Die doppelte Spaltung der Gesellschaft
Wirft man einen oberflächlichen Blick auf die Entwicklung in Deutschland, so fällt eines sofort ins Auge. Die Gesellschaft ist seit der Jahrtausendwende erheblich ungleicher geworden.
Wies Deutschland im internationalen Vergleich lange Jahrzehnte eine relativ ausgeglichene Einkommensstruktur auf, lag international im unteren Mittelfeld, nahe bei den für ihre geringen Einkommensunterschiede bekannten skandinavischen Ländern, so hat sich das binnen eines Jahrzehnts dramatisch verändert.
Heute liegt Deutschland zwar immer noch im Mittelfeld, jetzt aber am oberen Rand, weit weg von den skandinavischen und relativ nahe an den angelsächsischen Staaten wie Großbritannien, Irland oder den USA. Nach OECD-Angaben hat sich im letzten Jahrzehnt nur in zwei europäischen Ländern die Einkommenskluft zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel noch stärker geöffnet, in Bulgarien und Rumänien.
Von Michael Hartmann
Die Agenda 2010 und die Steuerpolitik Wege zur Spaltung
Ausschlaggebend für diese gravierende Verschlechterung sind in erster Linie zwei Maßnahmen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, die sog. Hartz-Reformen und die Reduzierung der steuerlichen Belastung für hohe Einkommen und Unternehmen. Die steuerlichen Beschlüsse sorgten für eine Anhebung der Nettoeinkommen bei den oberen zehn Prozent der Bevölkerung, die Agenda 2010 für eine Senkung bei der unteren Hälfte. Sie verschlechterte nicht nur die Situation für Arbeitslose (deutliche Verkürzung des Bezugszeitraums für Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), sie öffnete, was noch wichtiger ist, außerdem den Weg für einen (staatlich subventionierten) Niedriglohnsektor und bewirkte eine starke Lohnzurückhaltung bei den Beschäftigten. Die Angst, in Hartz IV abzustürzen, erhöhte sowohl deren Bereitschaft, schlecht oder sehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, als auch die Akzeptanz geringer Nominallohnerhöhungen, die dann gerade einmal die Verluste durch die Inflation ausgleichen konnten.
Diese Entwicklung wurde durch die starke Zunahme von befristeten und Leiharbeitsverhältnissen, die durch gesetzliche Neuerungen erst ermöglicht wurde, noch weiter verstärkt. Erstere haben seit 1996 von 4,7 auf 8,9 Prozent zugenommen, letztere von 0,6 auf 2,9 Prozent (Gundert/Hohendanner 2011: 2). Bei den Realeinkommen ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Nur das obere Zehntel der Beschäftigten hat bei den Löhnen und Gehältern zwischen 2000 und 2010 real zugelegt. Die restlichen neun Zehntel haben verloren, je weiter unten, umso stärker, insgesamt um 2,5 Prozent. In den untersten drei Zehnteln betrugen die Reallohnverluste sogar zwischen 15,6 und 21,9 Prozent (Angaben des DIW).
Die Bezieher geringer Einkommen und die Arbeitslosen spüren die Folgen der Arbeitsmarktreformen am stärksten. Sie sind die eindeutigen Verlierer der letzten zehn Jahre. Mittlerweile gilt jeder sechste bis siebte Bundesbürger als arm. Eine wachsende Zahl von ihnen, insgesamt fünf Prozent der Beschäftigten, zählt zu den "working poor". Sie bleiben arm, obwohl sie arbeiten, häufig sogar in Vollzeit. Das ist die Konsequenz der massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. In ihm sind mittlerweile fast 22 Prozent der Beschäftigten tätig, verglichen mit nur knapp 15 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Von den Vollzeit arbeitenden Jugendlichen und Leiharbeitern sind es sogar knapp 50 bzw. 75 Prozent. Die Löhne liegen im Niedriglohnsektor vielfach unterhalb der Hartz IV Sätze zehn Prozent der Beschäftigten müssen für Bruttostundenlöhne von weniger als sieben Euro arbeiten und müssen deshalb durch staatliche Transferzahlungen ergänzt werden.
