Der dritte Anlauf
Position. 72 Tage hielt sich der erste Anlauf zum Sozialismus in Europa,
72 Jahre der zweite Zeit, aus beiden die Synthese zu bilden
Von Manfred Sohn
[via Junge Welt]
Am 27. August führt die Partei Die Linke in Hannover einen »Kommunalpolitischen Kongreß« durch. Die Gefahr ist auch bei dieser Partei groß, daß sich die kommunalpolitisch Aktiven selbst zu klein machen. Ändern ließe sich das, wenn sie sich mit breitem Kreuz bewußt in die Tradition der letzten 140 Jahre Realsozialismus stellen. Der historische Blick nämlich würde deutlich machen: Der dritte Anlauf zum Sozialismus wird Ergebnis einer Bewegung sein, in deren Zentrum viel stärker als beim zweiten die Autonomie von Betrieben und Kommunen steht.Der Anlauf zu dem großen Versuch, den Traum des Sozialismus zur Realität werden zu lassen, der im Oktober 1917 in Petrograd begann, war der zweite. In diesem Jahr blicken wir zurück auf 140 Jahre Pariser Kommune. Die historische Bedeutung dieses ersten Anlaufs wird unterschätzt. Er ist wie der, der sich zwischen 1917 und 1989 entfaltet hat, Teil unseres kollektiven linken Erfahrungsschatzes.Die Kommune war ein dezentralisierter Anlauf zum Sozialismus. Das war in der dialektischen Struktur die These, der erste praktische Versuch, Sozialismus zu realisieren. Der »Realsozialismus« der Sowjetunion, der DDR und der anderen Staaten des Warschauer Paktes war in Auswertung der tatsächlichen und vermeintlichen Fehler des ersten Anlaufs ihre praktische Antithese. Die Konsequenz, die Lenin und seine Bolschewiki aus den Lehren der Kommune zogen, war unter anderem: Dieser dezentrale Versuch ist dem koordinierten, zentralistischen Vorgehen der Reaktion aus Versailles und Berlin zum Opfer gefallen. Solche Gegner sind nur zu bezwingen durch eine eisern und zentral handelnde Macht. Aus diesem Herangehen folgte nach 36 Jahren Nachdenken und Handeln der dann 72 Jahre währende zweite Anlauf, dauerhaft eine Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und Grund und Boden zu errichten. Im Mittelpunkt der Organisationsprinzipien der wesentlichen Kraft, die ihn organisierte, stand der »demokratische Zentralismus« mit einem sich mehr und mehr auf den zweiten Teil dieses Begriffspaars verlagernden Gewicht, das an seinem Ende den ersten Teil des Begriffspaars unter sich begraben hatte. Das war, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, kein Zufall.
Eine Kriegsgeburt
Der historische Ort, an dem wir Linken heute leben und handeln, ist vergleichbar mit den Jahrzehnten nach der Pariser Kommune nur einen Versuch später. Deshalb kann es, wenn wir unsere eigene dialektische Methode ernst nehmen, weder eine Wiederholung des Versuchs von 1871 noch die des Versuchs von 1917 geben (ganz unabhängig davon, daß wir, wie wir wissen, niemals in denselben Fluß steigen). Wir sind die Generation also, welche theoretisch und parallel dazu politisch-praktisch die Synthese zu erarbeiten hat aus der These der Kommune und der Antithese der Oktoberrevolution.Die Pariser Kommune ist wie die meisten bisherigen Versuche, das kapitalistische System zu überwinden eine Kriegsgeburt1.1870 zog Napoleon III. gegen Preußen, um die Formierung deutscher Mächte unter Preußens Führung zu einem einheitlichen deutschen Nationalstaat zu verhindern. Der Zusammenbruch seiner Armeen bei Sedan und Metz und die Gefangennahme des Kaisers führten am 4. September 1870 zur Ausrufung der Dritten Republik in Frankreich, die aber mit dem Feind mehr kooperierte, als ihn energisch zu bekämpfen.Am 31. Oktober 1870 stürmten Pariser unter der Parole »Vive la Commune!