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„Kürzen, streichen, sparen“: Kinder- und Jugendarmut in Berlin nimmt zu
von Ernst Wolff - www.wsws.org
Nach
zehn Jahren rot-rotem-Senat aus SPD und Der Linken leben in Berlin über
175.000 Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren in Hartz-IV-Haushalten –
mehr als je zuvor.
Die Hälfte von ihnen ist unter acht Jahre alt, ein
Großteil wohnt mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen. In
Neukölln, Berlin-Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Spandau-Mitte,
Wedding, Moabit und Marzahn-Hellersdorf ist die Zahl armer Kinder und
Jugendlicher am höchsten. In der Gropiusstadt und im Märkischen Viertel
nimmt sie überdurchschnittlich zu.
Auslösender Faktor
für das Abrutschen in die Armut ist fast immer die Arbeitslosigkeit
zumindest eines Elternteils. Seit SPD und Grüne Hartz IV eingeführt
haben, hat sich der soziale Abstieg, der früher durch das
Arbeitslosengeld II („Arbeitslosenhilfe“) abgefedert wurde,
beschleunigt. Wird ein Arbeitsplatz gekündigt und innerhalb eines Jahres
kein neuer gefunden, muss Hartz IV beantragt werden. Überschreitet die
häusliche Quadratmeterzahl die behördlich bewilligte Größe, muss eine
kleinere Wohnung bezogen werden.
Was für betroffene
Eltern schon schlimm ist, trifft Kinder und Jugendliche noch härter: Sie
müssen nicht nur das in Krisenzeiten wichtige soziale Umfeld aufgeben,
sich räumlich einschränken und die oft angespannte häusliche Situation
ertragen, sondern auch auf Selbstverständlichkeiten verzichten: Für
Freizeitaktivitäten wie Zoo- oder Kinobesuche, Ausflüge, Feriencamps,
Musikunterricht, Mitgliedschaften in Sportvereinen, Nachhilfe bei
schulischen Problemen fehlt ihren Eltern fast immer das Geld. Es
entstehen Kindheits-Defizite, die später nicht wieder gutzumachen sind.
Holger
Ziegler, Professor für Erziehungswissenschaften, schreibt in einer im
Juni vorgestellten Studie, dass Berliner Kinder, die in Armutslagen
leben, eine überdurchschnittlich hohe Gesamtbelastung
aufweisen. Sie machen sich überproportional viele Sorgen, haben
zahlreiche Ausgrenzungserfahrungen und leiden unter besonders geringem
Selbstvertrauen. Bernd Siggelkow, Gründer des Kinder- und Jugendwerks
"Die Arche" und Mitverfasser der Studie, fügt hinzu, dass sozial
benachteiligte Kinder ihr Potenzial oft nicht ausschöpfen, weil sie so
stark mit dem Überlebenskampf beschäftigt sind. Der Druck, sehr früh
selbstständig zu werden, behindere die Entwicklung von Selbstwertgefühl.
Die
Armut im Kindesalter führt zu Problemen, die die Betroffenen häufig ein
Leben lang begleiten. Wem als Kind soziale und kulturelle Förderung
versagt wird, für den wird es als Erwachsener schwer, vollwertig am
gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Vielfach wird bereits im
Kindesalter die Grundlage für ein Leben in Armut gelegt.
Nach
Erkenntnissen des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann, Verfasser eines
Monitoring-Programms für den Senat, hat sich die Situation armer Kinder
in Berlin in den Jahren der rot-roten Regierung weiter verschlechtert.