Am anderen Ende der Skala ist genau das Gegenteil zu beobachten, und das gleich aus zwei Gründen. Zum einen profitieren diejenigen, die Aktien oder Unternehmen besitzen, in Form höherer Gewinne oder Dividenden von der Lohnzurückhaltung der Beschäftigten und der Senkung der Lohnnebenkosten. Zum anderen ist die steuerliche Belastung aller höheren Einkommen im letzten Jahrzehnt deutlich gesunken. So ist der Spitzensteuersatz zwischen 2000 und 2005 von 53 auf nur noch 42 Prozent gesenkt worden. Dann sorgt die 2008 beschlossene 25prozentige Abgeltungssteuer dafür, dass höhere Einkommen ihre Kapitaleinkünfte nicht mehr mit dem persönlichen Steuersatz von bis zu 42 Prozent versteuern müssen. Schließlich ist auch die Erbschaftssteuer immer weiter reduziert worden, für Firmenerben unter bestimmten Voraussetzungen sogar auf null Prozent. All diese gesetzlichen Maßnahmen begünstigen die Wohlhabenden und, noch stärker, die Reichen. Die reale steuerliche Belastung der 450 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von damals neun Mio. Euro hat sich nach Untersuchungen des DIW allein zwischen 1998 und 2002 durch die Steuerreformen der ersten rot-grünen Bundesregierung von 41 auf 34,3 Prozent verringert (Bach u.a. 2008: 17).
Für die Einkommensverteilung in Deutschland liegen die Folgen auf der Hand. Die Anteile der oberen wie die unteren Einkommen nehmen auf Kosten der mittleren Einkommen (zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens) zu. Letztere haben von 1999 bis 2009 einen deutlichen Rückgang von 64,3 auf 58,7 Prozent erfahren, während die unteren Einkommen um mehr als ein Viertel von 17,7 auf 22,5 Prozent und die oberen Einkommen leicht von 18 auf 18,8 Prozent zugelegt haben (aktuelle Informationen des DIW). Im gleichen Zeitraum haben aber außerdem auch noch die Abstände zwischen den Medianeinkommen dieser drei Bevölkerungsgruppen zugenommen. Der Mittelwert der unteren Einkommen lag 1999 46,1 Prozent unterhalb des Mittelwerts der mittleren Einkommen. 2009 waren es bereits 48,3 Prozent. Bei den hohen Einkommen ist derselbe Prozess zu beobachten, nur in umgekehrter Richtung und noch ausgeprägter. Ihr Abstand auf die mittleren Einkommen ist in diesen zehn Jahren von 91,7 auf inzwischen 103,7 Prozent angewachsen (Goebel u.a. 2010: 5). Die Einkommenskluft hat sich gleich in doppelter Hinsicht deutlich vergrößert.
Die Einkommensunterschiede bei den Nettoeinkommen, also nach Steuern und Sozialabgaben, sind dabei erheblich schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen (inkl. Rentenzahlungen). Der Anteil der Haushalte mit hohen Einkommen hat zwischen 1998 und 2006 netto mehr als doppelt so stark zugelegt wie brutto, der der Haushalte mit niedrigen Einkommen sogar mehr als dreimal so stark (Goebel/Krause 2007: 828). Die Umverteilungswirkung des Sozial- und Steuersystems hat also ganz offensichtlich spürbar abgenommen. Das macht sich zusammen mit der massiven Reduzierung der Erbschaftssteuer auch bei der Vermögensverteilung deutlich bemerkbar. Auf das oberste Prozent der Bevölkerung entfallen mittlerweile 35,8 Prozent des Gesamtvermögens, allein auf das oberste Promille 22,5 Prozent (Bach/Beznoska/Steiner 2011: 11). Das entspricht fast US-amerikanischen Verhältnissen, wo auf das oberste Prozent der Bevölkerung ca. 40 Prozent des Vermögens entfallen.
Mehr Bildung tatsächlich die Lösung?
Die große Mehrheit der politischen Elite wie auch der anderen Eliten präsentiert angesichts dieser Entwicklung immer dieselbe Lösung: mehr Bildung. Bildung stellt für sie so etwas wie ein Passepartout für die ungelösten und an Schärfe immer weiter zunehmenden Verteilungsprobleme dar. Dass Bildung ein wichtiger Faktor bei der Vermeidung von Armut und Arbeitslosigkeit ist, soll hier nicht bestritten werden. Wie die hohe Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen in den südeuropäischen Ländern zeigt, darf die Wirkung von Bildung aber auch nicht überschätzt werden. Außerdem ist in Bezug auf Bildungswege und -abschlüsse in Deutschland dieselbe Entwicklung zu beobachten wie in Hinblick auf die Einkommen. Die Spaltung nimmt bei ihnen ebenfalls deutlich zu.