« das Rathaus und forderten Gemeindewahlen. Sie knüpften damit an die Konstitution von 1793 an; jene Verfassung der Französischen Republik also, die als die demokratischste aller bürgerlichen Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts gelten kann und die eine starke Stellung der Gemeinden der Republik festlegte. Diese Kommune-Bewegung war nicht auf Paris beschränkt. In Lyon und Marseille im Süden Frankreichs entstanden ebenfalls Communes, die aber nur von kurzer Dauer waren.Für die bürgerlich orientierte Regierung Frankreichs waren diese Vorstöße Alarmsignale, die dazu führten, daß sie vor Preußen auch im Namen von Paris kapitulierte. Aber Paris kapitulierte nicht. Seine Nationalgarde erklärte sich auf Drängen der Bevölkerung zur provisorischen Regierung der Stadt, zog am 18. März in das Rathaus ein, und nach allgemeinen Wahlen wurde am 28. März offiziell die Pariser Kommune proklamiert. 1871 schreibt Friedrich Engels: »Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.« (MEW 17, S. 625)Die Kommune führt eine Reihe von ökonomischen Maßnahmen durch, die vor allem den Interessen der unteren Klassen entsprechen: Begrenzung der Nachtarbeit, Erlaß von Mietrückständen, Begrenzung der Gehälter der kommunalen Beamten auf Arbeitergehalt, konsequente Trennung von Kirche und Staat und Einrichtung weltlicher Schulen, Versorgung der Witwen, Waisen und Familien gefallener Soldaten durch den Staat, Übergabe von Fabriken und Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen wurden, an Arbeitergenossenschaften, Verbot von Strafen in Form von Lohnabzügen, Erlaß von Höchstgrenzen für den Preis von Brot.Im Mai beginnt der Sturm der reaktionären Truppen auf Paris und ersäuft die Stadt in einem Meer von Blut zwischen sieben- und vierzigtausend Menschen werden von den reaktionären Truppen niedergemetzelt.Unbestritten sind innerhalb der Linken, die sich weiter in der Tradition dieser 72 heroischen Tage sehen, vor allem zwei Fehler, die gemacht wurden: Statt die nach Versailles abziehende Kapitulantenregierung zu verfolgen und die kommunale Herrschaft über ganz Frankreich auszudehnen, beschränkte sich Paris auf reine Selbstverteidigung. Die Kommune verzichtete zweitens auf die Verstaatlichung der Bank von Frankreich. Friedrich Engels kommentiert: »Das war auch ein schwerer politischer Fehler. Die Bank in den Händen der Kommune das war mehr wert als zehntausend Geiseln. Das bedeutete den Druck der ganzen französischen Bourgeoisie auf die Versailler Regierung im Interesse des Friedens mit der Kommune.« (MEW 17, S. 622)Macht- und Eigentumsfrage
Die folgende Auseinandersetzung konzentriert sich auf eine einzige Frage der der Zentralität einerseits oder Dezentralität eines sozialistischen Staates andererseits.Um deutlich zu machen, worum es bei dieser für die Entfaltung eines dritten Anlaufs zum Sozialismus wesentlichen Frage geht, stellen wir zunächst ein Zitat aus dem »Bürgerkrieg in Frankreich« von Karl Marx voran:»Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein (...) sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an Kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung.« (MEW 17, S. 339 f.)Später macht er deutlich: »Jawohl, meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt.« (ebd., S. 342)Alles, was im weiteren Text als Stärkung der Kommune gedacht ist, steht also unter dem Generalvorbehalt der Verknüpfung mit der Eigentumsfrage. Das liegt heute noch mehr auf der Hand als vor 140 oder auch vor 40 Jahren: Gib auf dem Papier unseren Kommunen mehr Rechte, und lasse gleichzeitig der Deutschen Bank, den vier großen Energiekonzernen sowie Daimler-Benz ihr Eigentum an Produktionsmitteln und der Kirche das an ihrem Grund und Boden, und die scheinbare kommunale Macht wird zur Lachnummer vor der realen der großen Konzerne, der Privatbanken und der Großgrundbesitzer.Lehren aus der Kommune
