Donnerstag, 8. Dezember 2011

umfangreichen Steuererleichterungen f. Unternehmer, Selbständige durch Steuererhöhungen zulasten d Beschäftigten ausgeglichen werden


Tschechien und die europäische Schuldenkrise

von: Jaroslav Zavadil

[via GEGENBLENDE]
 
http://www.gegenblende.de/12-2011/++co++0abee41e-20e0-11e1-7950-001ec9b03e44

Die Art und Weise, wie die tschechische Regierung mit der Krise umgeht, hat weitreichende und negative Auswirkungen auf die Arbeiterinnen und Arbeiter im Land. Reformen wurden in den Bereichen des Rentensystems, des Gesundheitswesens, der Steuer- und der Arbeitsgesetzgebung gestartet. Die Steuerreform ist absurd. Nach den Plänen der Regierungskoalition (ODS, TOP 09 und VV)

[1], die sich selbst als "Mitte-Rechts" bezeichnet, würden die Beschäftigten sprichwörtlich zu Steuer-Lasttieren werden. Die umfangreichen Steuererleichterungen für Unternehmer und Selbständige sollen durch Steuererhöhungen zulasten der Beschäftigten ausgeglichen werden. So würde beispielsweise die monatliche Steuerlast eines Beschäftigten mit Durchschnittslohn um 1094 tschechische Kronen (rund 45 €) ansteigen. Die "Reform" würde die Position der Beschäftigten gegenüber Selbständigen erheblich verschlechtern und zu einer starken Zunahme der Scheinselbständigkeit führen. Der Unterschied in der Belastung durch Abgaben und Steuern zwischen einem Beschäftigten mit Durchschnittslohn und einem Selbständigen mit durchschnittlichem Einkommen würde auf 3087 Kronen (rund 126 €) anwachsen.

Die Rentenreform wird vor allem den privaten Pensionsfonds Vorteile bringen. Durch die von der Regierung beabsichtigte Erhöhung der Mehrwertsteuer von gegenwärtig zwischen 10 und 20 % auf einheitlich 17.5 % werden natürlich die Preise für Güter des Grundbedarfs steigen. Diese Steuererhöhung soll jährlich geschätzte 20 Mrd. Kronen einbringen, die dann vom umlagefinanzierten Rentensystem in die privaten Pensionsfonds fließen sollen, ohne dass es irgendeine Garantie hinsichtlich der Höhe zukünftiger Renten gibt. Das bestehende umlagefinanzierte Rentensystem ist deshalb in ein Defizit geraten, weil in den letzten vier Jahren die Sozialversicherungsbeiträge sechsmal gesenkt wurden. Und durch das beschriebene Manöver der Regierung wird das System weiter geschwächt. Die Gewerkschaftsföderation CMKOS lehnt dieses Vorhaben und die Schwächung des umlagefinanzierten Rentensystems, das noch immer tragfähig ist, ab. Die CMKOS ist nicht einverstanden mit der Schaffung eines neuen privaten Renten-Standbeins mit staatlicher Förderung, da ein solches – eine zusätzliche Rentenversicherung mit staatlicher Beteiligung – bereits besteht. Wir schlagen dagegen vor, diese bestehende Zusatz-Versicherung zu reformieren.

Was die Reform des Gesundheitswesens betrifft, so interessieren sich die Reformer nur wenig für überteuerte Medikamente, ökonomische Missstände des tschechischen Gesundheitswesens oder schwarze Löcher, in denen Milliarden verschwinden. Das Einzige, was sie interessiert, ist, wie viel mehr Geld sie aus den Taschen der Patienten heraus holen können. Die geplante Einführung einer Zwangsbeteiligung der Bürger an den Kosten des Gesundheitssystems wird von der Regierung als "eine Eröffnung von Möglichkeiten legaler Zusatzzahlungen" bezeichnet. Wie bitte? Die Einführung einer gelenkten medizinischen Versorgung und bezahlter Zusatzleistungen wird dazu führen, dass die Patienten für jede Leistung über dem Standard selbst bezahlen müssen. Bereits jetzt stammt jede sechste Krone der Einnahmen im Gesundheitswesen aus der Beteiligung der Patienten und die Regierung ist entschlossen, diesen Anteil noch deutlich zu steigern.

Die Änderungen des Arbeitsgesetzbuches reduzieren - unabhängig von einzelnen Maßnahmen zur Verbesserung der gesetzlichen Regulierung der Arbeitsbeziehungen - den Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter insgesamt und schränken ihre gewerkschaftlichen Rechte ein. Die Verringerung des arbeitsrechtlichen Schutzes der Beschäftigten wird dabei mit dem "Zauberwort" Flexibilität begründet. Die Veränderung des Arbeitsrechts schafft viel Raum für prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die einen geringen Schutz für die Beschäftigten gewähren. Darüber hinaus werden mit dieser Veränderung Bedingungen und gesetzliche Instrumente eingeführt, die dazu führen werden, dass eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung für eine wachsende Zahl an ArbeiterInnen unerreichbar wird.

