Freitag, 22. Juli 2011

#Wirtschaftsfreunde #und #Menschenfeinde [via Junge Welt]

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Wirtschaftsfreunde und Menschenfeinde

Hintergrund. Seit Mai 2010 regiert in Ungarn der rechtskonservative »Bund junger Demokraten« (Fidesz) unter Ministerpräsident Victor Orbán – Eine Zwischenbilanz

Der ungarische Premier Victor Orbán – hier links ne
Der ungarische Premier Victor Orbán – hier links neben dem Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann – raubt den Armen, um den Reichen zu geben (Berlin, 5. Mai 2011)
Foto: reuters
Über die politischen, ideologischen und menschenrechtlichen
Untaten der ungarischen Fidesz-Regierung unter der Führung des
allmächtigen Parteichefs und Ministerpräsidenten Viktor
Orbán wurden dem Ausland im vergangenen Jahr einige skurrile
Tatsachen bekannt. Viel weniger aber weiß man über die
Wirtschaftspolitik, die dem, was in den genannten Bereichen vor
sich ging, an Brutalität in nichts nachsteht.



Ab der zweiten Juliwoche trat das ungarische Parlament nach einem
Jahr rastloser Tätigkeit seinen wohlverdienten Urlaub an. Die
Zahl der seit Mai 2010 verabschiedeten Gesetze zu Wirtschaftsfragen
ist rekordverdächtig. Es ist also Zeit für eine
Bilanzierung dessen, was die Orbán-Regierung unter dem von
ihr auf Schritt und Tritt propagierten
»Gemeininteresse« versteht.
Die oberste Priorität für den Ministerpräsidenten
und seine Mannschaft – tatsächlich hat er für sein
Team im ganzen Land keine einzige Frau als Ministerin finden
können – heißt Schuldenabbau. In einem Interview
mit der österreichischen Kronen Zeitung Anfang Juni dieses
Jahres verkündete der Protestant Orbán ganz im Geiste
Max Webers: »Schulden sind Sünden, das steht schon in
der Bibel, und jetzt erleben wir Zeiten, in denen die Sünde
bestraft wird.« Der Schuldenabbau scheint für ihn und
seinen Wirtschafts- und Finanzminister György Matolcsy das
Alpha und das Omega des neuen selbständigen Ungarn zu sein.
Für diese Freiheit nahm die Regierung sogar einen Bruch mit
dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in Kauf. Der
nationalistische Regierungschef betrachtet auch die EU mit Argwohn.
Wie in einem im Internet kursierenden Protokoll zu lesen ist,
erklärte der dem Demagogischen niemals fernstehende
Orbán ausgerechnet während der ungarischen
EU-Präsidentschaft, am 15. März, dem ungarischen
Nationalfeiertag zum Jahrestag der Revolution von 1848, in
Budapest: »Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir
Ungarn mehr für die Freiheit gekämpft, wir haben für
sie mehr Opfer erbracht als alle anderen europäischen
Nationen. (Applaus) Treu zu unserm Schwur haben wir es 1848 nicht
geduldet, daß uns aus Wien diktiert wird. 1956 und 1990 haben
wir nicht geduldet, daß uns aus Moskau diktiert wird. Wir
lassen es auch jetzt nicht zu (beginnender Applaus), daß uns
aus Brüssel oder von sonst irgendwoher diktiert wird
(Ovationen).« Zum besseren Verständnis für
außerungarische Wesen: «Irgendwo« bezeichnet in
der Codesprache der ungarischen Rechtsradikalen die
Weltverschwörung des jüdischen Finanzkapitals.

