenes Programm eher das Potenzial besitzt, positive Effekte hervorzubringen, als ein unreguliertes Schulwahl-System. Andererseits aber gibt es ke
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