Viele Beobachter erwarteten nach der öffentlichen Diskussion über die PISA-Ergebnisse Anfang des letzten Jahrzehnts, dass sich die politischen Anstrengungen darauf richten würden, die im internationalen Vergleich sehr enge Bindung zwischen Bildungsabschlüssen und sozialer Herkunft zumindest zu lockern. Die Entwicklung seither weist aber vielfach eher in die entgegengesetzte Richtung. Am deutlichsten wird das beim Übergang zum Gymnasium, der nach wie vor die entscheidende Weichenstellung im Bildungsverlauf markiert. Hier ist eine eindeutige Polarisierung zu konstatieren. Der Gymnasialbesuch ist entgegen dem allgemeinen Trend bei Kindern aus dem unteren Viertel der Bevölkerung zwischen 2003 und 2006 nicht gestiegen, sondern weiter gesunken, und zwar von 12,5 auf 11,6 Prozent. Beim oberen Viertel gab es demgegenüber eine nochmalige Steigerung von 58,6 auf 59,7 Prozent. Genau umgekehrt verhält es sich bei den Hauptschulen, die nur noch von 7,1 Prozent der Kinder aus dem oberen Viertel, aber von 36,8 Prozent der Kinder aus dem unteren Viertel besucht werden. Dieser Trend zur Polarisierung zeigt sich auch bei der mittleren Hälfte der Bevölkerung. Hier gibt es sowohl bei den Hauptschülern als auch bei den Gymnasiasten einen Zuwachs, und zwar auf Kosten der Realschule als mittlerem Schultyp (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 247).
Grundsätzlich gilt: Je kürzer die gemeinsame Schulzeit ist, desto stärker schlägt die im familiären Zusammenhang erworbene oder eben auch nicht erworbene Bildung zu Buche. Kinder aus den "bildungsfernen" Familien haben dann weniger Zeit, familiär bedingte Defizite auszugleichen. Arbeiterkinder, besonders die aus Migrantenfamilien, haben daher in der Regel einen Nachteil gegenüber Akademikerkindern. Für die unterschiedlichen Bildungschancen sind allerdings nicht nur die herkunftsbedingten Leistungsunterschiede verantwortlich, sondern ebenso auch die Tatsache, dass die für den Gymnasialbesuch erforderlichen schulischen Leistungen bei Kindern aus Arbeiterfamilien von den Lehrkräften deutlich schlechter bewertet werden als bei Kindern aus Akademikerfamilien. Die Lehrkräfte an den Grundschulen geben Akademikerkindern fast achtmal so häufig eine Gymnasialempfehlung wie Kindern un- und angelernter Arbeiter. Berücksichtigt man die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und in der Lesekompetenz zwischen diesen Schülergruppen, so verringert sich der Abstand zwar, er bleibt aber immer noch beim Viereinhalbfachen.
Auch hier ist zudem eine starke Polarisierung zu verzeichnen. 2001 reichten für ein Akademikerkind in der Lesekompetenz 551 Punkte für eine Gymnasialempfehlung, während ein Arbeiterkind es auf gut 600 Punkte bringen musste. Bis 2006 ist der Wert für das Kind eines Arztes oder eines höheren Beamten auf 537 Punkte gesunken. Für die Empfehlung reichte bei ihm nun eine Leistung aus, die nicht einmal dem Durchschnittswert aller Schüler von 548 Punkten entsprach. Die Kinder un- und angelernter Arbeiter mussten demgegenüber mit 614 Punkten deutlich bessere Leistungen als 2001 erbringen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Sie mussten jetzt ungefähr eine ganze Kompetenzstufe (von insgesamt nur fünf) besser sein als Akademikerkinder oder, anders ausgedrückt, ihnen mehr als eineinhalb Schuljahre voraus sein, um von den Lehrkräften ebenfalls als geeignet für den Besuch eines Gymnasiums gehalten zu werden. Zur Begünstigung durch die Lehrkräfte kommt dann noch hinzu, dass Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss ihrem Nachwuchs auch weniger zutrauen als Akademikereltern und deshalb dem Rat der Lehrer und Lehrerinnen folgen, wenn es um die Einschätzung der weiteren Schullaufbahn ihrer Kinder geht. Bei Eltern mit Hochschulabschluss oder hoher beruflicher Position sieht das ganz anders aus. So genügten Eltern mit Hochschulabschluss 2006 bereits 498 Punkte (530 Punkte 2001) auf der Skala der Lesekompetenz, um ihre Kinder für geeignet zu halten (Bos et. al. 2007: 19).