Flat Tax



Das wirtschaftspolitische, mit nationalistischer Rhetorik
unterlegte Programm der Orbán-Regierung unterscheidet sich
in wesentlichen Grundzügen jedoch nicht vom
Wirtschaftsliberalismus vieler anderer europäischer
Länder, fügt dem aber spezifische radikale ungarische
Ergänzungen hinzu. Das Aufbringungen der Mittel für den
Staatshaushalt wird mehr denn je auf die unteren
Gesellschaftsschichten abgewälzt, die öffentliche Hand
baut ihre Ausgaben fleißig ab und kürzt dabei in erster
Linie die Sozialausgaben drastisch: Die Gehälter im
öffentlichen Dienst werden eingefroren, die Realwerte der
Pensionen vermindert, die Ausgaben für Gesundheitswesen,
Bildung und Infrastruktur gedrosselt. Obendrein dienen fast alle
Maßnahmen ganz bewußt dem Wohl der Reichen und richten
sich gegen die Armen und Hilfsbedürftigen. Mit alledem
reagiert die Regierung keineswegs auf verstärkten Druck
seitens der EU oder internationaler Finanzorganisationen. Die
Radikalisierung ist hausgemacht. Die Wirtschaftspolitik der
Orbán-Regierung kann als die größte Umverteilung
zugunsten der Reichen in der ungarischen Geschichte gewertet
werden.



Eine der diesbezüglichen zentralen Maßnahmen war die
Einführung eines neuen Einkommenssteuersystems, nämlich
einer Flat Tax von 16 Prozent für alle. Begründung: Ein
solches System sei deswegen gerecht, weil »die Vielverdiener
viel bezahlen und die Geringverdiener wenig«. Vor der
Einführung der Flat Tax variierte der Steuersatz zwischen 17
und 32 Prozent. Zugleich wurden viele
Abschreibungsmöglichkeiten und die Steuerfreiheit für
Minimaleinkommensbezieher – und darunter fallen laut
offizieller Statistik mehr als die Hälfte der
Erwerbstätigen, plus Schwarzarbeit versteht sich –
gestrichen.



Ungeachtet einer fünfprozentigen Erhöhung des
Mindesteinkommenssatzes haben viele Ungarinnen und Ungarn damit
seit der Einführung der Reformen weniger Geld in der Tasche
als davor. Im früheren System fielen sage und schreibe 90
Prozent aller Steuerpflichtigen in die 17-Prozent-Steuerklasse.
Nach dem ersten Einheitssteuermonat war der Aufruhr ziemlich
unüberhörbar, und die Regierung mußte zugeben,
daß die dem Allgemeinwohl dienende Flat Tax doch nicht jedem
etwas brachte. In der Tat profitieren netto, nach allen
Abzügen und unter Berücksichtigung aller Neuregelungen,
nur jene, die mehr als das 2,5- bis Dreifache des
Durchschnittslohns verdienen. Zu guter Letzt hat sich die Regierung
mittlerweile entschließen müssen, die Verringerung der
Nettoeinkommen im öffentlichen Sektor zu kompensieren. Dies
kostet den Staat etwa 20 Milliarden Forint (etwa 75 Millionen
­Euro). Die Regierung versuchte, die Privatwirtschaft mit
Drohungen dazu zu bringen, ebenfalls gewisse
Kompensationsmaßnahmen durchzuführen,
naturgemäß mit wenig Erfolg.



Die enormen Steuergeschenke an die Reichen bedeuteten
natürlich einen kaum zu kompensierenden Einnahmeausfall
für den Staatshaushalt. Schon zuvor und unter anderem im
Kontext der geplatzten Verhandlungen mit dem IWF im Sommer 2010
hatte die Regierung sich zu großangelegten
Geldbeschaffungsmaßnahmen entschlossen.



Der erste Schritt war eine Extrasteuer für die Banken, den
Telekommunikations- und Energiesektor bzw. den Groß- und
Kleinhandel, die einmalig 360 Milliarden Forint (1,3 Milliarden
Euro) bringen sollte. Die Unternehmer wälzten diese aus
heiterem Himmel einschlagende Belastung, da sie sich nun einmal
nicht als karitative Institutionen betrachten und ungeachtet der
privaten Einkommenssteuergeschenke für die Besserverdienenden
unter ihnen, schön unauffällig auf die Bevölkerung
ab. Ursprünglich war die Extrasteuer als ein einmaliger
Beitrag für 2010 geplant, doch wurde sie zuerst bis 2012,
nicht viel später bis 2014 verlängert.

