Mittwoch, 27. April 2011

Ausweitung v. #Niedriglohnsektor + #Prekarität: Immer mehr Menschen stehen vor d. Lebensabend am #Existenzminimum [#genial #innovativ eben]


Massenphänomen Altersarmut

Hintergrund.

Dank Ausweitung von Niedriglohnsektor und Prekarität:
Immer mehr Menschen stehen vor einem Lebensabend am Existenzminimum
Von Christian Christen
[Junge Welt]
http://www.jungewelt.de/2011/04-27/024.php
 

Noch vor wenigen Jahren schien es nahezu undenkbar, daß die Ära des neoliberalen Optimismus, Marktindividualismus und sozial­technokratischen »Klein-klein« des Parlamentarismus zu Ende gehen könnte.

Die sozioökonomischen Grenzen dieser Konstellation wurden jedoch im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 offensichtlich. Auf einmal war sogar die finanzielle »Kernschmelze« des globalen Wirtschaftssystems möglich.

Zur tatsächlichen Kernschmelze kam es während der jüngsten Reaktorkatastrophe in Japan, womit zugleich die ökologische Fragilität des Systems und die Plan- und Hilflosigkeit zentraler Akteure in den Fokus rückten. Offenkundig waren die »Entscheider« in Politik und Wirtschaft und die sie beratende Wissenschaft zu keiner Zeit in der Lage, das Risikopotential zentraler Entwicklungen– auf ökonomischer wie technologischer Ebene– richtig einzuschätzen. Ebenso wurde die banale Maxime jeder Entscheidungsfindung– auf das Beste hoffen, und auf das Schlimmste vorbereitet sein – sträflich mißachtet, entsprechend konzeptionslos wird seither reagiert.

Seit geraumer Zeit sind wir Zeuge der gründlichsten Selbstdemontage der »Eliten« in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Es zeigt sich, daß sie überfordert sind, Probleme frühzeitig zu erkennen und in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen. Bis weit ins konservative und liberale Lager ist deshalb deren Legitimation erodiert, zugleich sind breite Teile der Gesellschaft stark verunsichert.

Statt einen radikalen Politikwechsel einzufordern und durchzusetzen, wird aber nach wie vor darauf gehofft, die Folgen der Reaktorkatastrophe auszusitzen und die der Wirtschafts- und Finanzkrise mit den stets gleichen und falschen Rezepten – Haushaltsdisziplin, Steigerung der »Wettbewerbsfähigkeit« und Rückbau des Sozialstaates – zu überwinden. Nun braucht es sicher keine prophetische Gabe, um zu erkennen, daß diese beiden Krisen noch lange nicht ausgestanden sind. Zugleich wird es neue, andere ökologische Katastrophen, weitere Finanz- und Wirtschaftskrisen und die normale Zuspitzung sozialer und ökonomischer Probleme geben.

Letztere ist wiederum oft Ergebnis der zurückliegenden Politik, mit der die Ungleichheit der Arbeits-, Einkommens- und Lebensverhältnisse forciert wurde. Kombiniert mit den Entscheidungen zur »Bewältigung« demographischer Herausforderungen haben die »Eliten« so in den letzten Jahren die Voraussetzungen für eine neue soziale Großkrise geschaffen, nämlich die Rückkehr der Altersarmut als Massenphänomen im 21. Jahrhundert.

Kein Grund zur Sorge?

Spätestens ab 2007 ist auch in Deutschland die Debatte um die Verteilungsfrage in einen neuen Diskurszyklus getreten. Einerseits zeigten sich die strukturellen Folgen der Sozialstaatsreformen seit Ende der 1990er Jahre (u.a. »Agenda 2010«) so deutlich, daß selbst die etablierte Forschung und Sozialberichterstattung die wachsende soziale Spaltung zur Kenntnis nahm.1 Andererseits führte die nüchterne Beschreibung zu einer bisweilen hysterischen Reaktion, um nur nicht den Grundkonsens dieser Reformen zu gefährden. Meist wurden dazu Pseudoargumente über die relative Bedeutung von Armut und Reichtum, den Sozialneid oder die mangelnde Leistungs- und Integrationsbereitschaft der »Unterschichten« mit großer medialer Wirkung vorgetragen. Dahinter verschwindet, daß sich die Arbeits-, Einkommens- und Lebenssituation für eine wachsende Gruppe stetig verschlechtert.2

Neben der Ursachenforschung wird mit der Thematisierung der Verteilungsfrage sofort die Frage gestellt, welche Gruppe »arm« bzw. am stärksten vom Armutsrisiko betroffen ist.