Zurück zur Kontroverse: 1920 zitiert Trotzki in seinem »Anti-Kautsky« in wesentlichen Auszügen die oben wiedergegebene Stelle von Marx, um dann folgende Schlußfolgerung zu ziehen: »Die Aufgabe des revolutionären Paris sieht Marx also nicht darin, von seinem Siege her an den schwankenden Willen der Konstituante zu appellieren, sondern darin, über ganz Frankreich eine zentralisierte Organisation von Kommunen auszuspannen, die sich nicht auf äußerliche Prinzipien der Demokratie, sondern auf tatsächliche Selbstverwaltung der Erzeuger gründen.«2Diese »zentralisierte Organisation« ist aber das glatte Gegenteil von dem von Marx referierten Wesenskern der Kommunen außer Paris waren ja Lyon und Marseille bereits mit am Start. Weitere sollten folgen als eine sich selbst verwaltende Organisation, die der nationalen Ebene nur noch »wenige, aber wichtige Funktionen« übrigläßt (s.o.).Noch konsequenter als Trotzki kommt Lenin immer wieder auf den »Bürgerkrieg in Frankreich« zurück. Mehrfach bezeichnet er die Bolschewiki als »überzeugte Zentralisten«3. Das Pochen auf den Zentralismus als eine Konsequenz aus der Erfahrung der Kommune entwickelt er in den ersten der vielen Schriften, in denen er sich noch vor dem russischen Revolutionsjahr 1917 mit dem »Bürgerkrieg in Frankreich« auseinandersetzt, nicht. So taucht beispielsweise dieser Aspekt in seinem Artikel »Die Lehren der Kommune« vom 23. März 1908 nicht auf. Hier hebt er in völliger Übereinstimmung mit Engels noch die »zwei Fehler« (LW 13, S. 484) hervor, die oben referiert sind.Erst bei der publizistischen und politischen Verteidigung der Sowjetmacht in Rußland kommt dann die Frage des Zentralismus als eine der Lehren aus der Kommune dazu und zwar mit Macht und der schneidenden Polemik, die wir alle an Lenin so lieben. In seiner Broschüre »Staat und Revolution« kommt er, sich gegen Bernstein wendend, zu folgender Schlußfolgerung: »In den angeführten Betrachtungen von Marx über die Erfahrungen der Kommune findet sich auch nicht die Spur von Föderalismus. ( ) Marx ist Zentralist. Und in seinen hier zitierten Darlegungen ist nicht die geringste Abweichung vom Zentralismus enthalten. Nur Leute, die vom kleinbürgerlichen Aberglauben an den Staat erfüllt sind, können die Vernichtung der bürgerlichen Staatsmaschinerie für eine Vernichtung des Zentralismus halten!« (LW 25, S. 442) Das ist gut gebrüllt und nicht nur durch das Ausrufezeichen beeindruckend. Aber es ist nicht belegt weder durch die Dokumente der Kommune noch durch den von ihm zitierten Marx-Text. Es ist eine nüchterne Tatsache, daß das Wort »Zentralismus« bei Marx' Hymnen auf die Kommune und auch anderswo anders als in der negativen Verbindung mit dem Kapitalismus nicht auftaucht.Wie kann daraus ein Plädoyer für Zentralismus entstehen?Was lief aus dem Ruder?Marxismus ist vor allem eine historische Wissenschaft. Drei nachvollziehbare Gründe sind meines Erachtens dafür ausschlaggebend. Der erste liegt in den Jahren unmittelbar nach der Kommune in westeuropäischem Boden begraben, der zweite in Rußland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und der dritte im blut- und schicksalsgetränkten Boden Rußlands und später Europas in der Phase des 31jährigen Krieges von 1914 bis 1945.Unbestritten dürfte eines sein: Die Pariser Kommune ist an allem möglichen zugrunde gegangen, aber bestimmt nicht an zuviel Zentralismus. Und der große Versuch von 1917 bis 1989 ist an allem möglichen gescheitert, aber bestimmt nicht an zuviel Autonomie ihrer Kommunen und zuviel Dezentralität.Was lief wann aus dem Ruder?Als am 18. März die Kommune die Weltbühne betritt, dauert es keine Woche, daß sich alle bürgerlichen Gazetten des Kontinents in zwei Dingen einig sind: Das muß beendet werden, und das ist das Werk der Internationalen Arbeiterassoziation mit Karl Marx an der Spitze. Sie scheint vielen der Drahtzieher von allem.Kurz nach der Kommune, die scheinbar den Höhepunkt ihres praktischen Wirkens markiert, spaltet sie sich und verschwindet schon 1876 wieder von der historischen Bühne. Fast vergessen ist mittlerweile Pjotr Lawrowitsch Lawrow, der Mitglied der Pariser Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation war und zu Lebzeiten einer der einflußreichsten russischen Sozialisten. 