Renten in Gefahr



Einen zweiten, viel größeren Coup stellte jedoch die
Wiederverstaatlichung des von der sozialliberalen Regierung
(übrigens damals mit Unterstützung von Fidesz)
eingeführten Privatpen­sionssystems per 1. Februar dieses
Jahres dar. Dies brachte als Einnahmen für die Staatskasse die
angehäuften Pensionsbeiträge von zehn Jahren, eine
einmalige enorme Summe von 3000 Milliarden Forint (etwa 11,1
Milliarden Euro). Dies hat das Staatsbudget für dieses Jahr
gerettet, und auch für das nächste Jahr bleibt noch etwas
übrig. Ein Großteil dieser Rentenansparungen wird
für den Schuldenabbau verwendet. Im Juni verkündete
Orbán während eines Aufenthalts in Serbien stolz:
»Die Schuldenquote des ungarischen Staates wird in einem
Schritt von 81 auf 77 Prozent des BIP gesenkt«. Damit aber
nicht genug: Ziel ist in einer ersten Etappe die Senkung der
Schuldenquote auf 65 bis 70 Prozent, und dann sieht man weiter. Ein
weiteres Vorhaben besteht darin, das Defizit des Staatshaushalts
2012 auf 2,5, 2013 auf 2,2 und 2014 auf unter zwei Prozent zu
drosseln. Dies ist ein weit ehrgeizigeres Ziel, als es IWF oder EU
von Ungarn verlangen würden. Was mit dem Staatshaushalt in
späteren Jahren werden soll, wenn einmal einverleibte
Riesensummen aus den ehemaligen privaten Rentenkassen nicht mehr
als Einnahme geführt werden können, kümmert die
Fidesz-Regierung derweil nicht. Sie rechnet nämlich, daß
ihre, wie Orbán sie gerne tituliert, »nicht
gewöhnliche« Wirtschaftspolitik ein Wachstum von
chinesischen Ausmaßen, sprich etwa fünf bis sieben
Prozent pro Jahr, bringen wird. Zwar halten ernst zu nehmende
Ökonomen im In- und Ausland dies für kompletten Unsinn,
doch scheint einer skrupellosen Regierung, die sich auf eine
servile Zweidrittelmehrheit im Parlament verlassen kann, nichts auf
dieser Welt Sorgen zu bereiten.



Unterdessen sind im ungarischen Rentensystem keineswegs die
ehemaligen Einzahler in die privaten Rentenkassen Opfer der
schlimmsten Ungerechtigkeiten, sondern die besonders
Hilfsbedürftigen – wie könnte es anders sein unter
der Herrschaft einer Partei, die Arme, Kranke und Ausgelieferte
schon immer als an ihrem Elend »selbst schuld«
betrachtet hat. Eine erste Reform brachte das generelle Verbot, die
Pensionen um einen höheren Prozentsatz als jenen der
jeweiligen Inflationsrate zu erhöhen. Dies gilt
unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt.
Tatsächlich bedeutet dies, daß der Realwert der Renten,
die in Ungarn für einen großen Teil der Rentner so
niedrig sind, daß sie ihnen nicht einmal das nackte
Überleben sichern, auf unbestimmte Zeit eingefroren oder sogar
reduziert werden soll. Tatsächlich steigen die Renten derzeit
nicht einmal im Gleichschritt mit der Geldentwertung.



Zugleich liegt ein Vorschlag zu einer Verfassungsänderung vor
dem Parlament, der es ermöglichen soll, schon vor Jahren
staatlich zuerkannte Früh- oder Invaliditätsrenten zu
»überprüfen«. Dabei soll es möglich
werden, Frührenten zu verringern oder auf Sozialhilfeniveau
herabzusetzen, und Invaliditätsrentnern den Bezug wieder
abzuerkennen, falls dafür eingerichtete Kommissionen die
Betroffenen im Zuge eines neueingeführten
Überprüfungsverfahrens für arbeitsfähig
erklären. Ein solcher Schritt bedarf natürlich einer
rückwirkenden Gesetzgebung, die in einem Rechtsstaat
eigentlich undenkbar sein sollte, doch im heutigen Ungarn der
Fidesz-Regierung sind derartige Akte schon längst gang und
gäbe. Ziel ist es auf jeden Fall, in diesem Jahr 93 Milliarden
Forint (etwa 338 Millionen Euro), im nächsten Jahr 129
Milliarden (469 Millionen Euro) zu Lasten der Rentnerinnen und
Rentner einzusparen.



