Montag, 15. August 2011

"Es geht, (...), #den #wenigsten #Studierenden #um #Wissen #als #solches (...)" [Grundrisse - Heft 29]

"(...)Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte – Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. (...)"

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Torsten Bewernitz: Das Sein verstimmt das Bewusstsein

Soundtrack: Daddy Longleg: „Crime“



„we never said we know a simple
way

we never said that everything's okay

so fuckin governments shut up

so goddamn know-it-alls piss off



who the fuck knows what's going on

who brings the food, the streets, the goods

we are the workers, we know what's going on

we should know how to organize!”



(von „Barricadas”, Falling Down
Records 2007)

Um kaum einen Begriff
ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien,
Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome – unisono
heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse
notwendig.

Insbesondere unter
Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von
Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge
sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei
dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der
Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich
als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem
Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und
vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von ‚Bewusstsein’ definiert den
Begriff als ‚politisch’. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über
die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal
erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein
Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als ‚nationales
Bewusstsein’ artikuliert.

Für Intellektuelle und
Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren
eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien
zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von ‚Bewusstsein’ zu
verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben
viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und
wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass
unsere ‚Politik’ für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich
Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.

Daran ist weniger falsch,
als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete
Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung
für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln,
würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das
Bewusstsein der Intellektuellen.

Allein: Vorträge etwa über
die ‚Globalisierung’, Bewegungen am anderen Ende der Welt oder
Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur
angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der
WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen
größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu
sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine
Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um
eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu
solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben,
das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben:
Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation
besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein
Buch über ‚Globalisierung’ lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf
mein Leben hat. Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es
ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das
Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung
keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen
Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht
oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser
Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund
meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner
Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben.
Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung
als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die
ReferentIn den anderen Anwesenden ein ‚falsches Bewusstsein’ vermitteln könnte.


Das setzt voraus, dass wir
unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn
die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei
aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn
auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie
jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen,
dann halten wir das für („notwendig falsches“) Bewusstsein. Unser Sein als
Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen
bestimmt.

Vielleicht aber haben
unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett,
hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein
freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben
Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine
Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht,
Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke
Ideologie.

Das zeigt den Fehler an
der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines
Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr
Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser
Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen
halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.

Das ist schlichtweg
arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon
auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben
(das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses
mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen- Wissen
Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein
und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die
studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer
mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die
ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht- Studis oder
Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.

Die ‚linken’
Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen
wollte, ‚um Dinge umzusetzen’. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher
schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee –und die kam nicht aus dem
Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten
Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte.
Darüber hinaus vermuten ‚linke Intellektuelle’, alle würden deswegen studieren,
sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle. Studieren nicht die Meisten
eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut
dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um
Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es
einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte – Lehrer,
Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer
Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV
finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als
der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision ‚Hartz IV kriegen oder
Superstar werden’ ist?

Jener Hauptschülerin, die
irgendwann einmal auf einem Privatsender auftauchte, wird das Bewusstsein
abgesprochen, dass der autonome Kommunenbewohner in Scheinselbständigkeit haben
soll. Sie basht Intellektuelle, argumentiert populistisch und wird vielleicht
‚rechts’. Hat sie deswegen weniger Bewusstsein? Nein!

Wie viele ökonomische –
und auf die kommt es an – linke Projekte scheitern genau daran? Weil Leute erst
gar nicht mitmachen, weil der Scherbenhaufen ein Desaster nicht nur für eine
Person, sondern für ein reales, ökonomisches Kollektiv – sei es eine Familie
oder eine Kommune - ein Desaster darstellen könnte? Nicht umsonst betont z.B.
die Streikforschung, dass über einen Streik nicht auf der Betriebsversammlung,
sondern am Küchentisch entschieden wird, weil von einem ausbleibenden Lohn oder
einer Entlassung nicht nur eine Person betroffen ist. Junge Linke, die
vielleicht noch andere Finanzierungsquellen haben – sei es, dass sie immer
wieder einen neuen Job finden oder aber Mama und Papa in der Hinterhand haben –
spüren diese Bedrohung nicht dermaßen: Und darum ist die moderne Linke ein
Jugendphänomen. Linke ökonomische Projekte scheitern oft genau an diesen
verschiedenen Ansprüchen: Sobald eine ökonomisch attraktivere Lösung in
Griffweite ist, ist das kollektive ökonomische Projekt von gestern: Man ist ja
nicht weg, sondern immer noch in der Antifa, bei dem Anti-Atom- oder
Kriegstreffen oder im Theoriezirkel und konstatiert dann am besten noch ein
mangelndes Bewusstsein derjenigen, die dort nicht sind. Man ist enttäuscht von
den GenossInnen, die bei der letzten Hausbesetzung oder Demo nicht dabei waren.
Vielleicht waren sie ja arbeiten um sich oder ein Kollektiv zu ernähren? Erst
kommt das Fressen, dann die Moral.

