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Eigentum und Macht
Vorabdruck. Zur Struktur der herrschenden Klasse
Am 8. Oktober 2011 fand in Osnabrück eine gut besuchte Tagung der Marx-Engels-Stiftung zum Thema »In welchem Kapitalismus leben wir?« statt. Die Beiträge der Referenten der Konferenz – Werner Seppmann, Lucas Zeise, Beate Landefeld und Arnold Schölzel – erscheinen nun im kommenden Heft der Marxistischen Blätter (Titel: »Erfurter Programme«; bestellbar unter: www.marxistische-blaetter.de). jW veröffentlicht eine gekürzte Fassung von Beate Landefelds Text zur Struktur der herrschenden Klasse in der BRD vorab.
Märkte verlieren den Glauben in die Politik«, lautete am 18. Juli eine Schlagzeile des Handelsblatts. Meist schreibt die bürgerliche Presse, daß die Märkte die Politik »vor sich hertreiben«. Beides trifft in gewisser Hinsicht zu, denn der Kapitalismus kommt ohne die Krücke massiver staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen schon lange nicht mehr aus, und andererseits ist auch der monopolistische und staatsmonopolistische Kapitalismus keine planbare Wirtschaft. Vielmehr geht die zunehmende Vergesellschaftung und Internationalisierung der Produktion mit mehr Krisenanfälligkeit und einem Verlust an Kontrollierbarkeit einher.
Marx und Engels sprachen vom Widerspruch zwischen der Planung im Betrieb und der Anarchie in der Gesellschaft des Kapitalismus. Die herrschenden Klassen sind sowohl Akteure als auch Getriebene dieser Anarchie. Das spiegelt sich heute vor allem im »Diktat der Finanzmärkte«. Die herrschende Klasse »herrscht« also nicht uneingeschränkt. Das Privateigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln ist das Haupthindernis für eine demokratische Kontrolle und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung. Radikale Kapitalismuskritik und revolutionäre Politik können daher die konkrete Analyse der Eigentumsstrukturen nicht umgehen.
Marx bezeichnet das Kapital manchmal als »automatisches Subjekt«, um den Kontrollverlust der Menschen über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse zu betonen. Er zeigt zugleich auf, daß das Kapital als »sich selbst verwertender Wert« oder »Geld heckendes Geld« an bestimmte historisch-soziale Voraussetzungen gebunden ist. Daß Geld zu Kapital werden kann, setzt die Existenz zweier sozialer Klassen voraus, von denen die eine die Produktionsmittel besitzt und die andere gezwungen ist, für ihren Lebensunterhalt ihre Arbeitskraft stets aufs neue zu verkaufen. Die privaten Produktionsmittelbesitzer nennt Marx »personifiziertes Kapital«, Kapitalisten, Bourgeoisie oder auch einfach »Charaktermasken des Kapitals«.
Gruppen der Bourgeoisie
Schon Marx und Engels unterschieden zwischen Eigentum und Verfügung, vor allem beim »Gesellschaftskapital« in der Unternehmensform der Aktiengesellschaft. Große Unternehmen und Unternehmensgruppen übersteigen die Kapitalmobilisierungsfähigkeiten des Einzelkapitalisten. Anteilseigner – Marx nennt sie auch »kollektive Kapitalisten« – müssen nicht zugleich fungierende Kapitalisten sein. Dafür setzen sie meist Beauftragte, kapitallose Funktionäre ein, die heute als Manager bezeichnet werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysierten Rudolf Hilferding und W.I.Lenin das Finanzkapital, das aus der Verschmelzung oder dem Verwachsen des monopolisierten Industrie- und Bankkapitals hervorgeht, mit der Finanzoligarchie als der führenden Gruppe der »Entscheider«. Als Hebel der Zentralisation machen sie das Beteiligungssystem aus, in dem Minderheitsanteile genügen, um große Unternehmen unter Kontrolle zu bringen. Daraus ergeben sich Konkurrenzkämpfe innerhalb der Monopole um die Macht in den Großunternehmen, Übernahmeschlachten und der Handel mit Unternehmenskontrolle.