Das Perverseste daran ist das erklärte Vorhaben, 90 Prozent
der jeweiligen Summe (88 bzw. 117 Milliarden Forint) von den
ohnehin äußerst niedrigen Invalidenrenten abzuzwacken.
Es sei doch jedem klar, so heißt es, daß die
Behinderten größtenteils Betrüger, sprich
Rentenschmarotzer seien.



Ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmter
Ministerialentwurf mit der Nummer 858/KIM/2011 kündigt
wesentliche Elemente des Solidaritätsprinzips auf. In Zukunft
soll jeder nur soviel Rente bekommen, wie er oder sie eingezahlt
hat, und diese Summen sollen auf »Personenkonten«
registriert werden. Dieses Individualisierungsprinzip hatte bisher
nur für die nunmehr wiederverstaatlichten privatisierten
Säulen des Rentensystems gegolten. Alle Früh- und
Invalidenpensionen sollen zur
»Einkommens­ergänzungsbeihilfe« degradiert
werden. Dies hätte den schönen Nebeneffekt, daß sie
mit keinerlei Mechanismus einer auch nur teilweisen
Inflationsanpassung verbunden wären, damit sie mit den Jahren
nicht erhöht werden müssen. Es wurde schon vor
längerer Zeit klargemacht, daß die Rentenzahlungen
zukünftig an die jeweils vorhandenen Geldmittel angepaßt
werden, was den (noch) geltenden gesetzlichen Bestimmungen
widerspricht.



Wie die Herrscher des Landes mit gesellschaftlichem Widerstand
umgehen, zeigte eine Bemerkung Orbáns, nachdem er erfahren
hatte, daß die Gewerkschaft der Polizisten, Feuerwehrleute
etc. – Berufsgruppen also, unter denen es besonders viele
Frührentner gibt – eine Petition gegen die Vorhaben im
Rentensektor formulierten. Der Ministerpräsident ließ
öffentlich wissen, daß diese vom
»Staatssekretär für Kasperle-Angelegenheiten«
entgegengenommen werde, und Parlamentspräsident
László Kövér, nebenbei Taufpate eines
Orbán-Kindes, legte noch eins drauf, indem er die
Uniformierten wortwörtlich als »Scheiße im
Gras« bezeichnete.

Massiver Sozialabbau

Ungarische Feuerwehrmänner protestieren gegen Sozialabbau u
Ungarische Feuerwehrmänner protestieren gegen Sozialabbau und Rentenklau. (Demonstration in Budapest, 16. April 2011)
Foto: reuters
Den Lohnabhängigen ergeht es seit der Machtübernahme des
Fidesz nicht besser als den Rentnern, sie werden systematisch und
dauerhaft degradiert. Die Orbán-Regierung hat verschiedenste
arbeiterfeindliche Maßnahmen durchgeführt. So
müssen zum Beispiel jene 27 Prozent
So­zialversicherungsbeiträge, die bei der
Beschäftigung von Dienstleistern in Privathaushalten bis zu
diesem Jahr die »Arbeitgeber« belasteten, von nun an
von den Beschäftigten selbst entrichtet werden. Doch damit
nicht genug, ab sofort haben sie zusätzlich einen
»Eigenbeitrag« von 17,5 Prozent zu leisten. Allzu
ungerecht ist die Orbán-Regierung dann wiederum nicht,
bittet sie doch auch die »Arbeitgeber« mit einer
monatlichen »Registrationsgebühr« von umgerechnet
sage und schreibe 3,5 Euro zur Kasse.



Ein weiteres reichenfreundliches Gesetz war die Abschaffung der
Erbschaftssteuer und der Besitzsteuer für PKW, Wasser- und
Luftfahrzeuge mit großer Leistung im Spätsommer des
vergangenen Jahres. Unterdessen schaffen Reformen des Arbeitsrechts
eine Situation, in der die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter
auf in Europa einzigartige Weise beeinträchtigt werden.
»Dritte Welt«-Verhältnisse sind angesagt. Auch nur
halbwegs gesicherte Arbeitsplätze gibt es praktisch nicht
mehr, sogar Beamte können ohne Begründung mit einer
Kündigungsfrist von zwei Monaten und unabhängig vom
Dienstalter schlicht entlassen werden.



