Montag, 19. Dezember 2011

--->>> Die #Verantwortungslüge - >> Im #Neoliberalismus wird d. schöne Begriff "Verantwortung" missbraucht.


Die Verantwortungslüge

 
[via Hinter den Schlagzeilen]
 
http://hinter-den-schlagzeilen.de/2011/12/16/die-verantwortungsluge/-7318
 

 

Im Neoliberalismus wird der schöne Begriff "Verantwortung" missbraucht. Der Einzelne soll durch Konsum-entscheidungen auf eigene Kosten das Versagen der Politik korrigieren. Von "Eigen-verantwortung" wird immer dann gesprochen, wenn sich die Institutionen aus der Verantwortung zurückziehen. Und wenn sie uns eine Verschlimmerung unserer Situation aufzwingen wollen. Trotzdem gibt es eine wirkliche Verantwortung des Bürgers: Sie besteht darin, die Macht dieser Institutionen zu brechen. (Roland Rottenfußer)

"Ein bisschen Eigenverantwortung finde ich schon richtig", sagte mein Zahnarzt, als er mir die hohe Rechnung präsentierte. Meine Krankenkasse würde davon keinen Cent übernehmen. Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Brüderle fordert mehr Eigenverantwortung. Für die Pflegeversicherung solle – wie schon bei der Rente – jeder selbst vorsorgen. Auf dem Arbeitsmarkt gilt ja schon längst: "Fördern und Fordern". Auf eine Sammelklage gegen die zu geringe Höhe des Hartz IV-Satzes, reagierter die Stadt Wiesbaden mit dem Bescheid: "Diese Vorgehensweise entspricht der Zielsetzung des Gesetzgebers, die Eigenverantwortung des Leistungsempfängers zu stärken". Die Kläger hatten aber detailliert nachgewiesen, dass sie von dem Geld beim besten Willen nicht leben konnten.

"Eigenverantwortung" klingt gut. Dahinter steht scheinbar das Ideal einer autonomen Persönlichkeit. Man befreit sich aus Abhängigkeiten und trifft für sein Leben Entscheidungen. Geht es schief, trägt man dafür die Verantwortung, also auch die Folgen. Ich bin tief gerührt, dass sich Menschen wie Brüderle und mein Zahnarzt so für meine Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit engagieren. Das ist quasi humanistische Psychotherapie, und bekomme sie sogar umsonst! Auch von der Kinoleinwand herunter bekomme ich wertvolle Ratschläge: "Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind", belehrt mich Spiderman. Das gleiche sagt Professor Dumbledore zu Harry Potter, als der ihn fragt, ob in ihm nicht der Keim des Bösen schlummere. "Viel mehr, als unsere Fähigkeiten, sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind." Und aus dem Lautsprecher kiekst ein gewisser Michael Jackson: "I'm starting with the man in the mirror."

Die erschöpften Realitätsschöpfer

Wie es der Zufall will, stimmen auch die freundlichen Zeugen Jehovas, mit denen ich gelegentlich diskutiere, Spiderman zu. Sie glauben fest, dass uns Gott einen freien Willen geschenkt hat. "Denn ohne freien Willen hätte ja der ganze Justizapparat keinen Sinn". Übertragen auf die Religion: dann dürfte Gott niemanden verdammen, und das gehört bekanntlich zu seinen Kernkompetenzen. Überhaupt bin ich, seit ich spirituelle Wege gehe, noch tiefer vom Prinzip der Eigenverantwortung durchdrungen. In einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen heißt es: "Ausgehend davon, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten." Ich, der Schöpfer meiner Realität!? Gemeint ist das Berühmte "Gesetz der Anziehung", das Büchern wie "The Secret" Millionenauflagen bescherte.