Später leiteten die US-Soziologen Adolf August Berle und Gardiner C. Means aus der Trennung von Kapital und Management die These von der »Managerherrschaft« ab, die die Herrschaft der Eigentümer etwa in der Hälfte der US-Betriebe abgelöst habe. Vulgarisierungen der These von der Managerherrschaft kursieren in der BRD in den 60er Jahren, oft in Verbindung mit einer Theorie von der »Konvergenz der Systeme«. Marxisten kritisierten dies als Verschleierung von Klassenherrschaft.
Eine empirische Studie zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht in den 100 größten Konzernen der BRD kommt 1965 zu dem Ergebnis: »Nicht die Vorherrschaft oder gar Alleinherrschaft von Privateigentümern, von Privatmanagern oder von Beauftragten der öffentlichen Verwaltung, sondern das Nebeneinander dieser drei ist das für die gegenwärtigen Kontrollverhältnisse repräsentative Phämonen.«1 Die Soziologin Helge Pross unterscheidet zwischen Eigentum und Kontrolle. Unter Kontrolle versteht sie, »die Macht zu haben, das Management ein- oder abzusetzen«.
Diese Macht wird in Konzernen meist von Großaktionären ausgeübt, gegebenenfalls in Abstimmung mit Gläubigerbanken oder weiteren Haltern von Stimmrechten. Fehlen große Eigentümer, wie bei Gesellschaftskapital in Streubesitz, dann liegt Managerkontrolle vor. Hierbei kontrollieren Spitzen von Unternehmen, Vertreter von Versicherungen und Fonds, Geschäftspartner und Beauftragte von Gläubigerbanken sich gegenseitig. Über die personelle Zusammensetzung der Führungsgruppen managerkontrollierter Unternehmen hat ein bekannter, berufsmäßiger Opponent auf Aktionärshauptversammlungen in Deutschland einmal treffend geäußert: »In jeder Hauptversammlung trifft man auf die gleichen Gesichter, von denen man weiß, daß sie sich gegenseitig zu Amt und Würden verhelfen.«2
Streubesitz bedeutet also keinesfalls »Aktionärsdemokratie«. Verschiedene Faktoren wirken vielmehr dahin, daß Streubesitz in Aktiengesellschaften zur Oligarchisierung der Kontrolle führt. Die Passivität und Unkoordiniertheit der Kleinaktionäre, die die Führung der Firma »Experten« überlassen, ermöglicht es Banken und anderen Stimmrechteeinsammlern, Stimmrechte in ihren Händen zu bündeln. Zugleich ist die Präsenz von Stimmberechtigten auf den Hauptversammlungen umso geringer, je größer die Streuung des Aktienbesitzes ist.3 Es genügen vergleichsweise geringe Anteile, um über die Mehrheit zu verfügen. So werden auf Hauptversammlungen mit Tausenden Teilnehmern die Vorschläge der Unternehmensleitung fast ausnahmslos mit 95 bis 99 Prozent Stimmenmehrheit abgesegnet.
Allgemein treten je nach dem Grad der Zersplitterung der Anteile Eigentum und Verfügung in unterschiedlichem Maße auseinander. Daraus ergeben sich unterschiedliche Typen von Kontrolle. Sie sind nicht immer in reiner Form anzutreffen. Zwischen ihnen gibt es Mischformen. So unterscheidet etwa Helge Pross zwischen Managerkontrolle und »bedingter Managerkontrolle«. Letztere ist anzutreffen, wenn ein großer Minderheitsaktionär über eine Vetomacht verfügt, die das Management zur Konsultation wichtiger Entscheidungen zwingt. Eine andere Mischform ist die »Kontrolle durch mehrere Minderheiten«, der Helge Pross auch die Genossenschaften zuordnet.