Ursachen der Krise aus Gewerkschaftssicht

Ärzte sagen, dass die Vorraussetzung für eine gute Behandlung eine korrekte Diagnose der Krankheit ist. Das gilt auch im Allgemeinen. Es besteht aber noch lange kein allgemeiner Konsens hinsichtlich der grundlegenden Ursachen der Krise – und noch weniger darüber, was effektive Auswege aus der Krise sind. Das bedeutet nicht, dass die Gewerkschaften ratlos sind. Es besteht ein gewerkschaftlicher Konsens darüber, dass der Fehler im Kasino-Charakter des gegenwärtigen Kapitalismus liegt. Unsere Meinung wird jedoch nicht allgemein geteilt – ganz im Gegenteil.

Kaum jemand ist bereit zuzugeben, dass es um einen Wandel des europäischen Wohlfahrtsstaates geht. Die Verschuldung der europäischen Staaten (aber nicht nur dieser) wurde hauptsächlich durch die selbstbeschränkte Einnahmeseite der öffentlichen Finanzen verursacht. Das Steuerniveau lag in Relation zum BIP Ende des 19. Jahrhunderts in den entwickelten Ländern bei 10 – 15 % und Ende des 20. Jahrhunderts in den USA und anderen vornehmlich neoliberal ausgerichteten Ländern bei 30 %. In den "alten" EU-15-Staaten lag das Niveau vor wenigen Jahren allerdings bei 40 % und in Skandinavien sogar bei um die 50 %. Mitte der 1990er Jahre erlebten wir jedoch, wie die entwickelten Länder unter dem Diktat neoliberaler Rezepte die hundert Jahre andauernde und gewünschte Entwicklung eines steigenden Steuerniveaus beendeten. Mittlerweile wird das Steuerniveau in diesen Ländern sogar wieder reduziert, nachdem sie in einen Steuersenkungswettbewerb, unter anderem mit den neuen Mitgliedsländern Mittelosteuropas, eingetreten sind.

Wenn wir die gegenwärtige krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft als eine Bestätigung dafür betrachten, dass das neoliberale Modell der wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung auf der Grundlage des "Washington Consensus" eine Sackgasse war und dass es keinesfalls ein Konzept für nachhaltige Entwicklung darstellt, dann werden wir einen harten Meinungskampf mit den konservativen Kräften führen müssen. Diese "Kräfte" sind häufig Vertreter der technokratischen Politik und des Finanzwesens. Solange diese beiden Gruppen die zukünftige Entwicklungsrichtung bestimmen, besteht wenig Aussicht darauf, aus der Krise herauszukommen. Sollte die neoliberale Politik derartig weiterverfolgt werden, wird es kein Ende der Krise geben. Sie wird zum Dauerzustand – oder, noch schlimmer, sich weiter vertiefen. Und dies wird natürlich entsprechende soziale und wahrscheinlich auch gefährliche politische und geopolitische Auswirkungen haben.

In dieser Situation sind die tschechischen Gewerkschaften entschlossen, aktiv auf die vorsätzliche und verfälschende Verzerrung der Krisenursachen, wie wir sie täglich in den überwiegend konservativen Medien und in offiziellen Diskursen erleben, zu reagieren. Dort wird behauptet, dass ein großzügiger und verschwenderischer Wohlfahrtsstaat, ausgenutzt durch Trittbrettfahrer, die Hauptursache der Krise war. Es ist notwendig, mithilfe von Seminaren, Konferenzen, Protesten und weiteren von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und anderen organisierten Veranstaltungen die Oberhand hinsichtlich der Deutungen der Krise zu gewinnen. Zugleich müssen die Entwicklungen systematisch beobachtet und traditionelle Formen des Massenprotests (Demonstrationen, Märsche, Petitionen, Streiks) genutzt werden. Bislang, so scheint es, ist es den Gewerkschaften noch nicht gelungen, die wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit der neoliberalen Regierungspolitik genügend zu nutzen. Obwohl die im September 2010 in Prag organisierte Demonstration, der folgende Streik im öffentlichen Dienst im Dezember 2010, ebenso wie die große Demonstration mit 50.000 Teilnehmern im Mai 2011 und der Streik der Transportarbeiter im Juni 2011 Erfolge waren, so bewirkten sie letztendlich doch – wie auch andernorts – keine größeren Reaktionen. Allerdings hat sich die Zusammensetzung der Teilnehmer solcher Ereignisse deutlich verändert – stark vertreten sind nun auch qualifizierte Angestellte der Mittelschicht und der bürgerlichen Gesellschaft (z.B. Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleute, Geistliche). Von vorrangiger Bedeutung ist dementsprechend die Entwicklung einer ausgefeilten Kampfstrategie mit einer mittelfristig größeren Vielfalt an Instrumenten.

