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David Grossman: Israel protestiert – Alle für alle, jeder für sich
Am vorvergangenen Samstag sah ich die vielen Menschen auf den Straßen von Jerusalem, Tausende, die seit Jahren geschwiegen, jede Hoffnung auf Veränderung aufgegeben, sich in ihre Sorgen und Verzweiflung zurückgezogen hatten. Es fiel ihnen nicht leicht, sich den lärmenden jungen Demonstranten mit Lautsprechern anzuschließen. Vielleicht war es die Unsicherheit derjenigen, die es nicht gewohnt sind, ihre Stimme zu erheben – schon gar nicht in einem Protestchor. Doch nachdem wir eine Weile marschiert waren, steckte uns etwas an: der Rhythmus, die Energie, das Zusammengehörigkeitsgefühl. Keine einschüchternde, überwältigende Gemeinsamkeit, sondern ein heterogenes Wir-Gefühl, ungeordnet, familiär und improvisiert, das uns deutlich signalisierte: Wir tun das Richtige. Endlich.Read more at www.nachdenkseiten.de
Doch dann kam das Erstaunen: Wo waren wir die ganze Zeit? Wie konnte das alles passieren? Wie konnten wir zulassen, dass unsere Regierung Gesundheit und Bildung zu Luxusgütern gemacht hat? Warum haben wir nicht laut protestiert, als das Finanzministerium die streikenden Sozialarbeiter bestrafte und davor die Behinderten, die Holocaust-Überlebenden, die Alten und Rentner? Wie kann es sein, dass wir die Armen und Hungrigen jahrelang in ein Dasein unsagbarer Demütigung abgedrängt haben, in Suppenküchen und andere Wohlfahrtseinrichtungen, warum haben wir die ausländischen Arbeiter vergessen, die gedemütigt, gejagt und in Sklaverei unterschiedlichster Art (auch sexueller) verkauft wurden? Wie kommt es, dass wir uns mit den Schändlichkeiten der Privatisierung abgefunden haben, die zu einem Verlust an Solidarität, Verantwortungsbewusstsein und Gemeinsinn führte?
Quelle: FAZAnmerkung Orlando Pascheit: Mit unendlicher Vorsicht betreibt David Großmann die Analyse der Proteste in Israel. So groß ist seine Furcht, dass diese Proteste in Anarchie münden könnten, ja sogar den “Zusammenhalt dieser fragilen Nation” bedrohen könnten. Nur kurz streift er die aus seiner Sicht wesentliche Ursache der bisherigen Apathie, “die Besatzung, die zum Niedergang der gesellschaftlichen Warnmechanismen in Israel beigetragen hat”, um sich der Beschwörung zu zuwenden, wie die notwendige Diskussion geführt werden müsse. Bisher sei jede rationale Diskussion „überzogen mit einer Schicht von sentimentalem Kitsch, dem patriotischen, nationalistischen Kitsch larmoyanter Selbstgerechtigkeit, so dass eine klarsichtige Kritik der Situation zunehmend schwierig geworden ist”. Eine neue Sprache müsse gesprochen werden müsse; der Dialog dürfe keine beschränkten Einzelinteressen verfolgen und nicht opportunistisch geführt werden. Die ernsthafte Ausnahmebesetzung dürfe nicht zum Zank verkommen, wer ein Freund Israels, wer ein Feind Israel sei.
Leider will die israelische Regierung nach letzten Meldungen nicht begreifen, dass der Frieden mit seinen Nachbarn, insbesondere mit den Palästinensern endlich auch den Freiraum schaffen würde, um sich den brennenden sozialen Fragen des Landes zu stellen.Schlimmer noch, sie verknüpft eine wichtige soziale Frage, die Wohnungsnot, mit der Besatzungspolitik:
Wieder einmal hat sich in Israel die Siedlerlobby durchgesetzt
Dass sich jetzt auch das Innenministerium offiziell der ebenso listigen wie abstrusen Argumentation dieser Lobby anschließt, ist jedoch neu. Als Antwort auf die seit vier Wochen andauernden Sozialproteste gegen zu hohe Mieten und steigende Lebenshaltungskosten hatte die Siedlerlobby bekanntlich empfohlen, mehr Siedlungen zu bauen, um den Menschen preiswerten Wohnraum zu bieten. Genau dieses Argument ist dem israelischen Innenministerium jetzt nicht zu billig, um die jüngsten Siedlungsneubauten in Ostjerusalem zu begründen. “Diese wurden jetzt wegen der ökonomischen Krise hier in Israel genehmigt”, erklärte der Sprecher des Inenministeriums Roei Lachmanovich gegenüber der Presse am Donnerstag. “Dies ist überhaupt keine politische, sondern eine rein ökonomische Entscheidung”, fügte er hinzu.
All diese genannten Siedlungen liegen in einem Gebiet von Jerusalem, das Israel 1967 erobert und 1981 annektiert hat, nicht ohne zuvor die Stadtgrenzen weit ins Westjordanland hinein zu verschieben. Nach dem Völkerrecht sind diese Siedlungen illegal. Israel betrachtet dagegen den Siedlungsbau als legitim, da Jerusalem, die “ewige und unteilbare Hauptstadt des jüdischen Staates” sei. Rund 200.000 israelische Siedler leben derzeit in Ostjerusalem inmitten von 260.000 Palästinensern.
Quelle: taz
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