Von einer gemischten Zusammensetzung der ökonomisch herrschenden Klasse geht 1979 auch Heinz Jung (vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, IMSF) aus: »Mit dem Wachsen der Konzentration und Monopolisierung ist (…) zum einen die Managerfraktion der Bourgeoisie und Monopolbourgeoisie und zum anderen mit dem Ausbau des staatsmonopolistischen Kapitalismus die bourgeoise Gruppe im staatlichen Bereich gewachsen. Wesentlich ist auch für die gesamte Nachkriegsperiode der der ökonomischen Verflechtung entsprechende Einfluß der Fraktion des ausländischen Kapitals. (…) Sowohl bei den Managern als auch bei den bourgeoisen Gruppen des Staatsapparats handelt es sich um jeweils kooptierte und aggregierte Gruppen der Bourgeoisie und Monopolbourgeoisie, die erst in dem Maße einen festen (und erblichen) Platz in ihr erhalten, wie sie in der Lage sind, kapitalistisches Eigentum zu bilden und kraft Eigentumstiteln Verfügung über das Mehrprodukt zu erlangen.«
Wie bei Pross findet sich auch bei Jung das Nebeneinander der drei Gruppen: Privateigentümer, Manager und staatliche Wirtschaftsfunktionäre, wobei die Rolle des Privateigentums als sozialer Rekrutierungsbasis für die »kooptierten und aggregierten Gruppen« der Manager und staatlichen Wirtschaftsfunktionäre betont wird: Die Eigentumsbindung von Managern und staatlichen Funktionären ist – trotz Aktienoptionen – schwächer. Sie sind grundsätzlich auswechselbar.»Restauration von Klassenmacht«
Wie hat sich die Zusammensetzung in den letzten 30 Jahren verändert, in denen sich der »finanzmarktgetriebene Kapitalismus« entfaltet hat? Unter »finanzmarktgetriebenem Kapitalismus« wird hier verstanden: die spezifische Regulierungsweise, die sich bei den Bourgeoisien der reichen Länder als Ausweg aus der chronischen Überakkumulationskrise seit Mitte der 70er Jahre durchgesetzt hat, zunächst unter Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA, in den 90er Jahren auch in Deutschland. Es gibt dafür auch andere Namen, wie, z.B., »finanzdominiertes Akkumulationsregime« oder »neoliberales Wachstumsmodell«.
Charakteristika sind: vorrangige Weltmarktorientierung (Globalisierung), Deregulierung, Privatisierung, Umverteilung von unten nach oben. Im Vergleich zu dem stärker an den Lehren von John M. Keynes orientierten Akkumulationsregime in der Zeit von 1945–1975 war das finanzdominierte Regime ein reaktionärer Ausweg aus der Erschöpfung des Keynesianismus und Ausdruck eines stark zu Ungunsten der Arbeiterklasse veränderten Kräfteverhältnisses im Ergebnis schwerer politischer Niederlagen der Arbeiterbewegung im nationalen und internationalen Maßstab.
Für einen Langzeitvergleich der Eigentümerstruktur in der BRD konnten Daten für drei Stichjahre herangezogen werden. Für 1958 gibt es die Ergebnisse der Helge-Pross-Studie, für 1985 und 2008 eigene Recherchen. Die Eigentümerstruktur bei den 100 größten Konzernen in Handel und Gewerbe weist 2008 die gleiche Mischung von Kontrolltypen auf, wie sie Helge Pross 1958 festgestellt hat und wie sie Heinz Jung 1979 als Gruppen oder Fraktionen der Bourgeoisie beschreibt – aber es gibt deutliche Verschiebungen zwischen den Gruppen.
Nach Umsatzanteilen am Gesamtumsatz der 100 waren 2008:
– unter Clankontrolle (Kontrolle von Privateigentümern oder Unternehmerdynastien) 36,5 Prozent,
– unter Managerkontrolle 26,3 Prozent,
– staatlich kontrolliert 14,3 Prozent und
– ausländisch kontrolliert 18,2 Prozent.
Ein Vergleich zwischen 1958 – 1985 – 2008 zeigt folgende Verschiebungen: Von 1958 bis 1985 verringert sich der Anteil der Clankontrolle (von 22 auf 16,75 Prozent), und es steigt der Anteil der staatlichen Kontrolle (von 13 auf 22,56 Prozent). Das ist eine Verschiebung in der Richtung »mehr Staat und weniger privat«. Von 1985 bis 2008 läuft es umgekehrt: Es gibt eine Verschiebung von der staatlichen zur Clankontrolle, in der Richtung »mehr privat und weniger Staat«. Der Umsatzanteil clankontrollierter Unternehmen schnellt nach oben, er verdoppelt sich bis 2008 im Vergleich zu 1985 und ist selbst gegenüber 1958 um 65 Prozent gestiegen. Dagegen sinkt der Staatsanteil annähernd auf das Niveau von 1958.