Deswegen muss die Frage
erlaubt sein: Wie gehen die, die studiert haben, sich mit Theorie beschäftigen
und eine ‚politische’ Alltagspraxis haben, mit denen um, die all das nicht
haben? Sind das ‚Spießer’? Oder - noch schlimmer – ‚Prolls’? Mit denen man sich
gar nicht auseinandersetzt? Die in der U-Bahn einfach nur nerven? Die andere
Musik (Schlager) hören und Fußball besser als Yoga finden? Befinden wir uns in
einer ‚linken Szene’, die prima miteinander klarkommt, weil da ja alle das
richtige ‚politische’ Bewusstsein haben? Schmeißen wir Leute mit einer
Deutschlandfahne auf dem Parker oder nach einem frauenfeindlichen Witz sofort
aus dem autonomen Zentrum, damit wir nicht noch einmal Diskussionen führen
müssen, über die wir doch schon vor 10 Jahren einen Konsens erreicht haben? Oder
ganz polemisch: Haben wir unser gemütliches Plätzchen im Kapitalismus gefunden,
in einer Wagenburg, einer Kommune oder einem besetzten Haus? Das alles sind
Sachen, die ich durchaus gut finde, zu denen ich hin gehe, weil auch ich gerne
Punk höre, mich mit Theorie auseinandersetze und auch glücklich bin, wenn ich
nicht – wie am Arbeitsplatz – nach einer Kindesmisshandlung den nächsten Ruf
nach der Todesstrafe hören muss oder rassistische Türkenwitze vor einem
Fußballspiel. Aber das ist nicht das wahre Leben und oft langweilig. An dem
Punkt wünsche ich manchmal, ich würde mich für Fußball interessieren und nicht
nur für meine Arbeitsbedingungen.

Ein schönes Beispiel für
das Missverständnis zwischen politischem und ökonomischem Bewusstsein sind die
Studierendenproteste gegen die Erhebung von Studiengebühren: Die GegnerInnen von
Studiengebühren argumentieren, dass alle Studierenden gegen Studiengebühren sein
müssten, weil dadurch weniger Bildung für viele erhältlich sei. Das soll auch
für Konzernbesitzertöchter und Politikersöhne gelten. Wenn diese nicht gegen
Studiengebühren seien, sei das falsches Bewusstsein.

Das ist schlichtweg
falsch. Das Kind des reichen Unternehmers hat ein immenses Bewusstsein davon,
dass es selber keinen Schaden durch Studiengebühren hat, vielleicht sogar einen
Nutzen, wenn weniger Arbeiterkinder studieren und die Lehrenden dadurch mehr
Zeit für ihn oder sie. Notwendig falsch ist sein oder ihr Bewusstsein höchstens
in dem Sinne, dass das Unternehmerkind automatisch davon ausgeht, später eine
gehobene Position einzunehmen und keine ökonomischen Probleme zu haben.
Hintergrund ist aber nicht, dass ihnen niemand erklärt hat, dass sie jederzeit
plötzlich ArbeitnehmerInnen werden können, sondern, dass sie diese Erfahrung nie
gemacht haben. Ihr Bewusstsein ist ihrer aktuellen Situation durchaus
angemessen.

Ein ganz anderes Beispiel:
Stellen wir uns eine Ärztin vor, die aufgrund massiver geschlechtlicher
Diskriminierung entscheidet, ihren Job in einer Klinik aufzugeben und sich
selbstständig zu machen, um nicht weiter vom mangelnden Wohlwollen alter
männlicher Chefärzte abhängig zu sein, die der Meinung sind, das Frauen nicht
operieren können. Sie kommt aus besserem Hause, hat 1968 studiert, setzt sich
für Minderheiten ein und liest Marx und Sartre. Mit der neuen eigenen Praxis
sieht sie sich der Situation ausgesetzt, Büro- und Reinigungskräfte
einzustellen. Diese erwarten einen gewissen Lohn, Urlaub etc., keineswegs
bahnbrechende Forderungen, sondern die arbeitsrechtlich garantierten
Mindeststandards. Dennoch fühlt sich die Ärztin nach einer gewissen Zeit über
den Tisch gezogen, entwickelt eine entsprechende Aversion gegen Gewerkschaften
und Parteien, die Gewerkschaftsforderungen unterstützen. Sie hatte guten Grund,
selbstständig zu werden, spendet jährlich an Greenpeace oder amnesty
international. Obwohl sie diese Praxen weiterhin beibehält, entwickelt sie ein
Bewusstsein dafür, dass sie ihre Angestellten ausbeuten muss. Sie
entwickelt ein Klassenbewusstein – und zwar das für sie durchaus richtige. Kein
Grund, sie zu verachten, denn ihre Handlungsmotivationen sind vollkommen
nachvollziehbar.

