Dienstag, 20. Dezember 2011

Vorurteile b. Menschen mit höheren Einkommen b. Obdachlosenabwertung + Abwertung v. Langzeitarbeitslosen am deutlichsten zunahmen

 
Deutsche Missstände: Zu ihrer Entstehung und Überwindung – Einblicke in Ursachen, Theorie und Praxis

[via Wirtschaft und Gesellschaft]
 
http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/?p=1145
 

Eine Rezension der heute bei Suhrkamp erschienenen zehnten und letzten Folge "Deutsche Zustände"

Deutsche Zustände, Folge 10, heißt der heute erschienene, letzte Band einer zehnjährigen Forschungsreihe. Der Titel, so verrät der Herausgeber, Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, ist bei Heinrich Heine entlehnt.

Unter dem Titel "Französische Zustände" hatte Heine aus seinem Pariser Exil für die Augsburger Allgemeine Zeitung geschrieben. Heines Ziel: "Das Verständnis der Gegenwart." Sein Motiv: "Wenn wir es dahin bringen, dass die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristrokratie zu Hass und Krieg verhetzen."

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Hass ist ein diffuses Gefühl, in dem häufig Ängste, Verletzung, Ausgrenzung und Aussichtslosigkeit ihren Ausdruck finden. Darum geht es auch in der Untersuchung zur "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit". Das ist der offizielle Name der Langzeitstudie, der aufgrund seiner Sperrigkeit sicherlich zurecht nicht als Titel für die Buchausgabe verwendet wurde. Dem daraus ableitbaren Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit wird das Buch, trotz der Komplexität der Untersuchung, auch im Text gerecht.

"Was denken die Menschen? Wie verändern sich ihre Einstellungen? Welche Erfahrungen machen sie? Wie nehmen sie die Dinge wahr und wie verarbeiten sie ihre Eindrücke? Und nicht zuletzt: Welche Folgen hat das für schwache Gruppen in dieser Gesellschaft?" So beschreibt Heitmeyer zusammenfassend den Gegenstand und Fokus der Deutschen Zustände.

Der größte Erfolg gegen die im Buch aufgezeigten deutschen Missstände, so dann auch der Gedanke, der sich bei mir während der Lektüre einstellte, wäre sicherlich gegeben, wenn die Medien ihm genausoviel Aufmerksamkeit schenken würden wie dem Buch Sarrazins. Die Medien und Sarrazin aber sind selbst Teil der in den Deutschen Zuständen aufgezeigten Missstände.

"Rohe Bürgerlichkeit"

Heitmeyer schreibt einleitend: "Die Ergebnisse verweisen auf Entwicklungen, im Zuge welcher die Gesellschaft unterhalb des Radars der öffentlichen Aufmerksamkeit zunehmend vergiftet wird." Sein Augenmerk richtet sich auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen, unter denen die Menschen auf Krisen reagieren. Dabei sticht heraus, dass in der Zeit von 2009 bis 2010 die Vorurteile bei Menschen mit höheren Einkommen bei Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Obdachlosenabwertung und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Sexismus am deutlichsten zunahmen. Auch aufgrund dieser Entwicklung schließt Heitmeyer: "Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität" sind zur neuen Normalität geworden, die Nervosität scheint über alle sozialen Gruppen hinweg zu steigen."

Heitmeyer attestiert der deutschen Gesellschaft eine "explosive Situation als Dauerzustand" und warnt vor einer "rohen Bürgerlichkeit", die sich dadurch auszeichnet, "dass in bürgerlichen Kreisen offensichtliche Versuche unternommen werden, privilegierte Positionen zu wahren und abzusichern." Das ginge, so Heitmeyer, auch mit der Abwertung und Desintegration von als "nutzlos" etikettierten Menschen einher. Die auch durch einen Rückzug aus der Solidargemeinschaft gekennzeichnete rohe Bürgerlichkeit würde dabei auch über liberale Tages- und Wochenzeitungen ventiliert.

Die Rolle der Medien

Der Rolle der Medien widmet sich auch der Journalist Gunter Hofmann unter der Überschrift: "Das soziale und der Zeitgeist, Eine Einlassung auf das letzte Jahrzehnt".

Hofmann schlussfolgert, dass von den Medien "fast unisono, einschließlich der liberalen Blätter (mit Ausnahme kleiner Randphänomene wie dem Freitag, gelegentlich auch noch der taz) der Zwang ausging, einen neoliberalen Kurs einzuschlagen: "Die ´soziale Frage´ galt nicht nur als vernachlässigbar, sie wurde vielmehr regelrecht als Traditionsballast diffamiert, den man abschütteln müsse, um in der zunehmenden Weltmarktkonkurrenz nicht abgehängt zu werden."