Der Umsatzanteil der Konzerne unter Managerkontrolle unterliegt demgegenüber in den drei Stichjahren weniger großen Schwankungen (von 22 über 31 auf 26 Prozent), und der Anteil ausländisch kontrollierter Unternehmen bleibt 1958 – 1985 – 2008 fast völlig konstant bei etwa 18 Prozent (siehe Tabelle). Die Monopolkommission kam in ihrem 17. Hauptgutachten für 2006 auf einen Umsatzanteil ausländisch kontrollierter Unternehmen (inklusive Finanzsektor) von 19 Prozent an den Umsätzen aller Unternehmen.
Neben der Gewichtung der Kontrolltypen zeigen die Daten eine stetig fortschreitende Zentralisierung des Eigentums unter den 100 Unternehmen an der Spitze: Waren 1958 nur acht davon unter der Kontrolle eines anderen inländischen Unternehmens auf der Liste der 100 größten, so sind es 1985 schon 17 und 2008 sogar 32. Dazu kommen 14 hundertprozentige Töchter ausländischer Monopole. Über den Eisberg unter dieser Spitze geben die Zahlen des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn (IfM) Auskunft, wonach Jahr für Jahr über 61 Prozent der Umsätze von nur 0,3 Prozent der steuerpflichtigen Unternehmen erbracht werden, während 99,7 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) die übrigen knapp über 38 Prozent der Umsätze erwirtschaften.
Unter den kontrollierenden Großeigentümern 2008 sind viele, die schon im vorigen Jahrhundert zu den bekannten deutschen »Unternehmerdynastien« zählten: Porsche/Piech, Quandt, Haniel, Heraeus, Oetker, Otto, Henkel, die ALDI-Brüder, Schwarz/Lidl usw. Die starke Stellung der Clans in deutschen Konzernen wird durch eine Gegenprobe unterstrichen: Eine Untersuchung der Vermögensquellen der 122 deutschen Milliardäre des Jahres 2008 (nach der Liste des Managermagazins) ergibt, daß es zwischen großem Reichtum und Konzerneigentum in der BRD eine relativ starke Überschneidung gibt.
In Zahlen: Von den 122 Milliardären der BRD waren 83 Eigentümer oder Großaktionäre von mindestens einer der 500 größten Firmen in Handel und Gewerbe. 15 weitere besaßen Firmen, die die Umsatzschwelle der 500 (1,1 Milliarden) zwar nicht erreichten, aber zu den 0,3 Prozent Großunternehmen zählen, welche über 61 Prozent aller Umsätze tätigen. Bei den Milliardärsclans gibt es Familienholdings mit oft Hunderten Gesellschaftern, die manchmal mehr als hundert Firmen direkt und indirekt kontrollieren.4 David Harveys Definition des Neoliberalismus als »Restauration von Klassenmacht« trifft auf die BRD im wahrsten Sinne des Wortes zu, wie die Verschiebung zugunsten der ökonomischen Macht der Clans zwischen 1985 und 2008 zeigt.
Banken und Versicherungen
Die Eigentümerstruktur des deutschen Finanzsektors sah 2008 so aus: Bei den 50 größten Banken gehören neun direkt und indirekt zu den beiden größten, Deutsche Bank und Commerzbank. Die Deutsche Bank ist im Streubesitz und unter Managerkontrolle, die Commerzbank hat den Staat als größten Aktionär. Drittgrößte Bank ist die Hypovereinsbank, Tochter der italienischen Unicredito. 22 der 50 größten Banken sind staatliche Banken, sieben genossenschaftlich. Unter ausländischer Kontrolle befinden sich acht der 50.Read more at www.jungewelt.de
Bei den 30 größten Versicherungen stellen Allianz und MünchnerRück mit ihren Töchtern etwa ein Drittel, beide in Streubesitz. Ein weiteres Drittel sind Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Acht sind Töchter ausländischer Versicherungsmonopole, wie AXA, Generali etc.