Ungeachtet der Meßmethoden und abweichenden Definitionen haben vor allem Alleinerziehende ein hohes Armutsrisiko, welches mit der Zahl der Kinder steigt.3 Daneben gelten Arbeitslose, Kinder, Geringqualifizierte und »Ausländer« als Risikogruppen. Die Armutsgefährdung der »Alten« wurde dagegen zuerst eher relativiert und die Möglichkeit der rapide steigenden Altersarmut offiziell verneint.4 Zwar fällt das Risiko der Einkommensarmut für die über 65jährigen Personen (Alte) in Relation zu den anderen Risikogruppen prozentual gering aus, aber die Erklärung dafür ist simpel: Die aktuellen Rentnergenerationen profitieren noch besonders von der gesetzlichen Einführung der im Umlageverfahren finanzierten dynamischen Rente in Deutschland (1957).
Zudem herrschte bis weit in die 1970er Jahre Vollbeschäftigung, die Realeinkommen stiegen und die Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Kürzungen bei der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) waren moderat. Schließlich existierten relativ gute Vorruhestandsregelungen, und deshalb sind hohe Rentenzahlungen das logische Ergebnis.

Parallel waren die aktuellen Rentnergenerationen aus den gleichen Gründen in der Lage, zusätzliches Finanz- und Sachvermögen (Wohneigentum) aufzubauen, was ihnen als Einkommensquelle (u.a. Zinsen, Mieteinahmen, mietfreies Wohnen) im Ruhestand zur Verfügung steht. Dennoch sollte die gegenwärtige Lage der Rentnerinnen und Rentner nicht positiv überzeichnet und in den Chor derjenigen eingestimmt werden, die eine »Ausplünderung« der Jungen durch die Alten behaupten und die mediale Darstellung sorgloser, kaufkräftiger Alter in Werbefilmen als Abbild der Realität verstehen.

Im System der GRV sind rund 52,3 Millionen Bürger versichert, und 25 Millionen Renten werden ausgezahlt, was sich auf 246 Milliarden Euro summiert. Die individuelle Versichertenrente von Frauen liegt aber zu fast 89 Prozent (für Männer 41 Prozent) unter 900 Euro, wobei die Schichtung zwischen West und Ost stark differiert. Nach aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes verfügen demnach 63 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner über weniger als 1300 Euro pro Monat, was unter dem monatlichen Nettoeinkommen von 1360 Euro läge, würde die gewerkschaftliche Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn erfüllt.

Neben den individuellen Rentenzahlungen sind für die Bestimmung des Armutsrisikos die Haushaltsgröße und die dort kumulierten GRV-Zahlungen wie auch die anderen Einkommensquellen (betriebliche Alterssicherung, Lebensversicherung, Einkünfte aus Vermietung und Finanzvermögen, Arbeitseinkommen usw.) entscheidend. Allerdings wird das Budget der Mehrheit der Rentnerhaushalte bis zu 90 Prozent durch die Leistungen der GRV gedeckt, was nach früherem beruflichem Status und der Höhe der Lohneinkommen variiert. Für die Mehrheit der Alten sind die ergänzenden Einkommensquellen also nicht sonderlich ergiebig, so daß Einbußen bei den GRV-Leistungen noch nie problemlos kompensiert werden konnten.

Jenseits statistischer Größen läßt sich in der Praxis die prekäre Lebenssituation der Alten schon heute an der Klientel der »Tafeln« und anderer karitativer Hilfseinrichtungen ablesen. Auf der einen Seite ist dies den immanenten Schwachstellen der GRV selbst geschuldet. Der deutsche Ansatz bei der Organisation und Finanzierung der gesetzlichen Alterssicherung betont das Äquivalenzprinzip, also die enge Bindung der Entlohnung in der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit dem Leistungsniveau der GRV. Garantiert werden soll der einmal erreichte Lebensstandard, dagegen waren die Umverteilungskomponenten im GRV-System nie sonderlich ausgebaut.

Bei Bedarf sollten andere Sicherungen (Wohngeld, Sozialhilfe etc.) greifen. In diesem Ansatz schlagen niedrige Löhne, Zeiten außerhalb der lohnabhängigen Arbeit bzw. gebrochene Erwerbsbiographien voll auf die Höhe der Renten durch. Das Rentensystem reproduziert somit die hierarchische Einkommenssituation der Lohnabhängigen und die Primärverteilung zwischen Lohn und Profit, was die seit jeher prekäre Situation bestimmter sozialer Gruppen im Alter erklärt. Von dieser Konstruktion sind die Frauen besonders negativ betroffen, da sie aufgrund ihrer nicht marktentlohnten Arbeit in- und außerhalb der Familien und ihren unterdurchschnittlichen Verdiensten im Beruf nie eine hinreichende Rente aufbauen konnten.