Unter
den Betroffenen nimmt die Verärgerung zu. „Es wird von Jahr zu Jahr
schwieriger“, beklagt sich Natascha G., alleinerziehende Mutter von drei
Kindern aus Moabit. „Alles wird teurer, die Miete, die Nebenkosten, die
Lebensmittel, aber wir Hartz-IV-Empfänger werden mit zusätzlichen 5
Euro im Monat abgespeist.“
Melanie D., zweifache Mutter
aus Berlin-Mitte, deren Mann seit vier Jahren ohne Arbeit ist, ärgert
vor allem, „wie Politiker winzige Almosen als großartige Hilfe
verkaufen.“ Das Mittagessen an der Schule ihrer Kinder, das bisher 40
Euro pro Monat kostete, wird jetzt mit 17 Euro bezuschusst. „Ganze 17
Euro für unsere Kinder“, ereifert sich Melanie, „während die
Abgeordneten im Bundestag über eine zwanzig bis vierzig Mal so hohe
Diätenerhöhung reden!“
Heftige Kritik üben auch
Jugendliche aus allen Teilen der Stadt an den öffentlichen
Freizeiteinrichtungen. „Ich hab das Gefühl, es wird immer weniger
geboten“, sagt der fünfzehnjährige Hauptschüler Moritz D. aus
Wilmersdorf, der nach der Trennung der Eltern bei seinem arbeitslosen
Vater aufwächst und einen Großteil seiner Freizeit in Jugendclubs
verbringt.
Die Statistik gibt Moritz Recht. Beispiel
Berlin-Mitte: Gab es im Jahr 2009 noch 54 Jugendfreizeiteinrichtungen,
so ist ihre Zahl mittlerweile auf 44 gesunken. 20 Mitarbeitern wurde
gekündigt, die Anzahl der Plätze fiel von 4459 auf 3964 – und das,
obwohl gesetzlich eine Bedarfsdeckung von 18 Prozent – eine fast dreimal
so hohe Anzahl an Plätzen - vorgeschrieben ist.
In
Lichtenberg wurden im vergangenen Jahr die Mittel für
Jugendeinrichtungen im Schnitt um mehr als zehn Prozent gekürzt. Der
Jugendclub „Die Linse“, dessen Schwerpunkt Musik- und Theaterarbeit ist,
musste seinen Breakdance-Lehrer entlassen. Um den Bühnentechniker
halten zu können, reduzierten die drei festen Mitarbeiter ihre eigenen
Arbeitsstunden.
In Marzahn-Hellersdorf ist am 1. April
2011 in neues Orchesterarbeitskonzept des Bezirksamts in Kraft getreten,
das ohne Absprache mit den am Orchester aktiv beteiligten Lehrkräften
erarbeitet worden ist. Es sieht eine radikale Kürzung der finanziellen
Mittel für das Jugendsinfonieorchester vor, das seit 2005 existiert und
zahlreiche außergewöhnliche Projekte realisiert hat - wie z.B. ein
Konzert in der Philharmonie Berlin.
Aber nicht nur in
den Bereichen Freizeit und Kultur werden Gelder gestrichen. Das
Bezirksamt Neukölln hat über sechzig freien Trägern zum 30. September
die Verträge gekündigt. Betroffen sind u.a. Projekte im Bereich der
präventiven Jugendhilfe. Hierzu zählen vierzehn sogenannte
Schulstationen, die Kindern und Jugendlichen sowohl bei schulischen als
auch bei privaten Problemen zur Seite stehen. Andere Projekte
organisieren soziale Kompetenztrainings, engagieren sich im Bereich
Gewaltprävention oder unterhalten Jugendfreizeiteinrichtungen.
Auch
Fördermaßnahmen für behinderte Schüler wurden eingeschränkt. Schulen,
die seit Jahren viele Kinder mit Förderbedarf integrieren, verlieren ein
bis zwei Lehrerstellen. In Friedrichshain-Kreuzberg sind die
Heinrich-Zille-Grundschule und die Fläming-Grundschule betroffen. Laut
Lehrergewerkschaft GEW werden in allen Bezirken jeweils mehr als zehn
Lehrerstellen nicht besetzt, auf die diese Bezirke aufgrund der Anzahl
förderbedürftiger Kinder eigentlich einen Anspruch haben. In
Friedrichshain-Kreuzberg sind es sogar 22 Stellen, in
Tempelhof-Schöneberg 21 und in Reinickendorf 19 Stellen.
Eine
ebenso einschneidende Maßnahme für die Betroffenen sieht der Entwurf
des Haushaltsplans des rot-roten Senats für 2012 vor - eine massive
Kürzung beim Kinderschutz. Trotz ständig steigender Zahlen von
Beratungen, Krisenintervention und Inobhutnahmen (5,8 Prozent mehr als
im Vorjahr) soll eine Einsparung in sechsstelliger Höhe vorgenommen
werden.