Zentral für unser Thema ist aber vor allem die Frage der ökologischen und politischen Eigenverantwortung. Angela Merkel etwa wirft uns vor: "Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt." Prinz Charles setzt eins drauf: "Wir zerstören die Klimaanlage unseres Planeten." Dirk Fleck, Autor einer Ökothrillern, nennt uns pauschal die "Tätergeneration". Wir zerstören mit unserer Art zu leben und zu wirtschaften die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen. Das bedrückt mich umso mehr als ich ja schon von Geburt an dem Tätervolk (Deutschland) und dem Tätergeschlecht (Männer) angehöre. Erdrückend viel Schuld für einen eigentlich ziemlich harmlos wirkenden Typen wie mich. Ich schlafe in letzter Zeit schlecht.

Kampfbegriff "Eigenverantwortung"

Die drastische und pauschale Zuschreibung von Verantwortung an die breite Masse, an Sie und mich, ist heute gängige Rhetorik. Wenn ich eine bessere Welt will, fange ich mit der Veränderung bei mir selbst an. Oft enthalten Ratschläge einen belehrenden Grundton: "Du versuchst dich vor deiner Verantwortung zu drücken, aber ich habe dich durchschaut. Lern erst mal erwachsen zu werden." Eigentlich könnte man sich ja darüber freuen könnte, dass Verantwortung so ein Zeitgeist-Thema geworden ist. Und gewiss gibt es echte Verantwortung und echte Schuld. Ich wehre mich aber entschieden gegen Übertreibungen und den Missbrauch des Begriffs "Eigenverantwortung".

Beispiel Zahnarzt: Ich putze meine Zähne so gut, dass der Zahnarzt seit vielen Jahren nichts zu meckern hat. Obendrein gehe ich regelmäßig zur Vorsorge. Ich bin meiner Verantwortung also in beispielhafter Weise nachgekommen. Die Prophylaxe zahle ich trotzdem aus eigener Tasche, zuzüglich der Praxisgebühr. Eine Art Geldstrafe für vernünftiges Verhalten.

Beispiel Rente: Viele Menschen haben schlicht nicht das Geld, um privat etwas zurückzulegen. Sie treiben sehenden Auges auf die Altersarmut zu. Dazu kommt: Wer keine "Riester-Rente" in Anspruch nimmt, dem entgehen auch die staatlichen Zuschüsse. De facto eine Geldstrafe für Armut.

Beispiel Benzin sparen und CO2 vermeiden: Auf dem Land sind die Verkehrsverbindungen oft so schlecht, dass man ohne Auto nicht weit kommt. Außerdem treibt die Bahn seit Jahren die Preise nach oben, während sie gleichzeitig den Service verschlechtert und die Kontrollen verschärft.

Beispiel Glühbirnen: Unverantwortliche Verbraucher haben Glühbirnen alten Typs benutzt und diese sogar noch unnötig lange brennen lassen. Zum Glück ist Papa Staat da eingeschritten und hat uns durch ein Verbot zu unserem Glück gezwungen. Es wird so getan, als ob hier der Dreh- und Angelpunkt für die Rettung der Welt läge. Die Wahrheit ist: Nur etwa ein Zehntel des CO2-Ausstoßes entfällt überhaupt auf Privathaushalte, davon ca. ein Zwanzigstel auf Beleuchtung, also ein Zweihundertstel. Und von den großen Energienutzern, z.B. der Atomindustrie, werden gewaltige Mengen CO2 völlig sinnlos in die Luft geblasen. Für den Energieexperten des Landkreises Weilheim, Hans Arpke, geht die "Verantwortung" des Endverbrauchers in Sachen Licht gegen Null: "Glühbirnen alten Typs geben Wärme ab. Wenn sie durch temperaturneutrale Energiesparlampen ersetzt werden, könnte der Verbraucher dies im Winter kompensieren, indem er die Heizung weiter aufdreht."

Beispiel "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt": Tatsache ist, dass immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze gedrückt werden. Ein Blumenstrauß für die Liebste zum Geburtstag ist nicht mehr drin, weil er nicht zum Hartz IV-Warenkorb gehört. Die Prasser sind vor allem die reichsten 10 Prozent, und da vor allem das reichste eine Prozent. Und die Politik tut alles, um deren Riesenvermögen noch weiter anschwellen zu lassen.