Auf der anderen Seite verallgemeinern die sozioökonomischen Umbrüche und Sozialreformen der Vergangenheit diese Problematik, so daß die GRV selbst für große Teile der »Mittelschicht« in naher Zukunft nicht mehr deren Lebensstandard sichern kann.

Atypische Beschäftigung

Unzweifelhaft ist die Einschätzung der Entwicklung der Altersarmut wie jede Prognose schwierig. Allerdings lassen sich die Gründe schon jetzt klar benennen, und es bedarf keiner differenzierten Berechnung, um das Ausmaß der drohenden sozialen Krise abzuschätzen. Es reichen allein der Menschenverstand und die Kenntnis zentraler wirtschafts- und sozialpolitischer Weichenstellungen der Vergangenheit.

Eine Kernursache für die wachsende Altersarmut liegt in den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Neben der Massenarbeitslosigkeit sind die sinkenden Reallöhne, stark differenzierende Lohnentwicklung sowie das rapide Wachstum der atypischen Beschäftigung (Teilzeit, Leiharbeit, befristet Beschäftigung usw.) gemeint. Diese Elemente gehören zusammen und sind Ergebnis des politischen Willens nach Ausbau des Niedriglohnsektors.5 Zwar sind noch heute bei leicht rückläufigen Anteilen in Relation zu allen Erwerbstätigen neun von zehn Beschäftigten abhängige »Arbeitnehmer« und im Prinzip in der GRV pflichtversichert.

Aber seit der deutschen Einheit ist die Zahl der Vollzeitstellen (aktuell etwa 65 Prozent aller Beschäftigten) um sechs Millionen gesunken, parallel hat sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um sieben Millionen Personen erhöht (zirka 35 Prozent aller Beschäftigten). Weniger als die Hälfte der Teilzeitkräfte ist sozialversichert, wofür der Anstieg der gering entlohnten Beschäftigung (Mini-Jobs) verantwortlich ist. Von den rund 7,3 Millionen Minijobbern Ende 2009 arbeiteten etwa fünf Millionen Personen (zirka 70 Prozent) nur in diesen gering entlohnten Jobs, und etwa 70 Prozent der atypischen Beschäftigten sind Frauen.

Die Mehrheit dieser Beschäftigten erwirbt keine oder nur minimale Ansprüche gegenüber der GRV, und je länger die Verweildauer in diesen Verhältnissen, desto größer wird die Lücke bei den Rentenanwartschaften. Diese Lücke kann selbst durch überdurchschnittliche Verdienste später kaum geschlossen werden.

Parallel hat sich seit 1991 die Zahl der »Selbständigen« auf über 4,2 Millionen Personen erhöht. Nun sind mehr als die Hälfte davon Soloselbständige (ohne Beschäftigte), bei denen die Teilzeitquote und der Frauenanteil ähnlich hoch sind wie bei den abhängig Beschäftigten. Je nach Branche liegen die Nettoverdienste der Soloselbständigen zwischen 54 bis 72 Prozent unter 1100 Euro. Bei den in Vollzeit Arbeitenden verdienen rund 29 Prozent unter diesem Monatseinkommen.

Die Verweildauer in der Selbständigkeit ist in der Regel kurz (drei bis fünf Jahre) und die Mobilität zwischen der Arbeitslosigkeit, der abhängigen Beschäftigung und der neuerlichen Selbständigkeit hoch. Im Unterschied zu den Lohnabhängigen sind die Soloselbständigen überwiegend nicht in der GRV pflichtversichert, und sie können auch nicht überproportional privat vorsorgen. Diese Personengruppe vergrößert stetig ihre Rentenlücken, und da sie auf absehbare Zeit nicht »reich« werden, sind sie, wie die Mehrzahl der Minijobber und atypisch Beschäftigten, auf die Grundsicherung im Alter angewiesen.

Lohngefüge unter Druck

Mit den Änderungen am Arbeitsmarkt und vor dem Hintergrund der Massenarbeitslosigkeit ist schließlich das Lohngefüge flächendeckend unter Druck geraten. Die Tariflöhne und übertariflichen Leistungen sinken bzw. stagnieren seit Jahren. In und zwischen den Unternehmen und Branchen haben sich massive Unterschiede herausgebildet. Immer deutlicher wird das Mißverhältnis zwischen der schrumpfenden Kernbelegschaft und der wachsenden Anzahl der Leih- und Zeitarbeiter, den befristeten und unter Tarif entlohnten Beschäftigten.