All dies geschieht in der Hauptstadt eines
Landes, in dem zwischen 2000 und 2010 die Steuersätze für Unternehmen um
21,8 Prozent gesenkt wurden und der Spitzensteuersatz, der in den
Achtziger Jahren noch bei 56 Prozent lag, regelmäßig heruntergeschraubt
wurde – bis auf den gegenwärtigen Wert von 42 Prozent. Es geschieht in
der Hauptstadt eines Landes, in dem seit 1997 keine Vermögenssteuer mehr
erhoben wird, in dem die Erbschaftsbesteuerung für Unternehmen 2010
drastisch reduziert wurde und in dem Hoteliers seit dem 1. Januar 2010
statt 19 Prozent nur noch 7 Prozent Umsatzsteuer zahlen müssen.
Spricht
man die Politiker in den Bezirksämtern oder die Verantwortlichen im
rot-roten Senat auf die Situation im Jugend- und Sozialbereich an, so
bekommt man immer wieder dieselbe Antwort: Es müsse wegen der
angespannten Finanzlage „gespart“ werden.
Doch gespart
und gekürzt wird vor allem im sozialen und kulturellen Bereich, bei
Arbeitslosen, sozial Schwachen und den ärmsten der Armen. Auf der
anderen Seite macht der SPD-Linke-Senat weitreichende Zugeständnisse und
großzügige Geschenke an Konzerne und Reiche, an Banken und Investoren.
Mit anderen Worten: Es findet eine groß angelegte Umverteilung des
gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben statt.
Ein
besonders zynische Rolle spielt dabei die Linkspartei, die mit Carola
Bluhm die zuständige Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales
stellt. Sie spricht bei vielen Anlässen über die soziale Misere der
Stadt und äußert ihr Bedauern über die Schließung von Jugendclubs,
Sporteinrichtungen und Stadtteilbibliotheken. Doch es ist ihr
Ministerium, das die Sparmaßnahmen beschließt und die Bezirke zwingt
wichtige Sozialeinrichtungen zu schließen.
Auf diesen
Widerspruch angesprochen, betont Bluhm regelmäßig, sie sei an Sachzwänge
gebunden. Einen wichtigen Teil dieser so genannten Sachzwänge schafft
Wirtschaftssenator Harald Wolf, auch er ein Mitglied der Linkspartei. Er
verteilt die Geschenke an Konzerne und Banken und nennt das „Anreize
zur Unternehmensansiedelung“. Als stellvertretender Regierender
Bürgermeister unterhält er gleichzeitig beste Beziehungen zur
steinreichen Berliner Schickeria.
Nach zehn Jahren
Regierungsbeteiligung in Berlin hat die Linkspartei deutlich gemacht,
dass sie sich von den anderen bürgerlichen Parteien nicht im geringsten
unterscheidet. Allerdings fügt sie der allgemeinen politischen
Verlogenheit eine weitere Dimension hinzu. Überall dort, wo sie sich in
der Opposition befindet, gebärden sich ihre Funktionäre mit Vorliebe als
Anwälte des kleinen Mannes und behaupten, die Interessen der Armen und
Schwachen zu vertreten.
Doch alle linken Parolen und
alle sozialen Versprechungen sind nichts als politische Augenwischerei.
Die Linkspartei verteidigt die kapitalistische Marktwirtschaft und sieht
ihre Hauptaufgabe darin, den wachsenden Widerstand gegen die unsoziale
Politik unter Kontrolle zu halten. Ihre Funktionäre sind Teil der
herrschenden Macht, verdienen hohe Gehälter und genießen die
Vergünstigungen und Privilegien, die ihre Regierungsjobs mit sich
bringen.
Im Gegenzug verwenden sie ihre ganze politische
Energie darauf, die Interessen derer durchzusetzen, die von diesem
System profitieren - wenn es sein muss, auch gegen arme Kinder und
Jugendliche.
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