Beispiel Friedenspolitik: Hier herrscht oft eine Eigenverantwortungsmentalität, die zu kurz greift. Gerade spirituelle Menschen argumentieren gern: "Der Friede beginnt in dir". Der Friede im eigenen Herzen hat aber mit dem Weltfrieden nur am Rande zu tun. Er muss nach außen getragen werden, um gesellschaftliche Realität zu werden. Der Friedenspsychologe Prof. Gert Sommer mahnt politisches Engagement an, das die Auseinandersetzung mit den Kriegsbefürwortern nicht scheut. "Mit sich selbst im Frieden zu sein ist auch schön. Aber selbst wenn 99 % der Weltbevölkerung im Frieden sind und 1 % ist es nicht, dann reicht das völlig aus, um Kriege zu führen." Angesprochen ist hier vor allem die Machtfrage.

Beispiel Fairtrade-Produkte. Hier kann der Käufer tatsächlich etwas tun, allerdings mit Einschränkungen. Erstens wird ihm die ethisch richtige Handlung durch den Preis erschwert. Wohlmeinende zahlen eine Art Ethik-Strafgebühr. Viele können sich Preisaufschläge von z.B. 50 % bei Rosen beim besten Willen nicht leisten. Zweitens verschleiern die Großhändler bewusst die unfairen Herstellungsbedingungen beim Großteil der Produktpalette aus Übersee. Gleichzeitig werden die Verbraucher durch massive Werbekampagnen ständig zur Bedenkenlosigkeit verführt. Es braucht viel Zeit- und Energieaufwand, um zureichend informiert zu sein und Fehlentscheidungen auszuschließen. Ist ein Produkt "fair", war der Transportweg vielleicht zu lang (z.B. bei Rosen), und man ist ein "Klimasünder". Es stellt sich also die Frage: Warum kaufen mächtige Multis nicht von vornherein nur faire Produkte ein? Mit der Platzierung von Fairtrade-Ware räumen sie ja im Umkehrschluss ein, überwiegend Hersteller zu unterstützen, die unfair, also ausbeuterisch arbeiten. Ist ihnen das egal? Und warum verbietet der Staat nicht einfach den unfairen Handel? Ein kapitalistisches System, das seit Adam Smith auf dem Egoismus fußt, erwartet ausgerechnet vom Appell an den Altruismus des Einzelnen eine ethische Wirtschaftsordnung. Absurd!

"Verantwortung" im Kleinen, Machtlosigkeit im Großen

Der Endverbraucher soll also jene Fehler kompensieren, die vorher von großen Organisationen mit ungleich mehr Macht begangen wurden. Es findet eine Art Crowdsourcing des Verantwortungsgefühls statt. Der wohlmeinende Verbraucher lädt das ganze Elend der Welt auf sein Gewissen: "Wenn ich korrekt einkaufen würdet, gäbe es keine Ausbeutung mehr". Wahrscheinlicher ist aber: Kaufen mehr Menschen Fairtrade-Produkte, sind diese vielleicht früher ausverkauft. Nicht jeder Plantagenbesitzer ist daran interessiert, seine Arbeiter besser zu bezahlen, wenn es bisher auch funktioniert hat. Und wenn unfaire Produkte boykottiert werden, könnte das bedeuten, dass Arbeiter statt ihrer mies bezahlten bald gar keine Jobs mehr haben. Solche Probleme können nur durch Strukturveränderungen und politische Entscheidungen im Großen gelöst werden. Nahe liegend wäre es z.B., die Gewinnspanne der Aldi-Brüder (Vermögen geschätzte 34 Milliarden) drastisch zu reduzieren. Das Geld könnte eingesetzt werden, um Herstellern fairere Preise zu bezahlen. Auch müsste jede Gewinnabschöpfung durch Personen verhindert werden, die keine Eigenleistung erbringen (Aktionäre).