Diese Entwicklung läßt sich an den sinkenden Reallöhnen und dem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote ablesen. Erstere wirken systemisch direkt bei den Betroffenen als individuelle Rentenkürzung (sinkende Löhne gleich sinkende Beiträge und Renten), letzterer wirkt über die allgemeine Rentenformel indirekt. Denn da die Rentenanpassung (das dynamische Element) sich an der Lohnentwicklung orientiert und die Renten an die Entwicklung der Inflation und der Produktivität angepaßt werden sollten, führen stetig sinkende Lohnquoten und Reallöhne bestenfalls zu stagnierenden Renten­erhöhungen für alle Rentnergenerationen.

Die zweite Ursache für den Anstieg der Altersarmut findet sich in den Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung. Seit 1989 stehen sie allein unter der Zielsetzung, den Beitragssatz für die GRV stabil zu halten oder zu senken. Hier geht die Standortdebatte um die hohen »Lohnnebenkosten« auf und mündet in der schlichten These, sinkende Sozialabgaben würden den Aufbau der Beschäftigung beflügeln. Ergänzt um die in den 1990er Jahren aufkommende Hysterie vor dem demographischen Wandel und die Abwehr jeder rationalen Debatte um die Lastenverteilung und den notwendigen Umbau der Gesellschaft, hat sich ein Konsens gebildet, dessen jüngster Ausdruck die »Rente mit 67« ist. Zum einen galt es, die Unternehmen von den Kosten für die Alterssicherung zu entlasten, zum anderen verlagerte man die Last der Altersvorsorge verstärkt auf das Individuum. Außerdem sollten die im System der GRV angelegten systemischen Elemente der Kostensteigerung reduziert werden, um den über die Gemeinschaft der Steuerzahler bzw. den Staat finanzierten Anteile an der GRV zu reduzieren. Erreicht wurden diese Ziele über die unzähligen Änderungen der Rentenformel, der Berechnung von Rentenanwartschaften, der Reduktion der Komponenten der Umverteilung und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters.6

Würden alle diese Maßnahmen heute voll greifen, kann die Kernfunktion der GRV – Garantie des Lebensstandards – selbst für die Durchschnittsverdiener nicht mehr gehalten werden. Diesen Befund stellte die wirtschaftsliberale OECD bereits 2007 aus und bescheinigte dem deutschen System mit einer Ersatzrate des letzten Nettoverdienstes von 58 Prozent einen der letzten Plätze in der EU. Werden zudem die 2004 durchgesetzten Änderungen in der Rentenbesteuerung und weitere Detailreformen berücksichtigt, fällt die Nettoersatzrate bis 2023 weit unter 46 Prozent. Alle diese Aussagen rekurrieren jedoch auf dem »Eckrentner«, also einer Person, die im 20. Lebensjahr in den Arbeitsprozeß eintritt und 45 Jahre lang bzw. bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter den Durchschnittsverdienst erhält. Die mangelnde Aussagekraft dieser Modellbetrachtung ist deshalb offenkundig, da bei den Männern nur rund 28 Prozent (West) und 22 Prozent (Ost) diesen Versicherungsverlauf nachweisen. Bei den Frauen liegt die Quote bei zirka 3,5 Prozent (West) und 7,5 Prozent (Ost). De facto hat die Mehrheit der aktuellen Rentnerinnen und Rentner nichts mit dem »Eckrentner« gemein. Vielmehr mußten sogar 50 Prozent aller Rentenneuzugänge von 2000 bis 2009 Rentenabschläge in Kauf nehmen, und auch hier stellten Frauen mit 77,4 Prozent gegenüber den Männern mit 59,3 Prozent die größte Gruppe. Alle diese Personen konnten aus unterschiedlichen Gründen das Renteneintrittsalter nicht erreichen, entsprechend mußten sie Rentenabschläge zwischen 9,5 bis 14 Prozent akzeptieren.