Als Konsequenz dieser Entwicklung findet man an den Hauptschulen und Realschulen eine erhebliche Anzahl von Schülern, die die Fähigkeit hätten, eine höhere Schulform zu besuchen. So erreicht jeder vierte der Haupt- und Realschüler Leistungen oberhalb des Realschul- bzw. Gymnasialdurchschnitts. Jeder vierte Hauptschüler und jeder zweite Realschüler ist sogar besser als das untere Viertel der Gymnasiasten (Uhlig u.a. 2009: 428 ff.). Die frühe Verteilung auf unterschiedliche Schultypen beinhaltet nicht nur erhebliche Fehleinschätzungen der Leistungen und eine gravierende soziale Schieflage, sie nimmt Kindern auch die Möglichkeit zu lernen. Bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen erreicht man von Klasse 7 bis Klasse 10 in der Mathematik auf dem Gymnasium einen Lernfortschritt von 91 Prozent, auf der Hauptschule dagegen nur einen von 41 Prozent, nicht einmal halb so viel (Veith u.a. 2009: 28). Die Chance, bei einer Leistungssteigerung später noch einen höheren Schulabschluss anzusteuern, ist zudem sehr gering. Die Wechselquote pro Jahr liegt gerade einmal bei drei Prozent. Was aber noch entscheidender ist. Es kommen auf einen, der den Aufstieg von der Realschule auf das Gymnasium schafft, zwölf, die den umgekehrten Weg gehen müssen. Wechsel bedeutet also ganz überwiegend Bildungsabstieg, nicht Bildungsaufstieg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 66).
Besonders betroffen von dieser Benachteilung sind die Kinder von hier lebenden Migranten. Nur gut jeder achte besucht ein Gymnasium. Fast die Hälfte eines Jahrgangs bleibt nach dem Ende der Pflichtschulzeit sogar ohne jegliche weitere Ausbildung. Hier schlägt sich besonders nieder, dass Kinder aus Migrantenfamilien seltener vorschulische Bildungseinrichtungen besuchen und diese für Kinder bis zu drei Jahren auch in völlig unzureichendem Maße zur Verfügung stehen. Gerade einmal 12 Prozent dieser Altersgruppe können in Westdeutschland, wo die überwiegende Mehrheit der Migranten wohnt, in eine Kindertageseinrichtung gehen. Deutsche Kinder nehmen das Angebot zudem fast doppelt so häufig in Anspruch wie Migrantenkinder. Bei den Kindern zwischen drei und sechs Jahren verbessert sich die Situation zwar erheblich, indem die generelle Besuchsquote auf ungefähr 90 Prozent steigt und sie bei Kindern aus Migrantenfamilien nur noch etwa ein Viertel niedriger als bei deutschen Kindern liegt. Angesichts der sprachlichen und sozialen Nachteile dieser Bevölkerungsgruppe ist das Angebot aber auch in dieser Altersgruppe unzureichend. Dies gilt vor allem für die im Durchschnitt zu kurzen Öffnungszeiten. Ganztägige Angebote existieren in Westdeutschland gerade einmal für ein Drittel der Kindergartenkinder (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 49 ff.; 235f.)
Generell haben die Kinder und Jugendlichen aus der unteren Hälfte der Bevölkerung deutlich schlechtere Bildungschancen. Das setzt sich beim Übergang ins Berufsbildungssystem fort. Von den deutschen Hauptschulabsolventen schaffen gerade einmal 48 Prozent den direkten Übergang in eine duale Ausbildung. Bei denen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, ist es sogar nur ein Viertel. Für die Jugendlichen aus Migrantenfamilien sieht es noch schlechter aus. Zwei Drittel der Hauptschulabsolventen und sogar 88 Prozent derjenigen, die keinen Abschluss geschafft haben, landen in staatlichen Übergangsmaßnahmen, deren Bildungsangebote unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen und zu keinen anerkannten Ausbildungsabschlüssen führen. Überraschend und ein Beleg für die begrenzte Wirksamkeit von Bildung ist aber, dass selbst bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen Realschulabschluss aufweisen, knapp ein Drittel keinen Ausbildungsplatz bekommt, sondern im Übergangssystem endet (ebd.: 99).