Innerhalb des alten System erleben wir jedoch immer wieder das alte Spiel: Arbeiter und Endverbraucher sollen sich um das kleine Stück vom Kuchen raufen, das die Abzocker übrig lassen. Da ist es schon anerkennenswert, dass mancher Fairtrade-Kunde freiwillig auf einen Vorteil verzichtet, wozu niemand sonst innerhalb der Lieferkette bereit war. Der österreichische Sachbuchautor Christian Felber wittert dahinter ein perfides System: "Wir werden vom eigentlichen Platz des politischen Geschehens ferngehalten und in die Supermärkte gelotst, wo wir unsere demokratische Verantwortung ausleben sollen, in einem zugewiesenen Reservat der Wahlfreiheit als Ersatz für echte Demokratie." Hier trifft Felber den Kern: Die Bürger werden von wichtigen Entscheidungen im Großen systematisch ausgeschlossen. Z.B. durch die Verweigerung direkter Demokratie (außer in der Schweiz) und durch Verlagerung von Entscheidungen auf die EU-Ebene. Durch Berufung auf Sachzwänge ("Alternativlosigkeit") und inszenierten Geldmangel. Durch wachsende, versteckte Macht der nicht demokratisch gewählten Kräfte (IWF, Ratingagenturen Großbanken, Weltkonzerne). Gleichzeitig sollen wir uns "immer verantwortlicher" fühlen.

Verfallsform echter Verantwortung

Mit Blick auf die von Politikern und staatlichen Stellen verbreiteten Kampagnen kann man feststellen:

– Eigenverantwortung wird immer dann angemahnt, wenn uns jemand dazu zwingen will, Verschlechterungen unserer Lebenssituation hinzunehmen. Jeder Widerstand wäre ja dann gleichbedeutend mit der Regression auf ein unreifes Stadium der Charakterentwicklung. Beim Kauf einer neuen Brille stelle ich z.B. fest, dass meine Eigenverantwortung enorm groß ist (ich trage 100 Prozent selbst), während ich weiter monatlich meine Krankenkassenbeiträge zahle.

– Eigenverantwortung wird von denen angemahnt, die sich aus der Verantwortung zurückziehen wollen, obwohl sie gut dafür bezahlt werden, diese zu tragen. Ein Beispiel: Bei der "Bankenrettung" 2008 wurde deutlich, dass Banken zwar ungeniert mit Milliardensummen zockten, aber nicht einsahen, warum sie entsprechende Verluste selbst tragen sollten. Dafür hat man ja den Steuerzahler. "Eigenverantwortung" ist heute vor allem der Kampfbegriff der Unverantwortlichen.

- Der Begriff Eigenverantwortung dient auch der Disziplinierung, der Prägung der Bürger im Sinne des gewünschten Menschenbildes. Echte Autonomie und Reife werden damit eher verhindert. Christian Felber schreibt dazu: "Eigenverantwortung kann nicht heißen, dass ich mir vorgegebene Charakterzüge aneigne, dass ich mich an ein normatives Menschenbild anpasse. Das ist Unterwerfung, nicht Freiheit."

- So wie der Begriff heute gebraucht wird, ist Eigenverantwortung die Verfallsform von echter Verantwortung. Diese ist normalerweise immer sozial, also gemeinschaftlich und zielt niemals auf Vereinzelung und Entsolidarisierung ab. "Die angedeutete Beziehungslosigkeit eines Menschen, der sich angeblich ganz um sich selbst kümmert, ist eine naive Illusion. Kein Mensch ist unabhängig, wir hängen alle voneinander ab." (Felber)