Sie hat sich bei aller
Sympathie für Befreiungsbewegungen und bei aller Empathie für soziale
Gerechtigkeit durch ihr Leben und ihr Studium einen gewissen Lifestyle
angeeignet (den Bourdieuschen Habitus), den sie nicht missen möchte und über den
sie nicht hinaus denken kann. Darüber hinaus hat sie vielleicht Familie,
die mit ernährt werden muss. Sie ist vielleicht mit den Ansprüchen in ihre
Selbständigkeit hinein gegangen, eine Gemeinschaftspraxis mit egalitärer
Bezahlung zu gründen. Es hat aber nicht gereicht, erstens, legitimer Weise,
nicht für die Familie und zweitens, nicht so legitim, weil sie ihren Lebensstil
nicht ändern wollte – zum Teil aber auch, folgt man dem Bourdieuschen
Habitus-Begriff, weil sie nicht konnte. Ein kollektives Projekt, das so unsicher
ist, dass es nach einigen Jahren scheitern könnte, kam gar nicht erst in Frage,
denn das hätte das familiäre Kollektiv gefährdet. Ihre Klasseninteressen haben
sich massiv verändert, und das war ökonomisch auch nicht anders möglich. Trotz
dieses Verständnisses muss ich aber als Putzkraft in der selben Praxis gegen sie
intervenieren, wenn ich auch nur einen Funken Bewusstsein habe.

Einige der ReferentInnen
und BesucherInnen linker Veranstaltungen und LeserInnen linker Bücher und
Zeitschriften werden sich genau so entwickeln wie in diesem fiktiven Beispiel.
Das Wissen aus den Veranstaltungen und Büchern steht ihnen nach wie vor zur
Verfügung, ebenso das T-Shirt mit dem roten Stern, das Palästinenser- Tuch, der
Kapuzenpulli und die anderen Symbole vermeintlich ‚linken’ Bewusstseins. Am
notwendigen Verhalten ändern diese Symbole gar nichts. Falsches Bewusstsein
haben sie dann, wenn sie trotz ihrer ökonomischen Position weiterhin jeder Lohn-
und Urlaubsforderung nachgeben, weil sie sie politisch richtig finden. Dann
würden sie so falsch liegen wie Studierende, die für einen Minimallohn in der
Kneipe schuften und ihren Urlaubsanspruch vergessen. Nach dem Studium wird sich
womöglich. herausstellen, dass die einstmals Liberalen prima
ArbeitsrechtlerInnen sind und die Linken vorbildliche Ausbeuter werden. Ob sie
jemals Marx oder Friedman gelesen haben oder auch nur eine einzige linke
Info-Veranstaltung besucht haben, ob sie während des Studiums klassische Musik
oder Punkrock gehört haben, hat darauf keinen Einfluss.

Bewusstsein heißt eben
nicht, zu wissen, was diese oder jene TheoretikerInnen mal gesagt haben oder wie
die Weltwirtschaft funktioniert. Bewusstsein heißt, die eigene Lage zu erkennen
und beurteilen zu können. Was sich heute Politik oder politisches Engagement
schimpft, hat damit selten etwas zu tun. Im besten Falle wird sich der liberale
Student einer Gewerkschaft anschließen und die linke Ärztin einem
Arbeitgeberverband, um die entsprechenden Interessen besser durchsetzen zu
können. In diesem Moment ist aus der Klasse an sich die Klasse für sich
geworden. Es bestimmt eben nicht der/die (ideologische) TheoretikerIn das
Bewusstsein, sondern allein das Sein, die blanken Rahmenbedingungen der eigenen
Existenz. Wenn ökonomisch relevante Argumente mein Handeln motivieren, habe ich
vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber kein falsches Bewusstsein. Von jenen,
die dieses Bewusstein haben, ein anderes Handeln einzufordern – und das ist das
Geschäft linker Politik – kann keinen Erfolg haben. Wir sind auf uns
selber gestellt. Notwendig ist nicht ein weiterer Vortrag, sondern ein
Erfahrungsaustausch, damit wir nicht alleine da stehen.