Der Finanzsektor dürfte heute den größten Teil der staatlichen Gruppe der Bourgeoisie stellen: in staatlichen Banken, in staatlichen Institutionen des Finanzsektors wie Bundesbank, Steuer- und Aufsichtsbehörden, in Form der deutschen Vertreter in Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und anderen internationalen Gremien des Finanzsektors. Zugleich ist eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Staat und den großen privaten Banken und Versicherungskonzernen dadurch gegeben, daß letztere »systemrelevant« für die Reproduktion des Gesamtkapitals, für die Staatsfinanzierung und für die Finanzierung der Sozialsysteme sind.
In der Krise hat die Bundesregierung die privaten Großbanken und Versicherungen entlastet und sich aktiv an der weiteren Monopolisierung des Bankensektors beteiligt: Die Allianz wurde von der maroden Dresdner Bank entlastet. Diese wurde der Commerzbank zugeschoben, die durch den Bund als Großaktionär stabilisiert wurde. Die Deutsche Bank erhielt die Postbank und konnte das Bankhaus Sal. Oppenheim schlucken, nachdem es durch die Arcandor-Pleite insolvent geworden war. Auch beim Einsatz von Rettungsfonds und Rettungsschirmen, die die Zentralisierung des Eigentums mitgestalten, arbeiten Finanzwirtschaft und Staat auf klassisch staatsmonopolistische Weise Hand in Hand.
Industrie, Handel und Finanzwirtschaft der BRD sind monopolistisch strukturiert. Die Gruppen an ihrer Spitze sind miteinander und mit dem Staat »bestens verdrahtet«. Sie kooperieren in offiziellen und inoffiziellen Gremien, Verbänden und Netzwerken. Das, was gemeinhin als »Auflösung der Deutschland AG« bezeichnet wird, darf nicht mit einer Auflösung der deutschen Bourgeoisie verwechselt werden. Es war eine Anpassung der deutschen Bourgeoisie an die Bedingungen einer verstärkten Weltmarktorientierung, die sie mit der Unterstützung des Staates und auf Kosten von früher eingegangenen Klassenkompromissen vollzogen hat. (…)Parasitismus im Quadrat
Mit Sicherheit kann in der BRD von einer Machtverschiebung zugunsten des großen privaten Geldkapitals ausgegangen werden. Sie spiegelt sich in der Zentralisation von Konzerneigentum. Sie ist nur im Zusammenspiel mit Banken möglich, die Fusionen und Übernahmen mit einfädeln und als Gläubiger mitreden. Personelle Verflechtung in den Aufsichtsräten kommt hinzu.
Die parasitären Aspekte der Verschmelzung von Industrie-, Handels- und Bankkapital haben sich potenziert: in Form der internationalen Spekulation, in die nicht nur private Vermögen, sondern auch Konzerne und Gebietskörperschaften involviert sind; sowie in Form der Sozialisierung von Verlusten mit Hilfe des Staates. Zu Recht spricht Gretchen Binus im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Kapitalismus von »Parasitismus im Quadrat«.
Der Stamokap wurde durch das neoliberale Regime nicht abgelöst, sondern erfuhr eine andere Ausprägung. Wie wirkt in diesem Zusammenhang die »Transnationalisierung«? Allgemein: Die gleiche Vergesellschaftungstendenz, die das Eingreifen des Staates in den Wirtschaftsprozeß zur dauernden Erscheinung macht, drängt auch zur immer stärkeren Internationalisierung der Produktion. Da diese unter dem Kommando des Kapitals erfolgt, entstehen daraus neue Widersprüche: Einerseits wurde und wird der Staat gebraucht, um durch neoliberalen Umbau, beim Krisenmanagement und in den zwischenstaatlichen Beziehungen die »Wettbewerbsfähigkeit« der eigenen Monopole auf dem Weltmarkt zu stützen, andererseits untergräbt die Weltmarktspontaneität die Regulierung auf der nationalen, im Fall der EU auch auf der regionalen Ebene.5