Zugewiesene Reservate der Freiheit

Wenn jedoch der Begriff "Eigenverantwortung" im Neoliberalismus missbraucht wird, könnten wir dann nicht wenigstens den Begriff "Verantwortung" gelten lassen? Prinzipiell schon. Unsere Verantwortung steht und fällt aber mit unserem realen Einfluss auf das Geschehen. Der ist oft kleiner als wir denken. Deshalb greifen auch wohlmeinende Appelle aus der Aktivistenszene oft zu kurz. So lesen wir im Webmagazin "Sein", "dass ein Wandel nicht durch politischen Widerstand und Gewalt erzeugt werden kann, sondern bei jedem Einzelnen beginnt, in jeder einzelnen Entscheidung, die wir jeden Tag treffen." Schade, dass der Autor zusammen mit der Gewalt gleich auch den Widerstand entsorgt hat. Die Machthaber können sich nur freuen, dass solche Halbwahrheiten im Volk kursieren. Sie müssen dann nur noch unseren Raum für Einzelentscheidungen auf ein für sie ungefährliches Maß verkleinern – und genau das geschieht.

Machtstrukturen werden stets durch Gesetze zementiert. Wir können im legalen Rahmen aber oft nur die unbedeutenden Entscheidungen treffen. Wer etwas verändern will, gerät schnell in eine Zwickmühle: Was helfen würde, ist verboten; was erlaubt ist, hilft nicht. Beispiele für in Deutschland verbotene sinnvolle Maßnahmen sind: Generalstreiks und unangemeldete Demonstrationen oder Besetzungen. Bedeutende Veränderungen können oft nur illegal herbeigeführt werden, und Verbote sind strafbewehrt. Der Einzelne müsste sich "opfern" und sich dafür auch noch von denen beschimpfen lassen, für deren Wohl er eingetreten ist. Strafen werden von Machthabern stets so hoch angesetzt, dass sich die Mehrheit davon abgeschreckt fühlt und die mutige Minderheit vernachlässigbar ist.

Gefährlicher "Zuständigkeitsburnout"

Da sich illegale Handlungen sich meist verbieten, blieben mühsame, langwierige Wege mit geringen Erfolgsaussichten: Der Einzelne kann eine Partei "unterwandern" und dort seine Programmwünsche durchsetzen. Er kann eine eigene Partei oder Bürgerbewegung gründen, Protestbriefe und Petitionen schreiben, Unterschriftenlisten herumgehen lassen usw. Einflussnahme ist hier möglich. Die wahrscheinliche Wirkung ist aber so gering, dass viele schon im Vorfeld das Handtuch werfen. Hinzu kommt: Ethisch richtiges Handeln setzt einen umfassenden, meist langwierigen Erwachensprozess voraus. Man muss viel Zeit und Energie investieren und dem Gegenwind der herrschenden Kultur trotzen. Man muss Sachverhalte recherchieren, die die Verantwortlichen lieber unter Verschluss halten. Man muss sich selbst motivieren und von ihrem Alltagsgeschäft ausgelaugte Menschen hinter dem Ofen hervorlocken. Von typischen Argumenten ("Du hältst dich wohl für was besseres", "Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen") darf man sich nicht entmutigen lassen.

Ich engagiere mich ja als Journalist und auch privat in einigen Belangen. Wenn ich aber einmal erschöpft bin und dann eine besserwisserische Mail erhalte – "Du, da müssen wir doch was dagegen tun" – reagiere ich zunehmend gereizt. Das Energie- und Zeitbudget des Menschen ist begrenzt, sein Verantwortungsbereich dagegen potenziell unbegrenzt. Besonders problematisch ist der Satz: "Wer zuschaut, ist mitschuldig". Er führt, nimmt man ihr wörtlich, sehr schnell zu einem "Zuständigkeitsburnout". Natürlich sollte man, wenn einer gerade ertrinkt, nicht am Ufer stehen bleiben – man sollte hineinhüpfen und ihn retten. Wer sich allerdings für den ganzen Globus zuständig fühlt, kommt schnell an seine Grenzen. Wenn ich in Syrien hinschaue, schaue ich gleichzeitig in Fukushima weg, und umgekehrt.