Kurswechsel nötig

In der Regel wird bis heute die zurückliegende Wirtschafts- und Sozialpolitik medial als notwendige Anpassung an die Globalisierung und den demographischen Wandel verkauft. Während die Folgen dieses euphemistisch als »Reform« beschriebenen Rückbaus des Sozialstaates lange Zeit primär soziale Gruppen am untersten und unteren Rand der Gesellschaft belastet haben, werden in den nächsten Jahren weite Teile der Mittelschicht ihre sozialen Besitzstände verlieren. Während mit »HartzIV« die entsprechende Strukturveränderung in der Phase der aktiven Beschäftigungszeit ad hoc durchgesetzt worden ist, gab es für das Segment der inaktiven Phase des Ruhestandes langfristige Entwicklungen mit den entsprechenden Ergebnissen. Selbst bei optimalen Bedingungen – stetige Beschäftigung mit Durchschnittsverdienst – wird am Ende eines langen Arbeitslebens die GRV-Rente kaum signifikant höher als die Grundsicherung im Alter ausfallen. Wer langfristig gar nur 75 Prozent oder 50 Prozent des Durchschnitts verdient, wird nach 45 Jahren ununterbrochener Beitragszahlung nicht einmal dieses Niveau autonom erreichen. Angesichts der skizzierten Entwicklungen überrascht also auch nicht, daß etwa in Ostdeutschland das Armutsrisiko im Alter bis zum Jahr 2023 rapide steigen wird, da u.a. bis zu 50 Prozent der GRV-Renten der Männer unterhalb der Grundsicherung liegen werden.7 In ähnlichen Größen liegen dann auch die Rentenzahlungen für Frauen in West und Ost.

Die skizzierte Dynamik der Altersarmut wird schon längst genutzt, um für die private Vorsorge zu werben. Während das Interesse der Finanzdienstleister verständlich ist, sind diese Pseudovorschläge zur Lösung des skizzierten Problems aus der offiziellen Politik und Wissenschaft absurd. Von diesen »Experten« wäre zumindest überzeugend zu erklären, wer bei stetig sinkenden Reallöhnen, steigender atypischer Beschäftigung und wachsender finanzieller Belastung bei der direkten Bedürfnisbefriedigung überproportional vorsorgen soll, um die eklatanten Sicherungslücken und drastischen Niveausenkungen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu kompensieren. Nicht erst die Erfahrung mit der »Riester-Rente« zeigen, daß diejenigen, die es im Prinzip am dringendsten nötig hätten, diese Formen der mikroökonomisch ineffizienten und gesamtwirtschaftlich hoch riskanten und kontraproduktiven Vorsorge nicht nutzen können.8 Da sich die Wachstumsdynamik aller Reformen der sozialen Sicherung nie wie erhofft einstellte, wird also ohne den drastischen wirtschafts- und sozialpolitischen Kurswechsel das Phänomen »Armut trotz Arbeit« sich in »Arm im Alter« übersetzen. Und um es klar zu sagen: Die Betroffenen gehören allesamt der heutigen »jungen« Generation zwischen 20 bis 40 Jahren an und kommen aus der Mitte der Gesellschaft.

Anmerkungen


1 Christian Christen: »Zunehmende Polarisierung«, jW-Thema vom 6. Januar 2010

2 Camille Logeay/Thomas Weiß: »Hausgemachtes Defizit«, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2010

3 Nach EU-Definition gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Median des Nettoäquivalenzeinkommens verfügt. Für den Singlehaushalt in Deutschland wird ein Nettoeinkommen von rund 1500 Euro der Bezugswert, entsprechend liegt bei 900 Euro die Armutsgrenze.

4 Verwiesen wird meist auf die geringe Quote von Sozialhilfeempfängern über 64 Jahre (zirka 1,3 Prozent bis zum Jahr 2002). Nach Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung stieg die Quote auf rund 2,4 Prozent aller Personen über 65 Jahre. Addiert um die Bezieher von Grundsicherung in Einrichtungen, erhöhte sich die Quote bis Ende 2009 auf zirka drei Prozent. Rechtsanspruch auf Grundsicherung im Alter haben viel mehr Personen, jedoch gibt es keine validen Zahlen über diese Dunkelziffer.

5 Thorsten Schulten: Solidarische Lohnpolitik in Europa, Hamburg 2004

6 Eine detaillierte Aufstellung aller Reformen und deren Folgen findet sich in Jörg Deml/Hanna Haupt/Johannes Steffen: Solidarität leben statt Altersarmut!, Hamburg 2008

7 IWH-Diskussionspapier 8/2010: »Armut im Alter«, DIW Wochenbericht 11/2010: Künftige Altersrenten in Deutschland

8 Christian Christen: »Systemischer Teufelskreis«, jW-Thema vom 2. Dezember 2008

Christian Christen ist Volkswirt und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von ATTAC.
Er schließt gerade eine Dissertation zum Thema »Finanzmarktbasierte Alterssicherung« ab.


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