Die Unternehmer bekommen außerdem beinahe volle Freiheit zur
Umschichtung der Arbeitszeit, sie können Urlaubszeiten nach
ihrer Laune bewilligen oder verschieben und haben freie Hand bei
der Entscheidung, wie sie Überstunden- und Feiertagsarbeiten
zu kompensieren gedenken. Zugleich werden Steuerabschreibungs- und
Steuervergütungsmöglichkeiten für Lohnabhängige
in den nächsten beiden Jahren völlig abgeschafft.



Das Streikrecht wurde eingeschränkt. In jenen Sektoren der
Arbeitswelt, durch die die sogenannte Grundversorgung des Landes
garantiert wird, sind Streiks überhaupt illegal geworden. Der
dabei zentrale Begriff der »minimalen
unerläßlichen Dienstleistung« wurde dabei in
keiner Weise näher definiert. Eine öffentliche Debatte
darüber führte die Regierung nicht, die Institutionen der
Sozialpartnerschaften waren schon bei der Machtübernahme des
Fidesz für inexistent erklärt worden. »Seit die
Orbán-Regierung die Macht übernommen hat, konsultiert
sie sich nicht mit den Sozialpartnern. Sie hat kein einziges Mal
den Interessenausgleichsrat einberufen, wie es das Gesetz
vorschreibt«, berichtete Péter Fiedler von der
Gewerkschaft Liga in einem Interview für Le Monde
diplomatique.



»Wer nichts hat, ist genausoviel und nicht mehr wert«,
erklärte der Fidesz-Fraktionsvorsitzende János
Lázár öffentlich im Frühjahr 2011, als nach
und nach erste Umrisse der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik
bekannt wurden. Diese Aussage könnte als Leitsatz der
ungarischen Sozialpolitik verstanden werden. Die Familienbeihilfe
wurde, ähnlich wie unter der ersten Orbán-Regierung
1998–2002, eingefroren; Kinder sollen statt dessen durch
Steuerbegünstigungen »honoriert« werden –
auch dies zum Vorteil der Gutverdiener. Die brutalste
Maßnahme ist jedoch ohne Zweifel die Verkürzung des
neunmonatigen Arbeitslosengeldes auf drei Monate. Damit nicht
genug, auch die Bezugshöhe soll während der drei Monate
laufend verringert werden. Nach drei Monaten Arbeitslosengeld
werden die Erwerbslosen zur gemeinnützigen Arbeit, also zu
typischen Ein-Euro-Jobs (genauer gerechnet Halb-Euro-Jobs)
gezwungen, wenn sie weiterhin irgendwelche Leistungen beziehen
wollen. Doch auch diese zwangsarbeitsähnliche
Beschäftigung darf nicht mehr als vier Stunden am Tag
ausgeübt werden, denn erstens gibt es nicht genug
gemeinnützige Arbeit, und zweitens soll ja mit aller Kraft
reguläre Arbeit gesucht werden.



Infolge der Wirtschaftskrise, die bei den Gemeinden zu massiven
Einnahmeausfällen führt, verschärft durch neue
diesbezügliche Regierungsbestimmungen, gibt es außerdem
sehr viel weniger gemeinnützige Arbeit im Lande als
früher. Nach manchen Berechnungen ist der Umfang um die
Hälfte, nach anderen Berechnungen um drei Viertel
zurückgegangen. Dabei stellt dieser Typus von Arbeit in
zahlreichen Dörfern praktisch die einzige Möglichkeit
dar, überhaupt zu arbeiten. Seit Beginn der Amtszeit von
Fidesz ist die Zahl der Erwerbslosen auf 680000 angestiegen, das
entspricht einer offiziellen Arbeitslosenraten von über elf
Prozent. Die tatsächliche Situation ist in Ungarn aufgrund der
extremen regionalen Disparitäten noch schlimmer, als es
statistisch auf den ersten Blick aussieht: Von den zwanzig
ärmsten Regionen der EU befinden sich vier in Ungarn. Um
eventuelle Lücken der neuen sozialen Gesetzgebung zu
schließen, gilt als oberster Grundsatz, daß die Summe
der Sozialleistungen ab sofort unter dem Wert des Mindestlohns
liegen muß.