Hofmann bezieht sich dabei ausdrücklich auf die rotgrüne Bundesregierung, die 1998 Helmut Kohls Koalition ablöste. Vor dem von Hofmann gezeichneten Hintergrund wundert es nicht, dass, wie Hofmann fast lapidar feststellt, "die Krise des herrschenden Kapitalismus nicht etwa die europäische Sozialdemokratie oder Linksparteien gestärkt hat." Ausführlich widmet sich Hofmann in einem späteren Kapitel der Politik Schröders von 1998 bis 2005 und dem Zusammenspiel von Politik und Medien.

Rückschlüsse auf die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Medien

Die Analyse Hofmanns sollte insbesondere der deutschen Sozialdemokratie zu Denken geben, deren drei Kanzlerkandidaten nicht nur die Agenda-Politik seit 1998 bis heute maßgeblich mitgetragen haben und bestimmten, sondern sich auf dem gerade zurückliegenden SPD-Bundesparteitag auch noch ausdrücklich lobend auf jene Regierungszeit bezogen. Vor dem Hintergrund der Lektüre der Deutschen Zustände wirft die Rede des SPD-Parteichefs, in der er die Neuausrichtung der SPD mit dem Bundesparteitag für abgeschlossen erklärte, noch

einmal mehr ihre dunklen Schatten auf eine etwaige sozialdemokratische Regierung voraus, sollte sich der Zustand der SPD nicht vorher noch hin zu den Bedürfnissen der Bevölkerung und zu den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt neu ausrichten.

Hofmann spannt schließlich den Bogen von einer "veränderten Bürgerlichkeit", über Journalisten, Sozial- und Politikwissenschaftler bis hin zu den Lehrstühlen für Ökonomie, "die fast ausschließlich einseitig besetzt wurden." Seine Analyse besticht durch journalistische Qualität – und Aktualität, denn selbst das jüngste "Erschrecken" des konservativen Kommentators Charles Moore und des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher ist noch mit in seinen Text eingeflossen.

Bei aller Anerkennung, die Frank Schirrmacher zu Recht für seine Offenheit, in seinem Feuilleton kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, erhielt, stimmt doch die kritische Frage Hofmanns zumindest nachdenklich: "Kommt das große Erwachen jetzt ausgerechnet von dieser Seite, deren Sensibilität für gesellschaftliche Verwerfungen zuvor nicht sonderlich ausgeprägt war? Gut möglich, und es gibt Gründe dafür. Es ist auch das Erschrecken über das, was unter dem eigenen Banner geschah."

Ich denke dabei – gerade vor dem Hintergrund der in den Deutschen Zuständen aufgezeigten "rohen Bürgerlichkeit" – daran, dass auch ein Frank Schirrmacher Sarrazin das Prädikat

Bildungsbürger verlieh, ohne das "Bildungsbürgertum" entsprechend zu hinterfragen, und daran, dass er Sarrazin auch noch eine vollständige Seite der FAZ-Weihnachtsausgabe für einen Gastbeitrag in seinem Feuilleton einräumte, in dem Sarrazin noch einmal unwidersprochen seine kruden Thesen als von niemandem widerlegt verbreiten durfte. Und das, obwohl die Wissenschaftlerin, die Psychologin Elsbeth Stern, auf die sich Sarrazin hauptsächlich bezog, ihn längst widerlegt hatte. Elsbeth Sterns vernichtendes Urteil damals: "Sarrazin hat nicht verstanden, wie die Vererbung die Entwicklung von Intelligenz beeinflusst."

Die teils überbordende – unter den Umständen einer nun schon seit vielen Jahren gleichgeschalteten Medienlandschaft ja auch nachvollziehbare – Anerkennung, die Schirrmacher jetzt für die Öffnung seines Feuilletons gezollt wird, ist im Ergebnis doch auch nur Ausdruck des krisenhaften Zustands deutscher Medien. Gesund wäre es, würden Politikteil, Wirtschaftsteil und Feuilleton gleichermaßen verschiedene Meinungen wie selbstverständlich zum Zuge kommen lassen. Die Wirklichkeit ist bekanntlich eine andere. Einen persönlichen Beleg dafür lieferte vor nicht allzu langer Zeit auch der Tagesspiegel. Da durfte der Kolumnist Harald Martenstein auf der Titelseite des Tagesspiegel am Sonntag

den größten ökonomischen Blödsinn verbreiten, eine Replik aber wurde mit fadenscheinigen Verrenkungen abgelehnt. Am Tag der Ablehnung aber erschien noch einmal der gleiche ökonomische Tenor aus der Feder des Chefredakteurs höchstpersönlich. Ein Paradebeispiel für die Abgründe des deutschen Medienbetriebs.

