Inflation frißt Lohnplus
Trotz Aufschwungs und Tarifsteigerungen
fallen für einen Großteil der Beschäftigten die Reallöhne.
Experte warnt vor »europaweiter Lohnsenkungsspirale«
Von Jörn Boewe
[via Junge Welt vom 02.08.2011 - Seite 15]
Die tariflichen Monatsverdienste der abhängig Beschäftigten in Deutschland sind von April 2010 bis April 2011 insgesamt um 1,5 Prozent gestiegen. Dies gab das Statistische Bundesamt (Destatis) am Freitag bekannt. Danach kletterten die Tariflöhne in der Privatwirtschaft mit 2,1 Prozent deutlich stärker als in den »nicht marktbestimmten Dienstleistungen« mit 0,7 Prozent. Hierzu zählen u.a. öffentliche Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitswesen.Auch wenn das Statistische Bundesamt darin eine »Trendwende« erblickt, sind die Zahlen insgesamt ernüchternd. Im selben Zeitraum stiegen die Verbraucherpreise um 2,6 Prozentpunkte. Die Lohnerhöhungen werden fast in allen Branchen von der Teuerung deutlich übertroffen.
Dies gilt um so mehr für nicht tarifgebundene Bereiche. Diese werden von der Statistik nicht gesondert erfaßt. Der Trend wird aber deutlich, wenn man sich die durchschnittlichen Bruttoentgelte anschaut. Diese werden von Destatis vierteljährlich unabhängig von der Tarifbindung mit einer repräsentativen Erhebung in 40500 Betrieben ermittelt.
Danach stiegen die Stundenlöhne vom ersten Quartal 2010 zum ersten Quartal 2011 im Mittel um 1,5 Prozent. Die Zahlen legen nahe, was ein Großteil der abhängig Beschäftigten ohnehin aus eigener Erfahrung wußte: Trotz Aufschwungs, ja, sogar trotz Tarifsteigerungen sinken für breite Teile der Bevölkerung die Realeinkommen.Das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hatte in seiner Halbjahresbilanz Anfang Juni darauf hingewiesen, daß die Abschlüsse von Januar bis Juni 2011 »deutlich über denen des Vorjahres« lagen. Rechne man die diesjährigen Tarifabschlüsse für rund 4,5 Millionen Beschäftigte mit ihren unterschiedlichen Laufzeiten auf das Jahr um, dann ergebe sich eine vorläufige jahresbezogene Tarifsteigerung gegenüber 2010 von nominal 2,3 Prozent, schrieben die Forscher.Im vergangenen Jahr hatten die Gewerkschaften für 7,8 Millionen Beschäftigte Verträge mit Laufzeiten bis in dieses Jahr oder darüber hinaus abgeschlossen. Für diese ergibt sich eine jahresbezogene Steigerung von 1,8 Prozent. Insgesamt erwartet das WSI-Tarifarchiv aufgrund dieser Daten für das Jahr 2011 für 12,3 Millionen Beschäftigte eine durchschnittliche nominale Erhöhung der Tarifentgelte von 2,0 Prozent.»Die Tarifsteigerungen sind zwar erkennbar höher ausgefallen als im Vorjahr«, kommentierte Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs, »aber sie werden durch den unerwartet starken Anstieg der Verbraucherpreise größtenteils wieder aufgezehrt.« Allerdings gebe es Hinweise darauf, daß die Effektivlöhne, also die tatsächlich gezahlten Nominallöhne, in diesem Jahr stärker ansteigen könnten als die Tarifeinkommen, ergänzte Bispinck. Grund seien konjunkturbedingt längere Arbeitszeiten und außertarifliche Bonuszahlungen in manchen Unternehmen.Bispincks Kollege Thorsten Schulten warnt im aktuellen Heft der Zeitschrift Böckler impuls vor einer »europaweiten Lohnsenkungsspirale«. Bereits im vergangenen Jahr waren die Reallöhne pro Kopf in 13 EU-Staaten zurückgegangen. Nach einer Prognose der EU-Kommission werden sie in diesem Jahr in 18 der 27 Mitgliedsstaaten sinken. Die Entwicklung drohe sich zu verschärfen, weil sich die Regierungen im März im »Euro-Plus-Pakt« auf eine restriktive Lohnpolitik festgelegt hätten, schreibt Schulten.
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