Eine weitere gute Idee der »volksnahen« ungarischen
Regierung ist die Abschaffung des sogenannten »passiven
Krankengeldes«. Es war in Ungarn schon seit einiger Zeit
möglich, krankgemeldeten Beschäftigten zu kündigen,
diese bekamen jedoch das Krankengeld noch weiter ausbezahlt. Diese
Regelung wurde jetzt ersatzlos gestrichen, das heißt für
die Betroffenen, daß auf die Kündigung umstandslos das
Ende des Geldbezugs folgt. Das Krankengeld beträgt
übrigens seit dem oben erwähnten Nationalfeiertag am 15.
März nur mehr die Hälfte der bisherigen Leistungen.
Gesetzlich erlaubt wurde es dagegen, sich einen besseren Platz auf
den Wartelisten für ärztliche Behandlung käuflich zu
erwerben.

Spaltung der Gesellschaft



Ergänzt wird all das durch ein wirklich widerwärtiges
taktisches Instrument der Orbán-Regierung. Wann immer sie
Leistungen streicht und Geld wegnimmt, verbindet sie dies mit
Drohungen und Kriminalisierung. Als die Renten wiederverstaatlicht
wurden, hat Orbán die Rentenversicherungen als Hasardeure
bezeichnet, die die Gelder der Bevölkerung im Roulette
verspielen.



Arbeitslose und Kranke werden als »Arbeitsscheue« und
»Krankengeldbetrüger« dargestellt, denen man schon
noch auf die Schliche kommen und dann den Prozeß machen
werde. Neben diesen taktischen Schmutzkampagnen gehört zur
Kommunikation Orbáns auch, daß er immer wieder betont,
daß seine wirtschaftspolitischen »Reformen«
überhaupt keine Sparmaßnahmen seien, denn letztere
gehörten ausschließlich zum das Volk schindenden
Repertoire der Politik der früheren sozialistischen Regierung.
Beinahe wöchentlich verkündet der Regierungschef, so etwa
am »Tag der Arbeit«, dem 1. Mai 2011, im Fernsehen:
»Es kommen keine Einschränkungsmaßnahmen, weil
diese zu nichts führen«.



Kann aber diese extreme Wirtschaftspolitik allein mit dem fast
manischen Drang zum Schuldenabbau erklärt werden? Ein zweites
Ziel dieser Regierung ist laut ihrer eigenen Aussagen die Schaffung
einer starken und lebensfähigen Mittelschicht. Realiter wird,
wenn überhaupt, eine schmale gehobene Mittelschicht geschaffen
oder stabilisiert. Der frühere ungarische EU-Kommissar
László Kovács bezeichnete Orbán’s
Umverteilungsmaßnahmen als die Politik eines verkehrten Robin
Hood, der von den Armen raubt, um den Reichen zu geben. Ungarn ist
unaufhaltsam und immer stärker in zwei Gesellschaften
gespalten. Die extrem verwässerten arbeitsrechtlichen und
arbeitsmarktpolitischen Bestimmungen nehmen jenen, die von normaler
Erwerbsarbeit leben, alle Rechte und jedes Sicherheitsgefühl.
Das neue ungarische Grundgesetz verhilft einem weitreichenden
Subsidiaritätsprinzip, nach dem zuallererst Angehörige
für bedürftige Angehörige sorgen müssen, zu
Verfassungsrang, während es über die soziale
Verantwortung des Staates den Mantel des Schweigens breitet. Den
Reichen und Superreichen fliegen dagegen immer mehr Geld und
Privilegien ohne jedes weitere Zutun zu, und sie sind froh,
daß sie mit den gegen den Absturz Kämpfenden gar nicht
mehr in Berührung kommen müssen, weil die Zweiteilung der
Gesellschaft vollendete Tatsache ist.