Gunter Hofmann fragt in den Deutschen Zuständen:

"Wird es einen Rückweg in eine Debatte über Alternativen, über postneoliberale Ökonomie, über ein Regelwerk zur Zähmung des radikalen Marktkapitalismus geben?"

Hofmanns Antwort:

"Vorstellen kann man sich das nicht. Anfangen müsste es ja damit, dass die moderne Demokratie über ihre eigenen Defizite und Deformationen laut reflektiert."

Bei der Vorstellung des Buches auf der Bundespressekonferenz wurde bekannt, dass die Wochenzeitung Die Zeit 2007 den Verfassern der Deutschen Zustände die Zusammenarbeit mit dem Hinweis aufkündigte, dass deren Berichterstattung zu kritisch sei.

Den Provokateuren und Menschenfeinden Sarrazin und Sloterdijk widmet Hofmann schließlich breiten Raum in seiner Analyse, genauso wie dem "Marketing-Journalismus" und der "Talkshow-Kultur". Er bemängelt dabei unter anderem die Reduzierung von Politik auf Entertainment.

Bemerkenswerte Breite und Tiefe der Schilderungen

Angesichts der Kompaktheit des Buches ist es kaum zu glauben, in welcher Breite und Tiefe das Phänomen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untersucht wird. An die generalisierenden Teile von Heitmeyer und Hofmann schließen sich empirische Studien über die Abwertung von Asylbewerbern, Sinti und Roma an. In einem weiteren Teil wird die Entwicklung rechtspopulistischer Orientierungen und Parteien untersucht.

Der Zusammenhang zwischen konjunkturellen Schwankungen, den damit verbundenen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und deren Auswirkungen auf Fremdenfeindlichkeit ist ein weiterer Gegenstand, der im Zeitverlauf untersucht wird. Ein Fazit daraus: "Die andauernde Prekarisierung ist in 2011 trotz positiver Arbeitsmarktstatistiken keine erfolgversprechende Voraussetzung für die Zukunft."

Es werden darüber hinaus die Bedeutung von Jugendarbeitslosigkeit untersucht, die Frage nach Zusammenhalt und Vielfalt in der Gesellschaft, die Entwicklung von Vorurteilen gegenüber Muslimen und Juden und antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten. Dem Rechtsextremismus und der Demokratieentwicklung in Ostdeutschland und den Opfern rechsextremistischer Gewalt sind jeweils eigene Teile gewidmet.

Hervorragend und originell zugleich auch der Beitrag von Albrecht von Lucke: "Populismus schwergemacht. Die Dialektik des Tabubruchs und wie ihr zu begegnen wäre." Nicht nur zeigt Lucke auf, wie die Medien im Umgang mit Populisten wie Martin Walser, Jürgen W. Möllemann, Heinz Buschkowsky, Eva Herman, Jörg Haider und Thilo Sarrazin komplett versagen. Lucke erklärt die kalkulierten Verhaltensmuster dieser Provokateure und worauf es ankommt, diesen Tabubrechern wirksam zu begegnen.

Ein Kompendium für selbständiges Denken und Handeln

Aufgrund ihrer Breite und Tiefe und ihrer analytischen Sorgfalt sind die Deutschen Zustände nicht nur für eine einmalige Lektüre bestimmt. Das Buch ist ein Kompendium, das sich auch aufgrund des desolaten Zustands weiter Teile deutscher Medien und Politik lohnt, stets griffbereit zu halten, um sich und andere ein Stück weit gegen die oberflächliche und teils gemein gefährliche Meinungsmache zu schützen. Es öffnet die Augen, fördert die eigene Meinungsbildung und hilft im Umgang mit der um sich greifenden, nicht nur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Die Langzeitstudie mag mit dieser letzten Untersuchung abgeschlossen sein. Die Aufgabe aber, die deutschen Missstände zu überwinden, bleibt.

In seiner "Bilanzierung" schreibt Heitmeyer: "Nach zehn Jahren der Forschungen gilt weiterhin: Die Würde des Menschen ist antastbar. Die Aktivitäten bestimmter politischer Bewegungen und Parteien bleiben – trotz zivilgesellschaftlichem Engagements – für bestimmte Gruppen lebensgefährlich."



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