Diese Perspektiven schlagen sich dann folgerichtig in der Motivation der Hauptschüler nieder. Das gilt ganz besonders für städtische Ballungsgebiete mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil. Wenn dort aus den gesamten Abschlussklassen der Hauptschulen so gut wie niemand mehr einen Ausbildungsplatz bekommt, dann ist nicht verwunderlich, dass die Schüler sich auch nicht mehr sonderlich anstrengen. Es macht aus ihrer Sicht einfach keinen Sinn. Diese Einschätzung wird im Kern zunehmend auch von den Lehrern geteilt. Eine Befragung von Lehrkräften in den Jahren 2000 und 2011 zeigt ein drastisches Auseinanderdriften zwischen den Hauptschul- und den Gymnasiallehrkräften, was ihre Sicht auf die Zukunftsaussichten der jeweiligen Schülerschaft angeht. War 2000 jeweils ein Viertel der Meinung, die Perspektiven seien für diese besser als früher, und 42 (Gymnasium) bzw. 49 Prozent (Hautschule) hielten sie für schlechter, sieht es elf Jahre später vollkommen anders aus. Bei den Hauptschullehrern hat sich die Stimmung noch einmal, und zwar dramatisch verschlechtert. 60 Prozent sehen die Zukunft für ihre Schüler düsterer und nur noch 18 Prozent positiver. Bei den Gymnasiallehrern ist es genau umgekehrt. Nur noch ein Viertel schaut pessimistisch in die Zukunft, 43 Prozent dagegen optimistisch (Institut für Demoskopie Allensbach 2011: 15).
Gefahren und politische Folgerungen
Die geschilderten Tendenzen, sowohl in Hinblick auf Beruf und Einkommen als auch in Bezug auf die Bildungschancen, sind ein Alarmsignal. Deutschland droht dauerhaft eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft, weil die gesetzlichen Änderungen bei den Sozialleistungen und die Strukturen des Bildungssystems vielfach Hand in Hand greifen, und das nicht im positiven, sondern im negativen Sinne.
Die Hartz-Reformen haben nicht gehalten, was ihre Befürworter stets versprochen haben. Der Weg aus der Arbeitslosigkeit ist nicht leichter geworden, weder durch die Maßnahmen der Arbeitsagenturen unter dem Motto "Fördern und Fordern", noch durch die massive Ausweitung von befristeten Arbeitsverträgen und Leiharbeit. Wie aktuelle Untersuchungen des IAB zeigen, ist es von den Arbeitslosen, die als Leiharbeiter Beschäftigung fanden, gerade einmal sieben Prozent gelungen, in den nächsten zwei Jahren ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis außerhalb der Leiharbeit zu finden. Die Masse verblieb in der Leiharbeit oder wurde wieder arbeitslos (Lehmer/Ziegler 2010: 4). Fast jedes zweite Arbeitsverhältnis, das arbeitslose Hartz-IV-Empfänger antraten, war binnen eines halben Jahres schon wieder beendet und ebenfalls fast jedes zweite musste aufgrund der geringen Löhne durch Leistungen der Arbeitsagentur aufgestockt werden (Koller/Rudolph 2011: 3). Außerdem hat nur jeder achte Geringverdiener innerhalb der nächsten sechs Jahre den Ausstieg aus dem Niedriglohnsektor geschafft (Schank u.a. 2008: 5). Ganz generell stellen Fehr und Vorbruba in ihrer Untersuchung der Hartz-Reformen fest: "Seit der Hartz-Reform haben sich die Arbeitslosigkeitsepisoden der Sozialtransferbezieher nicht verkürzt. Im Gegenteil verweilen Alg-II-Bezieher bei Berücksichtigung soziodemografischer Effekte und der Arbeitsmarktsituation eher länger in Arbeitslosigkeit als Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher vor der Einführung des SGB II." (Fehr/Vobruba 2011:216)
