Die Briten sind cool bis zur "stiff upper-lip", gelegentlich sehr ironisch und über sich selbst belustigend. Die Franzosen haben auf einem starken Gerechtigkeitsbewußtsein aufbauende politische Ideale, die sie gern mit Sendungsbewußtsein durchsetzen wollen, auch wenn sie das Zeitalter der Revolutionen hinter sich gelassen haben. Die Deutschen dagegen neigen seit Jahrhunderten zur blinden Romantik und dann auch wieder zu emotionalen Exzessen, vor denen sich die Nachbarn fürchten. In der Realität einer immer weiter globalisierten Welt sind sie intellektuell längst noch nicht angekommen. Das sind nicht nur oberflächliche Verallgemeinerungen sondern ganze Berge aus Körnchen von Wahrheiten.
Zur Realitätsferne der Deutschen gehört ein besonders ausgeprägter Massentrieb, dem man folgt, weil man sich ungern eine eigene Meinung leistet, schon gar nicht, wenn sie eine ausgiebige und mühsame Auseinandersetzung mit den Realitäten fordern würde. Propaganda hatte daher in der deutschen Vergangenheit ein besonders leichtes Spiel. Medien wie BILD können heute sehr leicht Meinung machen, weil, was gedruckt wird und schwarz auf weiß zu lesen ist und massenhaft gelesen wird, kaum noch hinterfragt wird.
Selbst von der Anlage und Aufgabe her sehr seriöse Ämter, wie das Statistische Bundesamt oder die Bundesagentur für Arbeit, kommen mit ihren häufigen Berichten in die größte Nähe zur Propaganda. Journalisten drucken diesen Mist nach, ohne ihn gegen die Originaldaten zu halten oder anders kritisch zu hinterfragen. Dabei ist es einfach, die scheunentorgroßen Diskrepanzen zwischen den amtlichen Presseerklärungen und vor allem deren Überschriften und dem Kleingedruckten der nackten Fakten festzustellen. Weniger einfach, aber umso wichtiger, wäre es, das Nichtgesagte festzustellen, das Verbergen und Unterdrücken von Fakten.
Zu den so derzeit in Deutschland besonders leicht verbreiteten Märchen gehört die Mär vom ewig robusten Arbeitsmarkt. Sie wird immer noch verbreitet, obwohl die Trendwende bereits vor Monaten eingetreten ist. Dazu gehören die Schäuble-Sprüche von der bereits überwundenen Eurokrise. Auch die demographische Zeitbombe wird von fast allen Parteien unter dem Teppich gehalten (einige besonders Verirrte halten sie für eine Erfindung der privaten Versicherungswirtschaft). Das längst und dauerhaft zu Ende gekommene Wirtschaftswachstum wird immer wieder als nur kurzfristig abgetaucht beschworen, die verweste Soziale Marktwirtschaft als putzlebendig in den Raum gestellt. Deutschland soll weiter eine Insel der Seeligen in einem europäischen Meer von Arbeitslosigkeit und Krise bleiben dürfen.
Der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen zerstörerischen Form wird von dieser meist schweigenden Mehrweit als unvermeidbar betrachtet, das alternativenverweigernde TINA-Prinzip der Regierenden ("There Is No Alternative") ohne viel Murren akzeptiert. Sogar qua Selbsternennung als kapitalismuskritisch eingestufte und hier nicht erneut zu benennende Webseiten sehen an den unerträglichen Mängeln vorbei, und schieben die schwere derzeitige Krise nur einigen wildgewordenen Spekulanten und Ober-Bankern und der angeblichen Kasino-Form des Kapitalismus in die Schuhe, ohne das Grundübel des neoliberalen Kapitalismus, nämlich die immer ungleicheren Einkommensverteilung, als eigentliche Ursache zu identifizieren. Schutz gegen chinesisches und anderes Dumping gilt diesen Naivlingen als verwerflicher Protektionismus, der nur unrentable Industriezweige vor der Konkurrenz abschotte. Und noch viel mehr solchen Blödsinns.
"Lieb Vaterland magst ruhig sein" ist noch immer das oberste Gebot einer Mehrheit von Deutschen, wie schon zu Kaisers Zeiten. Solche Mehrheiten wollen nicht ernsthaft gestört werden. Sie reagieren böse gegen jeden, der sie aufwecken und zum Nachdenken bringen möchte.
http://www.jjahnke.net/rundbr95.html#2828
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