Um ihren Weg zum Heil bis zum bitteren Ende beschreiten zu
können, bedient sich die Fidesz-Regierung einer mehr als
gefährlichen politischen Praxis. Mit der parlamentarischen
Zweidrittelmehrheit und einer autoritär organisierten
Parteistruktur und Abgeordnetenwahlmaschine hat sie alle Schranken
des in Demokratien üblichen Gesetzgebungsprozesses weggefegt
und eine verfassungswidrige, ja sogar rückwirkende
Gesetzgebung zum Alltag gemacht. Das macht aber nichts, denn die
Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes sind schon längst
beschnitten, in Wirtschaftsangelegenheiten darf er gar keine
Entscheidungen mehr treffen. In den Aufsichtsrat der Nationalbank,
in den Rechnungshof und an die Spitze der staatlichen
Finanzaufsichtsbehörde wurden ausnahmslos Vertrauenspersonen
Orbáns bestellt. Sowohl im Währungsrat als auch im
Budgetrat sitzen mehrheitlich regierungstreue Kader. Ein
Finanzministerium existiert nicht mehr, Alleinherrscher in der
Wirtschafts-, Finanz-, Beschäftigungs- und Einkommenspolitik
ist György Matolcsy, der als Superminister und im Einklang mit
dem Fidesz-Chef ohne jegliches Gegengewicht über die Geschicke
der ungarischen Bevölkerung entscheidet. Er bestimmt auch
über Fragen, die in einer gewöhnlichen Staatsstruktur
unzweifelhaft in der Kompetenz anderer Ressorts liegen würden,
so zum Beispiel über die Herabsetzung des Schulpflichtalters
vom 18. auf das 16. Lebensjahr, über die Degradierung von
Frührenten zur Sozialversorgung oder die Beschränkung der
Zahl der Studienplätze von 53000 auf 30000. All dies schafft
eine Atmosphäre, wo weder Eigentum noch menschliche Existenz
weiterhin sicher erscheinen.

Ziel: Mehr Armut



Einige der oben genannten Maßnahmen sollen auch dazu dienen,
das dritte Ziel der ungarischen Wirtschaftspolitik neben
Schuldenabbau und Schaffung der sogenannten breiten Mittelschicht
zu erreichen. Dieses Ziel ist das wettbewerbsfähige Ungarn.
Dazu scheint den neuen ungarischen Machthabern der Abbau
gesetzlicher Garantien, die die Beschäftigten schützen,
ebenso notwendig wie die geplante Senkung der Unternehmenssteuer.
Die Regierung scheint sich da mit dem ungarischen Milliardär
Sándor Demján ganz einig zu sein. Dieser
äußerte sich bei einem Treffen mit chinesischen
Geschäftsleuten im Budapester Hotel Hilton im April ohne Hehl
und Scham folgendermaßen: Der Motor der
Vorwärtsentwicklung sei auch in China die Armut gewesen. Armut
sei die beste Motivation, und diese Bedingung könne auch in
Ungarn geschaffen werden.



Die Zukunft Ungarns entscheidet sich, was die inneren
Voraussetzungen betrifft, daran, ob sich in den Köpfen und der
Psyche der ungarischen Bevölkerung Vernunft und
Selbsterhaltungstrieb oder der für das Land jahrhundertelang
charakteristische Konservativismus, selbstzerstörerischer und
ausgrenzender Nationalismus als stärker erweisen wird. Das
allerdings müßte sich eher schnell herausstellen,
erklärte doch Viktor Orbán in seinem eingangs
erwähnten Interview wortwörtlich: »Ich werde den
Kreis der Zweidrittelgesetze nur in einem Punkt erweitern: dem
Bereich der Wirtschaftsgesetze. Und ich mache auch kein Geheimnis
daraus, daß ich diesbezüglich die Hände der
nächsten Regierung binden möchte. Und nicht nur der
nächsten, sondern der nächsten zehn
Regierungen!«



Sándor Horváth ist freier Journalist und Musiker.
Er lebt in Budapest und Berlin
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