1880 veröffentlichte er das damals vielgelesene Werk »Der 18. März 1871«, in dem er feststellt: »Wie ich bereits sagte, folgte unmittelbar auf die Kommune der Zerfall der Internationale; auf ein Ereignis, das die einmütige, beinahe religiöse Anteilnahme des kämpfenden Proletariats aller Länder hervorgerufen hatte, folgte der Zerfall jener Organisation, die acht Jahre lang mit solchem Glanz die Einheit der Bestrebungen dieses Proletariats ausgedrückt hatte. ( ) Der wesentliche Mangel der Internationale bestand nicht darin, daß ihr Generalrat die Macht zu sehr zentralisierte, was man ihm bereits vorzuwerfen begann, sondern im mangelnden Einfluß dieses Rats nicht nur auf die von seinem Sitz weit abgelegenen Gebiete, sondern auch auf London selbst.«4Er zieht daraus die Konsequenz: »Die Pariser Kommune ( ) rief beinahe überall Versuche hervor, ein festeres Fundament für die Internationale zu schaffen, die dann in der Zukunft eine wirkliche Macht darstellen würde.«5Eine neue Losung
Eine »wirkliche Macht« der »Internationale« aber das war ohne ein Mehr an Zentralismus tatsächlich nicht zu haben gewesen. Diese organisationspolitische Konsequenz nicht aus den Erfahrungen der Pariser Kommune und ihrer Analyse durch Marx, sondern aus der Schwäche der Internationale bei der Organisation der Hilfe für sie ist der erste Grund für den verstärkten Einzug des Zentralismus in die sozialistische Bewegung nach 1871.Diese Tendenz prägt sich zweitens besonders stark aus in Rußland, und das wiederum veranlaßt Rosa Luxemburg, ausführlich zu den »Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie« Stellung zu nehmen6: »Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten Organisationsform die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die Selbstherrlichkeit der Lokalorganisation war, so wurde naturgemäß die Losung der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes: Zentralismus. Die Betonung des zentralistischen Gedankens war das Leitmotiv der Iskra in ihrer dreijährigen glänzenden Kampagne zur Vorbereitung des letzten, tatsächlich konstituierenden Parteitags7, derselbe Gedanke beherrschte die ganze junge Garde der Sozialdemokratie in Rußland.«8Der dritte, entscheidende Grund dafür, daß der zweite Anlauf zum Sozialismus nicht mehr unter der Fahne der kommunalen Autonomie, sondern unter der Fahne des Zentralismus stattfand, ist so banal wie wirkungsmächtig: Als die hier erwähnte »ganze junge Garde«9 dann um 15 Jahre, eine (1905) blutig niedergeschlagene Revolution und einen Weltkrieg gealtert die Gelegenheit findet, das Programm der Pariser Kommune, das sie sich zu eigen gemacht hat, im russischen Riesenreich zu verwirklichen, sehen sie sich nicht nur wie die Pariser der eigenen Reaktion und einer fremden Macht, sondern der eigenen Reaktion und einem Dutzend fremder Mächte gegenüber, die versuchen, die Revolution in der Wiege zu ersticken. Von diesem Moment an verschwindet das Adjektiv »demokratisch« vor dem Hauptwort »Zentralismus« mehr und mehr.Im Zentrum: Politik vor Ort