Die Staaten haben durch die Schaffung neuer und den Ausbau alter Gremien des internationalen Krisenmanagements versucht, diesen Widerspruch zu lösen. G7 und G8 entstanden im Gefolge der Krise 1974/75, G20 in der aktuelle Krise. Über die Funktion solcher Gipfel sagte der frühere US-Präsidentenberater Kissinger 1978 in einem Handelsblatt-Interview (vom 30.6./1.7.1978): »Die Idee von Wirtschaftsgipfeln geht auf die Überlegung zurück, daß die Führer des Westens ihren Völkern Vertrauen einflößen, ihren Völkern das Gefühl geben müssen, daß sie die Entwicklung im Griff haben, die demokratischen Industrienationen immer noch Herren ihres Schicksals und nicht Opfer blind wirkender Kräfte sind.«Konkurrenz gegen Regulierung
Eine effektive internationale Regulierung erfordert, daß Konkurrenten mit unterschiedlichen Interessen und Staaten mit je spezifischer Ausprägung des Stamokap ihre Einzelinteressen dem kapitalistischen Gesamtinteresse unterordnen. Gegenwärtig gelingt dies den reichen kapitalistischen Weltmächten nicht. Die BRD ist nicht bereit, ihre allein auf Exportweltmeisterschaft zugeschnittene »Stabilitätspolitik« zu relativieren und mehr für den Binnenmarkt zu tun, während die USA und Großbritannien sich in die Regulierung ihres Finanzsektors nicht hineinreden lassen. Eine Reihe von teils schon länger, teils erst seit kurzem wirkenden Faktoren sind für diesen Rückgang an Kooperationswillen verantwortlich. Dazu gehört der Wegfall der zähmenden Wirkung der Systemkonkurrenz, das Bröckeln der US-Hegemonie auf ökonomischem Gebiet wegen ihrer eigenen wirtschaftlichen Probleme, ein gewisses Auftrumpfen der größer gewordenen und ökonomisch gestärkten BRD, die sich auf wirtschaftlichem Gebiet von den USA nicht mehr belehren läßt, und der Aufstieg der Schwellenländer als Konkurrenten und zugleich Expansionsziele der reichen imperialistischen Zentren.
Die These, die Herausbildung transnationaler Konzerne habe zu einer Transnationalisierung des Eigentums und darauf basierend zu einer transnationalen Bourgeoisie geführt, bei der die kollektiven Interessen die überwiegenden seien, läßt sich empirisch nicht belegen.6 Sie kann auch nicht erklären, weshalb die internationale Regulierung es seit Jahrzehnten nicht schafft, die schroffen Ungleichgewichte abzubauen, die die kapitalistische Weltwirtschaft immer anfälliger und schwerer kontrollierbar machen.
Theoretisch blendet sie aus, daß unter kapitalistischen Bedingungen der letztlich entscheidende Regulierungsmechanismus die Konkurrenz ist, daß die einzelnen Unternehmen wie auch die Länder sich ungleichmäßig entwickeln, und daß Kompromisse zwischen ihnen Stärkeverhältnisse widerspiegeln, welche wiederum veränderlich sind.Anmerkungen
1 Helge Pross, Manager und Aktionäre in Deutschland. Untersuchungen zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht. EV Ffm 1965, S. 115f.
2 Kurt Fiebig zitiert nach Wikipedia, Stichwort Deutsche Bank
3 Auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank 2011 nahmen 30 Prozent des stimmberechtigten Kapitals an den Abstimmungen teil. Es genügten theoretisch 16 Prozent für die Mehrheit.
4 Vgl. »Vermögensquellen deutscher Milliardäre«: www.alice-dsl.net/maschessen/Eigentuemer.html
5 Zu den Widersprüchen in der EU vgl. Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. Köln 2010 sowie: B. Landefeld, Europäisiert sich die Bourgeoisie? Marxistische Blätter 1–2010
6 Da hilft auch nicht Leo Mayers Verweis auf die ausländischen Aktionäre der Deutschen Bank (in Marxistische Blätter 2-2011). 46 Prozent der Deutschen Bank sind in inländischem Besitz, gefolgt von 13 Prozent in US-Besitz und fünf Prozent im Besitz von Schweizer Aktionären. Auf der Hauptversammlung 2011 waren 30 Prozent der Stimmberechtigten vertreten. 16 Prozent des Kapitals hätten also für Mehrheitsentscheidungen genügt. Real stimmten jeweils 90–99 Prozent der Anwesenden (27–30 Prozent des Kapitals) für die Vorschläge des Managements.
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