In die Vereinzelung getrieben

Und es sind gerade die aufrechten Leute, denen schnell die Zeit und die Kraft ausgeht: Diejenigen, denen ihre Familie und ihr Beruf wichtig ist und die noch in einem gemeinnützigen Verein mitarbeiten. Ihre "Gegner", z.B. in den globalen Konzernen, verfügen dagegen über gut bezahlte Vollzeitprofis in Sachen Manipulation. Diese sinnen Tag für Tag darüber nach, wie sie uns Verschlechterungen unserer Lage aufzwingen und Gegenwehr möglichst ausschalten können. Ob es darum geht, das Pinkeln und Parken in den Städten zu verteuern, die Überwachungsdichte zu erhöhen oder die Gesundheitskosten auf Arbeitnehmer abzuwälzen. Das neoliberale Menschenbild zieht so eine Negativspirale nach sich: Da sich das Kollektiv zunehmend weigern, Verantwortung für uns zu übernehmen, sind wir ständig damit beschäftigt, für uns selbst zu sorgen. In der Folge haben wir nicht mehr die Kraft, Verantwortung für das Kollektiv zu übernehmen.

Appelle an unser Verantwortungsgefühl suggerieren, dass unser Zuständigkeitsbereich beliebig ausweitbar wäre. Richtig ist, dass unser Einfluss in Maßen wachsen kann, solange wir die Zeche für ethisches Verhalten selbst zahlen (Beispiel: Fairtrade). Schwieriger wird es, wenn unser eigenverantwortliches Handeln massiv Herrschaftsinteressen berührt. Ein Beispiel sind die überall aus dem Boden schießenden Komplementär- oder Regionalwährungen. Wenn sie dem System der Kontrolle über das Geldwesen gefährlich werden, könnten sie von heute auf morgen verboten werden. So geschah es dem berühmten Geldexperiment von Wörgl von 1932. Vernunft und selbst offensichtliche Erfolge könnten wenig fruchten, wo Machtinteressen berührt sind.

Schuldgefühle machen klein

Es stellt sich die Frage, wie es möglich war, Verantwortung so massiv in teils unzutreffender, teils übertriebener Weise auf den "einfachen Bürger" abzuwälzen. Zunächst ist der Verantwortungstransfer natürlich eine psychische Selbstentlastung der wirklich Mächtigen. Es ist nicht gerade angenehm, sich damit zu konfrontieren, wie schwer die Verwüstungen sind, die man schon angerichtet hat. Gerhard Polt spottet in seinem Sketch "Der Verantwortungsnehmer": "Das kann man doch dem Minister doch nicht bloß deshalb anlasten, weil er es veranlasst hat." Zum zweiten sollen natürlich die finanziellen Nachteile verantwortlichen Handelns auf uns verschoben werden (Beispiel: ethisches Einkaufen).

Ich möchte aber noch einen dritten Grund nennen, der mir noch wichtiger erscheint: Die dunkle Schwester der Verantwortung ist die Schuld. Und mit Schuldgefühlen kann man Menschen manipulieren. Wer Verantwortung übernimmt, ohne entsprechende Einflussmöglichkeiten zu haben, wird sich schnell als Versager fühlen, wenn die Dinge nicht in seinem Sinn funktionieren. Größere "Eigenverantwortung" erzeugt größere Schuldgefühle. Die lähmen, machen uns klein und bringen uns gar zu der Annahme, wir hätten eine Besserung der Verhältnisse gar nicht verdient. Der US-amerikanische Bürgerrechtler Noam Chomsky schreibt: "Die Menschheit soll denken, sie sei wegen zu wenig Intelligenz, Kompetenz oder Bemühungen die einzig Schuldige ihres Nicht-Erfolgs. Das 'System' wirkt also einer Rebellion der Bevölkerung entgegen, indem dem Bürger suggeriert wird, dass er an allem Übel schuld sei und mindert damit sein Selbstwertgefühl. Dies führt zur Depression und Blockade weiteren Handelns."