Das waren die Weichenstellungen. Der Rest ist mit den üblichen Gegenbewegungen der sich über die historisch relativ kurze Zeitspanne von 72 Jahren hinziehende Vollzug nach diesen Weichenstellungen. Dieser Prozeß, der viele Versuche enthielt, seine vermeintliche Zwangsläufigkeit zu durchbrechen, braucht hier deshalb im Detail nicht nachgezeichnet zu werden, weil das Ende jedem politisch wachen Menschen unserer Zeit klar ist. Während die Pariser Bevölkerung ihren Sozialismus auf Dutzenden von Barrikaden mit ihrem Blut verteidigte, gab es zur Verteidigung des realen Sozialismus zwischen Magdeburg und Wladiwostok nicht nur keine Barrikade, sondern auch keine dauerhaften Massendemonstrationen oder Besetzungen volkseigener Betriebe, als zwischen 1989 und 1991 der ganze gewaltige Bau fast gespenstisch geräuschlos in sich zusammensackte.Der eine Sozialismus hatte die Herzen derer erreicht, die ihn folglich bis zur Selbstaufgabe verteidigten, der andere am Schluß nicht mehr.10Bis tief in unsere Reihen gibt es den Gedanken, Kommunalpolitik sei gegenüber der Landes-, Bundes- und Europapolitik weniger bedeutend. Das Gegenteil ist richtig: Politik, die auf Veränderung der Lebenswelten zielt, ist immer dann völlig sinnlos, wenn sie nicht vor Ort in den Betrieben, Städten und Dörfern das Leben verändert. Insofern steht die Politik vor Ort, also die Betriebs- und Kommunalpolitik, im Zentrum richtig verstandener linker Politik.Der Kommunalpolitischen Konferenz der Linken ist zu wünschen, daß sie sich nicht in den Rahmen kapitalistischer Kommunalpolitik, die immer eine Kirchtumpolitik ist, einzwängen läßt, sondern den weiten Horizont sieht, den linke Kommunalpolitik haben kann und für die Entfaltung eines dritten Anlaufs zum Sozialismus neben der betrieblichen Arbeit haben muß.Anmerkungen:
1 Würdigungen zum 140. Geburtstag der Kommune hat es unter anderem in der jungen Welt Themenseiten am 18.März sowie am 26. und 27. Mai im Neuen Deutschland vom 28./29. Mai und in der Zeitschrift disput vom Mai 2011 gegeben. Mit Verweis darauf sei der geschichtliche Abriß der Hintergründe dieser Heldentat hier sehr kurz gehalten2 Leo Trotzki, »Die Kommune von Paris und Sowjetrußland«, in: Die Pariser Kommune 1871, Band II, hgg. von Dieter Marc Schneider, Reinbek 1971, S. 127 wiedergegeben ist hier »auszuspannen«. Möglicherweise soll es aber richtigerweise heißen »aufzuspannen«. Für die Denkrichtung des zitierten Autors ist das aber unerheblich3 So in der Zeitschriftenserie »Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?« vom Oktober 1917, in Lenin Werke (LW), Band 26, S. 69 ff., hier: S. 1004 P.L. Lawrow, »Die Pariser Kommune vom 18. März 1871«, in: Die Pariser Kommune 1871, Band I, hgg. von Dieter Marc Schneider, Reinbek 1971, S. 1695 ebd., S. 1706 Rosa Luxemburg, »Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie«, in: Die Neue Zeit, 1903/04, hier im folgenden zitiert und referiert nach: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (im folgenden RLW), Band 1, Zweiter Halbband, Berlin/DDR 1988, S. 4224447 Hier erfolgt in den RLW die Anmerkung: »Vom 30. Juli bis 23. August 1903 fand in Brüssel und London der II. Parteitag der SDAPR statt«, dessen wichtigstes Ergebnis die Schaffung der Partei der Bolschewiki war8 Ebenda, S. 4249 Sie meint damit vor allem Lenin selbst, mit dem sie sich in der erwähnten Schrift vor allem auseinandersetzt10 Das war, wie angemerkt werden muß, in der Sowjetunion in der Phase des Bürgerkriegs und vor allem des Großen Vaterländischen Kriegs anders aber spätestens seit der Regierungszeit Breschnews versickerte jede Identifikation mit dieser Art des SozialismusManfred Sohn ist Landesvorsitzender der Partei Die Linke in Niedersachsen. Voraussichtlich Anfang 2012 erscheint von ihm im Kölner PapyRossaVerlag das Buch »Der 3. Anlauf«, zu dem der vorliegende Artikel eine Vorstudie darstellt. 2009 veröffentlichte er das Buch »Hat das System einen Fehler oder ist es der Fehler? Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von links«
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