Im Bildungsbereich sieht es nicht ganz so düster aus. Die Hauptschule als Restschule wird mittlerweile fast überall, selbst in der CDU, in Frage gestellt und durch neue integrierte Modelle ersetzt, die sie mit der bisherigen Realschule und der Gesamtschule kombinieren. Allerdings gibt es hier enorme Unterschiede in der länderspezifischen Umsetzung. Es gibt Varianten wie in Nordrhein-Westfalen, die nur bis zur 10. Klasse reichen, das Abitur also ausschließen, und Varianten, die wie etwa in Hamburg auch das Abitur ermöglichen. Was allen gemein ist, das ist allerdings die Bestandsgarantie für das Gymnasium. Eine Zweiteilung wird also in jedem Falle beibehalten. Wie scharf sie ausfallen wird, das muss man abwarten. Außerdem besteht die Gefahr, dass die alte Dreigliedrigkeit zumindest teilweise auf dem Weg der Sonderschulen wieder Einzug hält. Ein Blick auf die neuen Bundesländer, die die Hauptschule nicht kennen, lässt das Problem erahnen. Dort besuchen mittlerweile fast sieben Prozent der Schüler eine Sonderschule, mit Spitzenwerten von knapp zehn Prozent (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 70). Sie ist damit auf dem besten Weg, die neue Restschule zu werden.
Deutschland gehört international mittlerweile zu den wenigen Industrieländern, die sowohl ein sozial stark selektives Bildungssystem als auch eine eher restriktive Handhabung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen aufweisen. Dabei zeigt die Analyse, dass die Verknüpfung großzügiger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen mit einem durchlässigen Bildungssystem die besten Perspektiven für gesellschaftlichen Fortschritt bietet (Allmendinger/Nikolai 2010: 116f.). Was bei einer Fortsetzung der bisherigen Sozial- und Bildungspolitik dagegen zu erwarten ist, zeigen die bisherigen Ausführungen. Außerdem hat die Spaltung der Gesellschaft auch Konsequenzen für die Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen. Die Wahlbeteiligungen signalisieren das mehr als deutlich. Sie gehen ja nicht einfach ganz allgemein zurück, die Quote hängt vielmehr außerordentlich stark von der sozialen Lage ab. Wie Wahlanalysen immer wieder bestätigen, ist in den bürgerlichen Stadtteilen kaum ein Rückgang zu verzeichnen, in den sogenannten "sozialen Brennpunkten" dafür ein umso größerer. Lag die Differenz zwischen diesen Wahlbezirken früher bei zehn Prozent, beträgt sie bei Bundestagswahlen mittlerweile 50 bis 70 Prozent und bei Landtags- und Kommunalwahlen teilweise sogar mehr als 100 Prozent (Schäfer 2009). Wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter, ist damit zu rechnen, dass dieser Prozess voranschreitet, dass die Verlierer der Entwicklung sich noch stärker als bisher politisch abstinent verhalten werden.
Um solche Entwicklungen zu verhindern oder zumindest zu bremsen, müsste zunächst der Konsens durchbrochen werden, der in den letzten zehn Jahren innerhalb der Eliten, nicht zuletzt aufgrund ihrer zunehmenden Homogenisierung, wie auch in großen Teilen der intellektuellen und bürgerlichen Kreise zu beobachten war (Hartmann 2010; 2012). Die Verteilungsfrage ist (gerade angesichts der Finanzkrise und ihrer Folgen) im Gegensatz zur dort vorherrschenden Meinung kein Thema von gestern, die Hartz-Reformen sind keine Erfolgsgeschichte und das Gymnasium ist keine sakrosankte Institution. Das wäre ein Anfang für eine produktive Diskussion über gesellschaftlichen Fortschritt. Findet sie nicht statt, kann es sein, dass wir in Deutschland in zehn oder 15 Jahren eine Debatte über Jugendunruhen und ihre Ursachen führen müssen, wie sie aktuell in Großbritannien Politik und Medien beherrscht.
Literatur:
Die zwei Seiten des Sozialstaats im internationalen Vergleich, Soziale Welt, Jg. 61, H.1, 105-119 [PDF - 456 KB]Hinweis:
Michael Hartmann ist Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Elitesoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie sowie Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.
Er hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.
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