Die Hauptschülerin, die
Ärztin und der arbeitende Familienvater waren eben doch begrenzt determiniert.
Menschen sind nicht frei in der Gesellschaft des Kapitalismus und es ist absolut
nicht sozialistisch oder anarchistisch, das zu behaupten: Wenn dem so wäre,
bräuchte es kein Engagement für einen Anarchismus. Keine Entscheidung ist
undeterminiert – das zu behaupten, ist letztendlich Ideologie. Menschen, die
entsprechend anders entscheiden, diese Entscheidungen vorzuwerfen, ist
autoritär. Die Existenz einer solchen Freiheit vorauszusetzen, würde erstens
bedeuten, dass der Neoliberalismus mit seinem Diktum ‚Jeder ist seines eigenen
Glückes Schmied’ recht hätte: Wenn ich leide, bin ich selber Schuld. Ich alleine
kann das ja ändern. Zweitens verkennt es vollkommen die Struktur des
Kapitalismus(der klassische Fehler des Anarchismus), wenn der Mensch so frei
wäre, ist seine Rolle im Kapitalismus seine freie Entscheidung: Ich werde wie
die zitierte Hartz IV-Hauptschülerin ALG II-Empfänger – wie es die
US-amerikanischen ‚Freegans’, die sich für AnarchistInnen halten, ausdrücken:
„Wer arm ist und darunter leidet, ist selber Schuld’ – oder aber erfolgreicher
Selbständiger: Dass das nicht funktioniert, merkt jedeR Arbeitslose sehr
schnell. Wer nicht nur mit linken AnarchistInnen rumhängt, sondern auch mit (Schein-)Selbstständigen,
Angestellten extrem kapitalistischer Firmen und Arbeitslosen, die nie studiert
haben, merkt schnell, dass diese alle nie frei entschieden haben: Der Wunsch
nach Freiheit und die philosophische Diagnose, der Mensch sei frei in seinen
Entscheidungen, sind etwas sehr Unterschiedliches. Und nur den Wunsch braucht
es, um Anarchist zu sein. Die Diagnose, es sei schon so, teilen die Ideologen
des Neoliberalismus.


Aus der Erkenntnis, dass
das ‚Sein’ nicht zu Erkennen ist, zu schließen, dass es nicht existiere, ist
genau so fehlerhaft wie zu behaupten, es sei auf eine bestimmte Weise. Diese
Version von Freiheit wird zu eine

m egomanen Individualismus und dieser ist ein
Hauptproblem heutiger anarchistischer PraktikerInnen.

Das Rezept, das ich
dagegen setze, ist der Austausch von Erfahrungen in einem ökonomischen Sinne.
Diese entstehen nicht in einem wissenschaftlichen Theorieaustausch, sondern in
einem Austausch der ökonomischen Abhängigkeiten und einer gemeinsamen
Wehrhaftigkeit. In einer halbwegs egalitären Gesellschaft determinieren uns
Dein, mein, Annas und Peters Bewusstsein und nicht nur das meine –woher um
Himmels Willen soll das kommen? Aus Büchern? Das eigene ‚Bewusstsein’, das schon
mal gar keines ist, wenn es einzig und allein meines ist, weil es dann
partikular ist, erschient arg beliebig. Es ist dem populistischen Begriff der
‚Anarchie’ als Chaos und Terror nicht besonders fern. Eine heutige Freiheit des
einzelnen Menschen zu konstatieren, ist nicht Grundannahme jeder anarchistischen
Theorie und Praxis, es ist das Gegenteil: Es ist von hinten bis vorne
Neoliberalismus.

Solidarität entsteht nicht
durch das Lesen von Büchern oder dem Hören von Musik. Das ist bestenfalls
Mitleid. Wir können uns weder mit einem ‚israelischen’ noch einem
‚palästinensischen’ Volk noch mit einer indigenen Bewegung in Chiapas
solidarisch erklären, weil Voraussetzung jeder Solidarität das Nachvollziehen
der Ausbeutung anhand der eigenen Verhältnisse ist. Um uns mit Israel oder
Palästina solidarisch zu erklären, müssten wir uns national definieren und
entweder eine entsprechende Schuld oder eine entsprechende Situation erkennen.
Allerdings können wir Ähnlichkeiten in staatlicher Repression und ökonomischer
Ausbeutung erkennen, wenn wir mit den Menschen reden, und dort auch entsprechend
solidarisch sein. Das ist das Faszinierende z.B. an der EZLN: Sie erzählen und
machen Erfahrungen begreif- und vergleichbar. Die Ausbeutung in der Maquiladora
mag intensiver sein als die im deutschen CallCenter: Nach einem Austausch
erkenne ich gemeinsame Strukturen. Erst so kann ich solidarisch handeln. Für
alles andere könnten wir auch in die Kirche gehen. Wenn Buch und Musik das
Kriterium für Bewusstsein wären, dann täte es auch Die Bibel und der Choral –
und dann täte es auch ‚Mein Kampf’ und Rammstein. Es ist klar, das so etwas
fatal ist. Niemand bekommt von mir auch nur einen Hauch von Solidarität, weil er
Bakunin liest und Slime hört.

Das Sein bestimmt (und
verstimmt) das Bewusstsein. Etwas marxistische Theorie täte dem Anarchismus auch
in diesem Punkt ganz gut.

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