Maßnahmen und Forderungen der Gewerkschaften

Um zu beschreiben, welche Maßnahmen die Gewerkschaften ergriffen haben, müssen wir mit der Darstellung der Situation, in der sie sich befinden, beginnen. Auch wenn die Aktivität vieler Bürger zunimmt, so sind gegenwärtig zweifellos die Gewerkschaften der wichtigste, wenn nicht der einzige Akteur, der der Welt spekulativer Geschäfte breit angelegten Widerstand entgegensetzen kann. Diese "Welt" kümmert sich nicht um die Belange der Realwirtschaft und greift unaufhörlich soziale Menschenrechte und letztlich auch die Demokratie an. Allerdings wird dies nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch von den Strategen der herrschenden Parteien erkannt. Die Gewerkschaften sind in einer wenig beneidenswerten Situation – sie haben insbesondere im Privatsektor zahlreiche Mitglieder verloren, was wiederum zusammenhängt mit Transformationen der Unternehmen und Produktionsabläufe, der Auflösung traditioneller Arbeitsmodelle und einer deutlichen Zunahme kleiner Unternehmensformen, vor allem unter dem Einfluss gestörter industrieller Beziehungen. Die junge Generation betrachtet die sozialen Errungenschaften, hier genauso wie in der Europäischen Union, als natürliche Gegebenheiten und sieht keine Notwendigkeit, diese täglich und beständig zu verteidigen. Genauso wenig werden bislang die Bedrohungen dieser Errungenschaften stark genug wahrgenommen. Der Kult des Individualismus nimmt weiter zu.

Die Gewerkschaften haben nicht viele Alternativen – sie haben es mit denselben Problemen zu tun wie in den vergangen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten: Arbeitszeit, Arbeits- und Lebensbedingungen, Umwelt, industrielle Beziehungen, Arbeitsschutz, Gewerkschaftsrechte, etc. Wir führen eine intensive Kampagne mit dem Slogan "Öffne Deine Augen". Wir haben eine Reihe von Protestaktionen organisiert und wir haben uns an zahlreichen gesellschaftlichen Initiativen, die den Widerstand gegen die Politik der gegenwärtigen Regierung zum Ausdruck bringen, beteiligt. Wir müssen den sozialen Dialog und Kollektivverhandlungen auf allen Ebenen stärken und deren Schwächung auf europäischer Ebene verhindern – wohl wissend der bestehenden Unterschiede in den einzelnen Mitgliedsländern. Nur auf diese Weise können wir den gegenwärtigen Problemen der Restrukturierung in Form einer Zerstückelung von Unternehmen, verbunden mit komplexen und unklaren Auftrags- bzw. Vergabebeziehungen, erfolgreich entgegentreten.

Die tschechischen Gewerkschaften und die Euro-Zone

Die Position der Gewerkschaftsföderation CMKOS bezüglich des Beitritts der Tschechischen Republik zur Eurozone ist nicht opportunistisch. Diese basiert weiterhin auf der Tatsache, dass sich die Tschechische Republik mit ihrem Beitritt zur EU am 1. Mai 2004 dazu verpflichtet hat, das europäische Sozialmodell mitzutragen, dem Globalisierungsdruck standzuhalten und zugleich den Beitritt zur Eurozone anzustreben. Der gemeinsame europäische (und darin insbesondere der deutsche) Markt hat einen dominanten Einfluss auf die tschechische Wirtschaft. Die Entwicklung der Länder der Eurozone kann uns deshalb nicht gleichgültig sein. Wir haben ein Interesse an einer funktionierenden und leistungsfähigen Eurozone bzw. Europäischen Union insgesamt. Die CMKOS identifiziert sich mit Bestrebungen des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und unterstützt dessen Forderungen, wie diese beispielsweise bei der Demonstration in Breslau im herbst dieses Jahres formuliert wurden, an der wir, gemeinsam mit Gewerkschaftern aus ganz Europa, aktiv teilgenommen haben.

[1]ODS (Občanská demokratická strana - Demokratische Bürgerpartei), TOP 09 (tradice, odpovědnost, prosperita - "Tradition, Verantwortung, Wohlstand"), VV (Věci veřejné - "öffentliche Angelegenheiten").



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