Eine weltliche Form der "Erbsünde"

Man kann zum Vergleich auch andere Modelle der Schuldzuschreibung heranziehen. Das katholische Konzept der "Erbsünde", begründet von Paulus und dessen Verehrer Augustinus, diente z.B. als Instrument zur Beherrschung der Masse. Ein weltliches Pendant dazu bilden übertrieben strenge Gesetze: etwa auf dem Gebiet des Copyrights oder der Verkehrsregeln. Je strenger die Regeln, desto mehr tendiert das Gesetz dazu, den Menschen für seine unvermeidliche Fehleranfälligkeit zu bestrafen, also für sein Menschsein. Es wird also aus der menschlichen Konstante "Fehlbarkeit" Schuld erschaffen, die der Betroffene nur durch eine Geldzahlung tilgen kann. Dieses Konzept erinnert wiederum an die Geldschöpfung in Form von Schuld durch die Banken. Nimmt jemand einen Kredit auf, erschafft die Bank hierfür eine Summe Geldes aus dem Nichts – verbunden mit dem Anspruch auf Zinszahlungen durch den Schuldner.

Zu diesen drei traditionellen Schuldkonzepten – Religion, Gesetz und Geldschöpfung – kommt in jüngerer Zeit ein viertes, das bei politischen Aktivisten und in der Ökoszene gängig ist. Dahinter steht oft die durchaus ehrenwerte Absicht, zuerst sich selbst zu belasten, statt die Schuld nur im Außen zu sehen. Der Kern dieser Kollektivschuldthese lautet: "Alles geschieht, weil wir es zulassen." Dieses Pauschalurteil hält einer genaueren Untersuchung natürlich nicht stand. So wäre der Satz: "Assad lässt auf Demonstranten schießen, weil wir es zulassen" zwar formal richtig, jedoch realitätsfern. Ist es im Ernst zu erwarten, dass wir nach Syrien einreisen, um uns vor die Gewehre der Mörder zu werfen? Wir könnten auf einer Unterschriftenliste protestieren, aber davon zeigt sich Assad wahrscheinlich unbeeindruckt. Außerdem: Niemals hören wir, dass auch das Gute geschieht, "weil wir es zulassen". Pfleger helfen den Kranken, weil wir es zulassen. Wunderbare Musik wird geschrieben, weil wir es zulassen. In jedem Frühjahr sprießen herrliche Blumen, weil wir es zulassen.

"Ich bin verantwortlich, wenn die Sonne aufgeht"

Hier wird deutlich, warum viele Menschen die Verantwortung, die ihnen zugeschoben wird, scheinbar bereitwillig übernehmen. Man müsste sich ja nicht jeden Schuh anziehen, der herumsteht. Ich vermute aber, dahinter steht dem Wunsch, sich mächtig zu fühlen. Der König im Buch "Der kleine Prinz" befiehlt allmorgendlich der Sonne, aufzugehen. Abends befiehlt er ihr dann wieder unterzugehen. Und siehe da: Sie gehorcht. Was für eine Machfülle! Auch in der Esoterik ist es üblich, dem Individuum die Urheberschaft an allem zuzuschreiben ("Ich bin Schöpfer meiner Realität"). Ich sehe darin eine Abwehr von Machtlosigkeitsgefühlen, die als unerträglich erlebt werden. Die Größenfantasien sprießen in dem Maß, wie unsere tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Institutionen zurückgedrängt werden. An diese Sehnsucht, uns Verantwortung anzueignen, appellieren wiederum die Institutionen, die sie uns nur allzu gern zuschieben.

"Ent-schuldigt euch!"

Ich sehe voraus, dass mein Artikel bei einigen Lesern Abwehr hervorruft: "Er macht es den Bürgern und Verbrauchern zu bequem. Vielleicht will er sich nur selbst vor der Verantwortung drücken". In der Tat will ich meine Leserinnen und Lesern auch entlasten – von falschen Selbstvorwürfen. Aber meine Schlussfolgerung ist alles andere als bequem. Sie belastet uns alle mit einer Aufgabe, die die meisten bis heute gar nicht als solche erkennen. Wir müssen die bestehenden Machtstrukturen angreifen. Die Kräfte also, die darüber entscheiden, dass unsere Steuergelder in Kriegsgerät fließen. Jene, die bestimmen, dass das Volk und seine "Vertreter" Geld nur als Schuldgeld von Privatbanken beziehen können. Jene, die das Geld in einem wahnwitzigen legalen Raubzug beständig von unten nach oben pumpen.

Wir sollten all das tun, aber nicht "weil", sondern "damit". Nicht weil wir schuld daran sind, dass die unterbezahlten Menschen in den Bananenplantagen an chemischen Spritzmitteln ersticken, sondern damit eine Welt entsteht, in der dies nicht mehr geschehen kann. Zwischen "weil" und "damit" besteht ein großer Unterschied: Noam Chomsky hat es schon angedeutet: Fühlen wir uns als Versager, macht uns das depressiv, also antriebsschwach. Fühlen wir uns dagegen als wertvolle Menschen, denen ihre Würde von Machtkartellen geraubt wurde, werden wir selbstbewusst unser Recht einfordern. Betrachten wir uns selbst als die Verantwortlichen, so neigen wir zur Nabelschau, anstatt an der revolutionären Umwälzung der Verhältnisse im Großen zu arbeiten. Wir leiten also Energie von den großen hin zu den kleinen Kampfplätzen. Außerdem: Wenn wir uns nach dem Motto: "Es geschieht, weil wir es zulassen" ständig selbst beschimpfen, entlassen wir die Täter billig aus ihrer Verantwortung.

Jenseits der Größenfantasien

Dies ist kein Aufruf, die "kleinen Schritte" zu einem anständigeren Leben zu unterlassen. Ich finde es wichtig, z.B. unnötige Autofahrten zu unterlassen und fair gehandelten Orangensaft zu kaufen. Aber diese Dinge sollten nebenbei geschehen und allmählich in Fleisch und Blut übergehen. Und man darf von ihnen keine "Wunder" erwarten. Das Leben des politisch erwachten Menschen sollte stets so organisiert sein, dass noch Kraft für die großen Kämpfe übrig ist. Das kann bedeuten, auf die Straße zu gehen, Plätze zu besetzen und Banken zu umzingeln. Das kann bedeuten, bei Regen und Kälte draußen zu stehen und durch die bedrohlichen Spaliere hochgerüsteter Polizisten zu marschieren. Das kann bedeuten, seine Kräfte auf strategisch wichtige Punkte zu konzentrieren, etwa die Internetfreiheit, Direkte Demokratie oder die Zerschlagung der Bankenmacht. Das kann bedeuten, mehr Sorgfalt auf richtige Wahlentscheidung zu lenken, anstatt mechanisch das Kreuzchen bei seiner politischen "Jugendliebe" zu machen. Das kann auch bedeuten, den Ungehorsam zu proben und dafür negative Konsequenzen in Kauf zu nehmen.

Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum es so beliebt ist, zu sagen: "Ich fange lieber mit kleinen Veränderungen bei mir selbst an"? Es ist einfach bequemer, die Fairtrade-Rosen für 3 Euro zu kaufen, als auf die Straße zu gehen und sich mit der Macht anzulegen. Das erstere verschafft ein wohliges Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Das letztere verursacht Angst, ist riskant. Es ist oft mit Selbstzweifeln verbunden oder bedeutet zähes Ringen mit Mitstreitern um den richtigen Weg. Gerade dies bedeutet aber wirkliche Eigenverantwortung, ein wirkliches politisches Erwachsenwerden ohne falsche Schuldgefühle und Größenfantasien. Ja, die Veränderung muss bei jeden Einzelnen anfangen. Aber sie darf nicht dort aufhören. Wir haben Verantwortung, aber sie besteht zunächst darin, zu erkennen, wo wir nicht verantwortlich sind.

(Erstveröffentlichung einer veränderten Version dieses Artikels im Schweizer Magazin "Zeitpunkt".

www.zeitpunkt.ch)



Posted via email from Dresden und Umgebung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen