(...)
Lerne, soviel du kannst! Helfen wird es trotzdem nicht
Lebenslanges Lernen als fiktive Erzählung
Lerne lebenslang! In
dieser Proklamation ist die Rede von Nützlichkeiten und
Notwendigkeiten, von Programmen und Planungen, von Instrumentarien
und deren Wirksamkeiten. Emotionslos und mit ernstem Unterton wird
proklamiert, dass lebenslanges Lernen unumgänglich sei: zur
beruflichen Weiterentwicklung, zur Senkung von
Beschäftigungslosigkeit, zur Sicherstellung von Wohlstand und
Fortschritt etc. Mit passend interpretierten Datenmaterialien wird
dies unterfüttert und so regelmäßig in Äußerungen von
politischen EntscheidungsträgerInnen, Interessensvertretungen und
Unternehmensführungen propagiert, dass kaum noch Zweifel an der
Realität aufkommen. Genauere Betrachtungen zeigen jedoch damit
verbundene Illusionen, Täuschungen und Fiktionen.
Ich erlaube mir, von
einem vereinfachten Begriff der „Fiktion" auszugehen, der in
vielen Aspekten mit illusionären und täuschenden Aussagen synonym
stehen kann. Als fiktiv bezeichne ich die Erzählung des lebenslangen
Lernens insofern, als einiges an Kreationen mit einfließt, die nicht
eines realen Kerns entbehren, sich aber dennoch der Realität
entheben, indem (auch) Annahmen und Vorstellungen verbreitet werden,
die einer kritischen, realistischen Überprüfung nicht standhalten,
selbst unter der Voraussetzung, dass Realität als brüchig und
uneindeutig verstanden wird. Im Unterschied zu künstlerischen
Fiktionen, die als solche erkennbar sein sollen, sehe ich bei
Fiktionen im gesellschaftlichen Kontext fließende Übergänge zu
Illusionen und Täuschungen: Der fiktive Charakter kann mit
entsprechenden Kenntnissen und kritischer Reflexion offensichtlich
werden, bleibt aber dennoch für viele verborgen. Die Fiktionen
werden selbst von den verbreitenden ProtagonistInnen teilweise als
Realität verstanden. Gleichzeitig lassen sich aber auch viele
handelnde Personen und Institutionen ausmachen, die diese Realität
mit ihren fiktiven Erzählungen vom lebenslangen Lernen gezielt
verschleiern und nach ihren Interessen formen wollen. Fakten werden
verdreht, missinterpretiert, ignoriert. Realitäten werden
ausgeblendet, wegdiskutiert und verschwiegen.
Fiktion 1: Lerne
und Du wirst erfolgreich sein!
In verschiedenen
Ausformulierungen findet sich die Grundaussage: Lerne und Du wirst
erfolgreich sein! Ob nun Weiterbildungskurse damit verkauft werden -
der marktförmige Charakter des Weiterbildungsgeschehens klingt
bereits durch - oder in diversen Karriereseiten diese Aufforderung
platziert wird, die Stoßrichtung bleibt die gleiche: Bemühe Dich um
Weiterbildung, sei ständig lernbereit und -willig, und wenn Du das
Richtige zur richtigen Zeit gelernt hast, wird dem beruflichen Erfolg
nichts im Wege stehen. Damit wird eines deutlich: Wenn von
lebenslangem Lernen die Rede ist, ist damit selten alles Lernen über
die gesamte Lebensspanne gemeint, sondern in erster Linie berufliche
Weiterbildung. Entstehungskontext dieser Konnotation sind zum einen
bildungspolitische Programme, unter anderem der EU, in denen
lebenslanges Lernen weitgehend mit Weiterbildung gleichgesetzt und
von einem wirtschaftlichen Interesse ausgehend berufliche Aspekte in
den Vordergrund gerückt werden.
Auch wenn in
jüngeren Programmen eine Erweiterung des Begriffs stattgefunden hat,
bleibt die beschäftigungsbezogene Konnotation dennoch aufrecht, z.B.
sei aktive Teilhabe an der Gesellschaft nur über
Beschäftigungsbeteiligung erreichbar (vgl. Europäische Kommission
2006). Zum anderen zeigt die Entwicklung im Weiterbildungsgeschehen
auch abseits politischer Programme eine eindeutige Tendenz zur
Vorherrschaft beschäftigungsbezogener Lernaktivitäten. Ich verwende
die Begriffe des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung daher
auch gezielt in diesem berufsorientierten Verständnis. Von der
historischen Entstehung der Erwachsenenbildung als eines
emanzipatorischen und politischen Projekts ist nicht mehr viel übrig.
Zudem ist in letzter Zeit wahrnehmbar, dass der Begriff des „Lernens"
wieder verstärkt Anwendung findet. Ich wage die These, dass ein
Grund darin liegt, dass „Lernen" leichter instrumentalisierbar
ist und scheinbar frei von Interessen verstanden und eingesetzt
werden kann.
Wenn es also heißt,
Lerne und Du wirst erfolgreich sein, werden fiktive Annahmen
mittransportiert. Zunächst wird vermittelt, dass beruflicher
Aufstieg durch Weiterbildung und Lernen möglich sei. Bezug genommen
wird dabei auf Beispielkarrieren, die allerdings eher selten sind.
Hingegen verweisen inzwischen viele Studien darauf, dass beruflicher
Aufstieg durch Weiterbildung kaum möglich ist, dass
Gehaltserhöhungen oder andere Vorteile kaum erreicht werden.
Vielmehr zeichnet sich ab, dass Weiterbildung manchmal gerade noch
dazu dienen kann, den Verbleib am Arbeitsplatz zu sichern.
Zur Nährung der
Fiktion werden Daten gezielt missinterpretiert: Aus der geringeren
Beschäftigungslosigkeit von AkademikerInnen wird vom
Arbeitsmarktservice, von der Bildungspolitik, aber auch von diversen
Kammern inklusive jener, die sich für die Interessen der
Beschäftigten einsetzen sollte, der Schluss gezogen: Höhere
Qualifikation vermindert Beschäftigungslosigkeit, ergo verringert
Höherqualifizierung die Beschäftigungslosenquote. Diesen Aussagen
und dem damit verbundenen Versprechen an beschäftigungslose
Menschen, durch Weiterbildung Zugang zur Beschäftigung zu erhalten,
stehen gleich mehrere Realitäten entgegen: Selbst bei noch so hoher
Lernaktivität entstehen keine neuen Arbeitsplätze und das
Verhältnis offener Stellen zu beschäftigungssuchenden Menschen
verschiebt sich dadurch nur in unerheblichem Ausmaß. Zudem zeigt
sich, dass formale Qualifikationen bei Bewerbungen zwar vorausgesetzt
werden, weitere angeblich notwendige soziale und persönliche
Kompetenzen aber selten ausschlaggebend sind. Wirksamer sind hier
vielmehr soziale, symbolische und kulturelle Kapitalien im Sinne von
Bourdieu. Der Aufforderung zu lernen und dem Versprechen
individuellen Erfolgs stehen also reale, vor allem strukturelle
Bedingungen entgegen, die jene als Fiktion entlarven.
Fiktion 2: Lernen
nützt Dir!
In der zweiten
Fiktion, Lernen nützt Dir, klingen zwei Aspekte durch: Lernen ist
nützlich und Lernen ist vor allem für das lernende Individuum von
Vorteil. Abgesehen von der gerade beschriebenen meist nur geringen
Nützlichkeit steht nun aber die individualisierende Argumentation im
Vordergrund. In bildungspolitischen Programmen ebenso wie in
Marketingstrategien für Weiterbildungsangebote und in der
wissenschaftlichen Diskussion wird häufig der individuelle Vorteil
in den Mittelpunkt gerückt. Lernen und Weiterbildung können zwar
grundsätzlich als individueller Aneignungsprozess, nicht aber
losgelöst vom sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen
verstanden werden. Solidarisches Handeln oder die Bekämpfung von
Ungleichheit sind sogar in manchen Bildungsverständnissen explizite
Orientierungspunkte.
In der nun
vorherrschenden beruflich und utilitaristisch orientierten
Weiterbildung werden diese Gesichtspunkte aber ausgeklammert und
zurückgedrängt, werden individuelle Perspektiven betont. Befragt
nach realistischer oder fiktiver Substanz gilt es festzuhalten, dass
- neben der schon erwähnten geringen nützlichen Auswirkung -
der Individualisierung eine strategische und eine thematische
Dimension innewohnt. Die strategische Dimension äußert sich darin,
solidarisches und an strukturelle Bedingungen gekoppeltes Denken und
Handeln zu verhindern und die individuelle Konkurrenz- und
Leistungsdimension zu betonen. Die thematische Dimension aber ist
ebenso tiefgreifend: Es wird suggeriert, dass jedes Lernen subjektiv
sinnvoll sei. Betrachten wir aber die thematischen Ausrichtungen an
beruflicher Verwertbarkeit und der Nutzung von „Humankapital", so
wird deutlich, dass in erster Linie jene Kräfte von dieser
Weiterbildung profitieren, die sich Profite, Ressourcenoptimierung
und Produktivitätssteigerung erwarten. Von ökonomischem Vorteil
ist, auf eine große Masse gut qualifizierten und lernwilligen
Personals zugreifen zu können, dieses dann allerdings
dequalifizierend einzusetzen, gering zu bezahlen und auszuscheiden,
wenn es „verbraucht" ist. Die Fiktion individuellen Nutzens zeigt
sich auch darin, dass vermutlich viele Erwachsene - hätten sie
wirklich die Wahl - nur geringes persönliches Interesse aufbringen
würde, ihre Kenntnisse in Prozessmanagement, CNC-Fräsen oder
Marketing zu vertiefen.
Fiktion 3: Wenn
Du Lernen willst, kannst Du auch!
Eine Fiktion, die
ebenfalls in engem Zusammenhang zu den beiden bisher diskutierten
steht, ist die Aussage: „Wenn du willst, kannst Du auch!" Damit
wird vermittelt, dass Motivationen und individueller Leistungswille
ausschlaggebend für die Inanspruchnahme und erfolgreiche
Absolvierung von Weiterbildungsmaßnahmen sind. Gleichzeitig wird die
Verantwortung damit wieder individualisiert und ebenso ein
eventuelles Scheitern. Genauere Analysen von Weiterbildungsteilnahme
und -abstinenz zeigen hingegen, dass weiterhin Benachteiligungen,
strukturelle Barrieren und strategische Hindernisse zu Exklusionen
führen. Unterstützungen, Angebotsstrukturen, Möglichkeiten etc.
sind ungleich verteilt. Insbesondere von Benachteiligungen betroffene
Gruppen sind: Frauen, Personen mit Pflichtschulabschluss,
MigrantInnen, Personen mit geistigen oder körperlichen
Beeinträchtigungen, Menschen in Beschäftigungen mit wenig
Handlungsspielräumen etc. (vgl. Holzer 2004). Hier individuellen
Willen als einziges Hindernis hervorzuheben, gleicht einer zynischen
Ignoranz einer Systematik, die zwar Teilhabe verlangt, Ausschluss
aber systematisch betreibt.
Fiktion 4: Lernen
ist notwendig! Lernen an sich ist gut und sinnvoll!
In dieser Fiktion
bewegen wir uns noch stärker von der individuellen Ebene weg hin zu
einer strukturellen und inhaltlichen Dimension. Weiterbildung und
lebenslanges Lernen wird als notwendig und per se gut und sinnvoll
konstruiert, indem auf die Erfordernisse des Beschäftigungsmarktes,
der Gesellschaft und - wieder - auf Sinnhaftigkeiten auf
subjektiver Ebene rekurriert wird. In genauer analytischer
Betrachtung handelt es sich eigentlich um zwei unabhängige
Fiktionen. Ich fasse sie hier allerdings zusammen, weil sehr häufig
die eine mit der anderen argumentiert wird. Eine Argumentationslinie
lautet, dass gesellschaftliche Veränderungen, Fortschritt und
ökonomische Entwicklungen ständiges Lernen erfordern, um nicht
„hinterherzuhinken", nicht „unter die Räder zu kommen" und
„mithalten zu können". Die Rhetorik weist einen deutlich
drohenden Unterton aus. Notwendig ist Lernen also nicht nur auf
individueller Ebene, sondern wird strukturell und gesellschaftlich
argumentiert. Lernen sei notwendig für Standortsicherung, für den
Beschäftigungsmarkt, für wirtschaftlichen Fortschritt. Fatal und
ebenfalls fiktiv ist die rhetorisch und strategisch hervorgerufene
Konnotation dieser Notwendigkeit mit Lernen als hohem Gut an sich.
Diese Verknüpfung rekurriert auf historische Entwicklungsprozesse
von Bildungsverständnissen, die ihren Ausgangspunkt in
humanistischen, aufklärerischen Idealen haben. Diese bürgerliche
Bildungsvorstellung wirkt bis heute fort, ist aber nicht mit aktuell
vorherrschenden nutzbarkeitsorientierten und berufsbezogenen
Weiterbildungsforderungen in Einklang zu bringen. Diese Konnotation
erschwert jedoch, der Argumentation von Notwendigkeiten zu
widersprechen, da sich das Gegenüber darauf berufen kann, dass doch
wohl zumindest die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Lernen und
Weiterbildung nicht in Frage zu stellen sei.
Insbesondere
handelnde Personen der Bildungswissenschaft und -praxis ziehen sich
häufig auf diese Argumentation zurück, ohne weiter zu
differenzieren, von welcher Weiterbildung und welchem Lernen im
jeweiligen Zusammenhang die Rede ist. So wird gerade die Fiktion der
grundsätzlichen Sinnhaftigkeit von jenen Personen hochgehalten, die
als FachexpertInnen wesentlich an der Gestaltung von Lern- und
Bildungsprozessen mitwirken. Die eigene Disziplin kritisch zu
reflektieren und bei Bedarf radikal zu hinterfragen scheint besonders
schwer zu fallen, wird damit doch gleichzeitig das eigene Handeln und
sogar die eigene Person in Frage gestellt.
Lebenslanges Lernen
und Weiterbildung sind aber nicht per se notwendig oder
sinnvoll. Da die Notwendigkeit mit kapitalistischen Interessen
argumentiert wird, würde sich diese erübrigen, sobald andere
Produktionsbedingungen und -verhältnisse durchgesetzt werden
könnten. Außerdem zeigt sich, dass Weiterbildung nicht die
suggerierte Wirkung hat: z.B. werden Standortverlegungen nicht von
Weiterbildungsanstrengungen beeinflusst, sondern von ganz anderen
Kräften und Bedingungen. Ebenso ist Sinnhaftigkeit von Interessen
bestimmt und in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge
eingebettet und entsprechend veränderlich und kontextgebunden. Dass
selbst unter derzeitigen Bedingungen Weiterbildung für Erwachsene
nicht sinnvoll sein muss, zeigen Studien zu Widerstand gegen
Weiterbildung (vgl. Bolder/Hendrich 2000, Faulstich/Bayer 2006). Es
ist also die Frage zu diskutieren, welches Lernen wofür und für wen
notwendig und sinnvoll ist.
Fiktion 5: Lernen
löst...!
Eine letzte Fiktion
sei noch angesprochen: Lernen und Weiterbildung habe Lösungskapazität
für beinahe jede gesellschaftliche Problemstellung. Vom erklärten
Einfluss auf Beschäftigung habe ich bereits gesprochen, hier seien
noch beispielhaft ein paar weitere Problemlagen angeführt, denen mit
Lernen begegnet werden soll. Diese reichen von betrieblichen Abläufen
über ökologische Probleme bis hin zu sozialen Problemlagen, z.B. in
Bezug auf Minderheiten oder Randgruppen. Bei Beschwerden werden
KundInnen besänftigt, indem betriebliche Schulungen versprochen
werden. Müll-, Abgas- oder Energieprobleme führen zu Rufen nach dem
Lernen von ökologisch nachhaltigem Handeln. Schwierigkeiten im
sozialen Zusammenleben unterschiedlicher Lebensentwürfe erfordern
angeblich vor allem Lernanstrengungen (zumeist auf Seiten der
„Problem"gruppe).
Ich möchte nicht
widersprechen, dass Bildung ein Mittel sein kann, gegenseitiges
Verständnis und solidarisches Zusammenleben zu fördern oder für
ökologisches Handeln zu sensibilisieren. Dies sind allerdings
Bildungsprozesse, und Bildung verstehe ich als Ermöglichung
von kritischen, reflexiven Auseinandersetzungen, von
Erkenntnisprozessen, um Komplexitäten zu durchschauen und zu
verstehen und von Handlungserweiterungen, die auch widerständige
Praktiken miteinschließen. Aber auch hierin sind Fiktionen
eingewoben, denn Bildung allein wird ohne soziale Aktion kaum
emanzipatorischen Charakter entwickeln können. Dennoch: Von Bildung
in kritisch-emanzipatorischem Sinn ist selten die Rede, sondern
vielmehr von Lernprozessen im Sinne von Instrumentarien, die selektiv
auf bestimmte Themen und Problemsituationen beschränkt bleiben und
lediglich der Aufrechterhaltung der aktuellen gesellschaftlichen
Verfasstheit dienen. Sowohl Lernen als auch Bildung sind aber in
jedem Fall lediglich ein Teilaspekt gesellschaftlicher Einflussnahme.
Trotzdem wird an der
Fiktion der Pädagogisierung gesellschaftlicher Problemlagen
festgehalten. Obwohl wir prinzipiell immer lernen (das lässt sich
kaum verhindern), ist das nicht dasselbe wie Lernen zum Prinzip zu
erheben, mit dem alle Probleme gelöst werden können.
Problemlösungen erfordern - meist sogar in hohem Ausmaß -
strukturelle Eingriffe in Machtverhältnisse und Bedingungen. Was
nützt die lernende Sensibilisierung für ökologisch sinnvollen
Einkauf von ortsnahen Lebensmitteln, wenn lediglich die Wahl zwischen
z.B. Knoblauch aus China oder Argentinien gegeben ist? Oder: Im Zuge
einer Burnout-Prävention zu lernen, sensibel mit sich selbst
umzugehen, ist nur Symptombekämpfung, solange
Beschäftigungsbedingungen unverändert bleiben.
Die Moral von der
Geschicht':
Hauptsache Lernen - oder nicht?
In den bisherigen
Ausführungen sind die Hintergründe und Ziele der fiktiven Erzählung
von lebenslangem Lernen bereits angeklungen. Sie sollen an dieser
Stelle noch kurz auf den Punkt gebracht werden. Die Dimensionen
reichen von dahinterliegenden kapitalistischen Verwertungsinteressen
bis zu Techniken der Implementierung von Fiktionen im Alltag. Kreiert
werden diese Fiktionen, um das Bild zu schaffen, dass dem Lernen
nicht zu entrinnen sei. Dadurch entsteht eine normative Erwartung an
die Einzelnen, sich ständig lernbereit und -willig zu halten. In den
Erzählungen werden subjektive Vorteile versprochen, für
Zuwiderhandeln wird subtil Strafe angedroht. Damit wird erreicht,
ständig verwertbares „Humankapital" zur Verfügung zu haben, und
die Pflicht und das Risiko der Bereitstellung den Individuen
überantwortet. Spätestens mit den Euphemisierungen subjektiver
Vorteile und den gewollten Anklängen von Lernen und Weiterbildung
als etwas Gutem und Sinnvollem werden gouvernementale Selbsttechniken
implementiert, damit Erwachsene sich ihr Lernen sogar selbst
auferlegen (vgl. Pongratz 2010). Anders Denken und Handeln kann so
verhindert werden, denn es bleibt weder Zeit noch Energie noch Raum
für Bildungsprozesse. Die Fiktionen werden aber hartnäckig
weiter erzählt und als Realitäten akzeptiert und erhalten dadurch
den Charakter gezielter Täuschungen. Diese gilt es kritisch
aufzudecken und weiter die Frage zu verfolgen: Warum lernen und warum
vielleicht auch nicht. Und vor allem auch: was? und wozu?
Literatur
Read more at www.linksnet.deBolder, Axel /
Hendrich, Wolfgang: Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien
lebenslangen Lernens, Opladen 2000.
Europäische
Kommission: Erwachsenenbildung: Man lernt nie aus, Brüssel,
23.10.2006.
Faulstich, Peter
/ Bayer, Mechthild (Hrsg.): Lernwiderstände. Anlässe für
Vermittlung und Beratung, Hamburg 2006.
Holzer, Daniela:
Widerstand gegen Weiterbildung. Weiterbildungsabstinenz und die
Forderung nach lebenslangem Lernen, Wien 2004.
Pongratz, Ludwig
A.: Kritische Erwachsenenbildung: Analysen und Anstöße, Wiesbaden
2010.
Lerne lebenslang! In
dieser Proklamation ist die Rede von Nützlichkeiten und
Notwendigkeiten, von Programmen und Planungen, von Instrumentarien
und deren Wirksamkeiten. Emotionslos und mit ernstem Unterton wird
proklamiert, dass lebenslanges Lernen unumgänglich sei: zur
beruflichen Weiterentwicklung, zur Senkung von
Beschäftigungslosigkeit, zur Sicherstellung von Wohlstand und
Fortschritt etc. Mit passend interpretierten Datenmaterialien wird
dies unterfüttert und so regelmäßig in Äußerungen von
politischen EntscheidungsträgerInnen, Interessensvertretungen und
Unternehmensführungen propagiert, dass kaum noch Zweifel an der
Realität aufkommen. Genauere Betrachtungen zeigen jedoch damit
verbundene Illusionen, Täuschungen und Fiktionen.
Ich erlaube mir, von
einem vereinfachten Begriff der „Fiktion" auszugehen, der in
vielen Aspekten mit illusionären und täuschenden Aussagen synonym
stehen kann. Als fiktiv bezeichne ich die Erzählung des lebenslangen
Lernens insofern, als einiges an Kreationen mit einfließt, die nicht
eines realen Kerns entbehren, sich aber dennoch der Realität
entheben, indem (auch) Annahmen und Vorstellungen verbreitet werden,
die einer kritischen, realistischen Überprüfung nicht standhalten,
selbst unter der Voraussetzung, dass Realität als brüchig und
uneindeutig verstanden wird. Im Unterschied zu künstlerischen
Fiktionen, die als solche erkennbar sein sollen, sehe ich bei
Fiktionen im gesellschaftlichen Kontext fließende Übergänge zu
Illusionen und Täuschungen: Der fiktive Charakter kann mit
entsprechenden Kenntnissen und kritischer Reflexion offensichtlich
werden, bleibt aber dennoch für viele verborgen. Die Fiktionen
werden selbst von den verbreitenden ProtagonistInnen teilweise als
Realität verstanden. Gleichzeitig lassen sich aber auch viele
handelnde Personen und Institutionen ausmachen, die diese Realität
mit ihren fiktiven Erzählungen vom lebenslangen Lernen gezielt
verschleiern und nach ihren Interessen formen wollen. Fakten werden
verdreht, missinterpretiert, ignoriert. Realitäten werden
ausgeblendet, wegdiskutiert und verschwiegen.
Fiktion 1: Lerne
und Du wirst erfolgreich sein!
In verschiedenen
Ausformulierungen findet sich die Grundaussage: Lerne und Du wirst
erfolgreich sein! Ob nun Weiterbildungskurse damit verkauft werden -
der marktförmige Charakter des Weiterbildungsgeschehens klingt
bereits durch - oder in diversen Karriereseiten diese Aufforderung
platziert wird, die Stoßrichtung bleibt die gleiche: Bemühe Dich um
Weiterbildung, sei ständig lernbereit und -willig, und wenn Du das
Richtige zur richtigen Zeit gelernt hast, wird dem beruflichen Erfolg
nichts im Wege stehen. Damit wird eines deutlich: Wenn von
lebenslangem Lernen die Rede ist, ist damit selten alles Lernen über
die gesamte Lebensspanne gemeint, sondern in erster Linie berufliche
Weiterbildung. Entstehungskontext dieser Konnotation sind zum einen
bildungspolitische Programme, unter anderem der EU, in denen
lebenslanges Lernen weitgehend mit Weiterbildung gleichgesetzt und
von einem wirtschaftlichen Interesse ausgehend berufliche Aspekte in
den Vordergrund gerückt werden.
Auch wenn in
jüngeren Programmen eine Erweiterung des Begriffs stattgefunden hat,
bleibt die beschäftigungsbezogene Konnotation dennoch aufrecht, z.B.
sei aktive Teilhabe an der Gesellschaft nur über
Beschäftigungsbeteiligung erreichbar (vgl. Europäische Kommission
2006). Zum anderen zeigt die Entwicklung im Weiterbildungsgeschehen
auch abseits politischer Programme eine eindeutige Tendenz zur
Vorherrschaft beschäftigungsbezogener Lernaktivitäten. Ich verwende
die Begriffe des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung daher
auch gezielt in diesem berufsorientierten Verständnis. Von der
historischen Entstehung der Erwachsenenbildung als eines
emanzipatorischen und politischen Projekts ist nicht mehr viel übrig.
Zudem ist in letzter Zeit wahrnehmbar, dass der Begriff des „Lernens"
wieder verstärkt Anwendung findet. Ich wage die These, dass ein
Grund darin liegt, dass „Lernen" leichter instrumentalisierbar
ist und scheinbar frei von Interessen verstanden und eingesetzt
werden kann.
Wenn es also heißt,
Lerne und Du wirst erfolgreich sein, werden fiktive Annahmen
mittransportiert. Zunächst wird vermittelt, dass beruflicher
Aufstieg durch Weiterbildung und Lernen möglich sei. Bezug genommen
wird dabei auf Beispielkarrieren, die allerdings eher selten sind.
Hingegen verweisen inzwischen viele Studien darauf, dass beruflicher
Aufstieg durch Weiterbildung kaum möglich ist, dass
Gehaltserhöhungen oder andere Vorteile kaum erreicht werden.
Vielmehr zeichnet sich ab, dass Weiterbildung manchmal gerade noch
dazu dienen kann, den Verbleib am Arbeitsplatz zu sichern.
Zur Nährung der
Fiktion werden Daten gezielt missinterpretiert: Aus der geringeren
Beschäftigungslosigkeit von AkademikerInnen wird vom
Arbeitsmarktservice, von der Bildungspolitik, aber auch von diversen
Kammern inklusive jener, die sich für die Interessen der
Beschäftigten einsetzen sollte, der Schluss gezogen: Höhere
Qualifikation vermindert Beschäftigungslosigkeit, ergo verringert
Höherqualifizierung die Beschäftigungslosenquote. Diesen Aussagen
und dem damit verbundenen Versprechen an beschäftigungslose
Menschen, durch Weiterbildung Zugang zur Beschäftigung zu erhalten,
stehen gleich mehrere Realitäten entgegen: Selbst bei noch so hoher
Lernaktivität entstehen keine neuen Arbeitsplätze und das
Verhältnis offener Stellen zu beschäftigungssuchenden Menschen
verschiebt sich dadurch nur in unerheblichem Ausmaß. Zudem zeigt
sich, dass formale Qualifikationen bei Bewerbungen zwar vorausgesetzt
werden, weitere angeblich notwendige soziale und persönliche
Kompetenzen aber selten ausschlaggebend sind. Wirksamer sind hier
vielmehr soziale, symbolische und kulturelle Kapitalien im Sinne von
Bourdieu. Der Aufforderung zu lernen und dem Versprechen
individuellen Erfolgs stehen also reale, vor allem strukturelle
Bedingungen entgegen, die jene als Fiktion entlarven.
Fiktion 2: Lernen
nützt Dir!
In der zweiten
Fiktion, Lernen nützt Dir, klingen zwei Aspekte durch: Lernen ist
nützlich und Lernen ist vor allem für das lernende Individuum von
Vorteil. Abgesehen von der gerade beschriebenen meist nur geringen
Nützlichkeit steht nun aber die individualisierende Argumentation im
Vordergrund. In bildungspolitischen Programmen ebenso wie in
Marketingstrategien für Weiterbildungsangebote und in der
wissenschaftlichen Diskussion wird häufig der individuelle Vorteil
in den Mittelpunkt gerückt. Lernen und Weiterbildung können zwar
grundsätzlich als individueller Aneignungsprozess, nicht aber
losgelöst vom sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen
verstanden werden. Solidarisches Handeln oder die Bekämpfung von
Ungleichheit sind sogar in manchen Bildungsverständnissen explizite
Orientierungspunkte.
In der nun
vorherrschenden beruflich und utilitaristisch orientierten
Weiterbildung werden diese Gesichtspunkte aber ausgeklammert und
zurückgedrängt, werden individuelle Perspektiven betont. Befragt
nach realistischer oder fiktiver Substanz gilt es festzuhalten, dass
- neben der schon erwähnten geringen nützlichen Auswirkung -
der Individualisierung eine strategische und eine thematische
Dimension innewohnt. Die strategische Dimension äußert sich darin,
solidarisches und an strukturelle Bedingungen gekoppeltes Denken und
Handeln zu verhindern und die individuelle Konkurrenz- und
Leistungsdimension zu betonen. Die thematische Dimension aber ist
ebenso tiefgreifend: Es wird suggeriert, dass jedes Lernen subjektiv
sinnvoll sei. Betrachten wir aber die thematischen Ausrichtungen an
beruflicher Verwertbarkeit und der Nutzung von „Humankapital", so
wird deutlich, dass in erster Linie jene Kräfte von dieser
Weiterbildung profitieren, die sich Profite, Ressourcenoptimierung
und Produktivitätssteigerung erwarten. Von ökonomischem Vorteil
ist, auf eine große Masse gut qualifizierten und lernwilligen
Personals zugreifen zu können, dieses dann allerdings
dequalifizierend einzusetzen, gering zu bezahlen und auszuscheiden,
wenn es „verbraucht" ist. Die Fiktion individuellen Nutzens zeigt
sich auch darin, dass vermutlich viele Erwachsene - hätten sie
wirklich die Wahl - nur geringes persönliches Interesse aufbringen
würde, ihre Kenntnisse in Prozessmanagement, CNC-Fräsen oder
Marketing zu vertiefen.
Fiktion 3: Wenn
Du Lernen willst, kannst Du auch!
Eine Fiktion, die
ebenfalls in engem Zusammenhang zu den beiden bisher diskutierten
steht, ist die Aussage: „Wenn du willst, kannst Du auch!" Damit
wird vermittelt, dass Motivationen und individueller Leistungswille
ausschlaggebend für die Inanspruchnahme und erfolgreiche
Absolvierung von Weiterbildungsmaßnahmen sind. Gleichzeitig wird die
Verantwortung damit wieder individualisiert und ebenso ein
eventuelles Scheitern. Genauere Analysen von Weiterbildungsteilnahme
und -abstinenz zeigen hingegen, dass weiterhin Benachteiligungen,
strukturelle Barrieren und strategische Hindernisse zu Exklusionen
führen. Unterstützungen, Angebotsstrukturen, Möglichkeiten etc.
sind ungleich verteilt. Insbesondere von Benachteiligungen betroffene
Gruppen sind: Frauen, Personen mit Pflichtschulabschluss,
MigrantInnen, Personen mit geistigen oder körperlichen
Beeinträchtigungen, Menschen in Beschäftigungen mit wenig
Handlungsspielräumen etc. (vgl. Holzer 2004). Hier individuellen
Willen als einziges Hindernis hervorzuheben, gleicht einer zynischen
Ignoranz einer Systematik, die zwar Teilhabe verlangt, Ausschluss
aber systematisch betreibt.
Fiktion 4: Lernen
ist notwendig! Lernen an sich ist gut und sinnvoll!
In dieser Fiktion
bewegen wir uns noch stärker von der individuellen Ebene weg hin zu
einer strukturellen und inhaltlichen Dimension. Weiterbildung und
lebenslanges Lernen wird als notwendig und per se gut und sinnvoll
konstruiert, indem auf die Erfordernisse des Beschäftigungsmarktes,
der Gesellschaft und - wieder - auf Sinnhaftigkeiten auf
subjektiver Ebene rekurriert wird. In genauer analytischer
Betrachtung handelt es sich eigentlich um zwei unabhängige
Fiktionen. Ich fasse sie hier allerdings zusammen, weil sehr häufig
die eine mit der anderen argumentiert wird. Eine Argumentationslinie
lautet, dass gesellschaftliche Veränderungen, Fortschritt und
ökonomische Entwicklungen ständiges Lernen erfordern, um nicht
„hinterherzuhinken", nicht „unter die Räder zu kommen" und
„mithalten zu können". Die Rhetorik weist einen deutlich
drohenden Unterton aus. Notwendig ist Lernen also nicht nur auf
individueller Ebene, sondern wird strukturell und gesellschaftlich
argumentiert. Lernen sei notwendig für Standortsicherung, für den
Beschäftigungsmarkt, für wirtschaftlichen Fortschritt. Fatal und
ebenfalls fiktiv ist die rhetorisch und strategisch hervorgerufene
Konnotation dieser Notwendigkeit mit Lernen als hohem Gut an sich.
Diese Verknüpfung rekurriert auf historische Entwicklungsprozesse
von Bildungsverständnissen, die ihren Ausgangspunkt in
humanistischen, aufklärerischen Idealen haben. Diese bürgerliche
Bildungsvorstellung wirkt bis heute fort, ist aber nicht mit aktuell
vorherrschenden nutzbarkeitsorientierten und berufsbezogenen
Weiterbildungsforderungen in Einklang zu bringen. Diese Konnotation
erschwert jedoch, der Argumentation von Notwendigkeiten zu
widersprechen, da sich das Gegenüber darauf berufen kann, dass doch
wohl zumindest die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Lernen und
Weiterbildung nicht in Frage zu stellen sei.
Insbesondere
handelnde Personen der Bildungswissenschaft und -praxis ziehen sich
häufig auf diese Argumentation zurück, ohne weiter zu
differenzieren, von welcher Weiterbildung und welchem Lernen im
jeweiligen Zusammenhang die Rede ist. So wird gerade die Fiktion der
grundsätzlichen Sinnhaftigkeit von jenen Personen hochgehalten, die
als FachexpertInnen wesentlich an der Gestaltung von Lern- und
Bildungsprozessen mitwirken. Die eigene Disziplin kritisch zu
reflektieren und bei Bedarf radikal zu hinterfragen scheint besonders
schwer zu fallen, wird damit doch gleichzeitig das eigene Handeln und
sogar die eigene Person in Frage gestellt.
Lebenslanges Lernen
und Weiterbildung sind aber nicht per se notwendig oder
sinnvoll. Da die Notwendigkeit mit kapitalistischen Interessen
argumentiert wird, würde sich diese erübrigen, sobald andere
Produktionsbedingungen und -verhältnisse durchgesetzt werden
könnten. Außerdem zeigt sich, dass Weiterbildung nicht die
suggerierte Wirkung hat: z.B. werden Standortverlegungen nicht von
Weiterbildungsanstrengungen beeinflusst, sondern von ganz anderen
Kräften und Bedingungen. Ebenso ist Sinnhaftigkeit von Interessen
bestimmt und in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge
eingebettet und entsprechend veränderlich und kontextgebunden. Dass
selbst unter derzeitigen Bedingungen Weiterbildung für Erwachsene
nicht sinnvoll sein muss, zeigen Studien zu Widerstand gegen
Weiterbildung (vgl. Bolder/Hendrich 2000, Faulstich/Bayer 2006). Es
ist also die Frage zu diskutieren, welches Lernen wofür und für wen
notwendig und sinnvoll ist.
Fiktion 5: Lernen
löst...!
Eine letzte Fiktion
sei noch angesprochen: Lernen und Weiterbildung habe Lösungskapazität
für beinahe jede gesellschaftliche Problemstellung. Vom erklärten
Einfluss auf Beschäftigung habe ich bereits gesprochen, hier seien
noch beispielhaft ein paar weitere Problemlagen angeführt, denen mit
Lernen begegnet werden soll. Diese reichen von betrieblichen Abläufen
über ökologische Probleme bis hin zu sozialen Problemlagen, z.B. in
Bezug auf Minderheiten oder Randgruppen. Bei Beschwerden werden
KundInnen besänftigt, indem betriebliche Schulungen versprochen
werden. Müll-, Abgas- oder Energieprobleme führen zu Rufen nach dem
Lernen von ökologisch nachhaltigem Handeln. Schwierigkeiten im
sozialen Zusammenleben unterschiedlicher Lebensentwürfe erfordern
angeblich vor allem Lernanstrengungen (zumeist auf Seiten der
„Problem"gruppe).
Ich möchte nicht
widersprechen, dass Bildung ein Mittel sein kann, gegenseitiges
Verständnis und solidarisches Zusammenleben zu fördern oder für
ökologisches Handeln zu sensibilisieren. Dies sind allerdings
Bildungsprozesse, und Bildung verstehe ich als Ermöglichung
von kritischen, reflexiven Auseinandersetzungen, von
Erkenntnisprozessen, um Komplexitäten zu durchschauen und zu
verstehen und von Handlungserweiterungen, die auch widerständige
Praktiken miteinschließen. Aber auch hierin sind Fiktionen
eingewoben, denn Bildung allein wird ohne soziale Aktion kaum
emanzipatorischen Charakter entwickeln können. Dennoch: Von Bildung
in kritisch-emanzipatorischem Sinn ist selten die Rede, sondern
vielmehr von Lernprozessen im Sinne von Instrumentarien, die selektiv
auf bestimmte Themen und Problemsituationen beschränkt bleiben und
lediglich der Aufrechterhaltung der aktuellen gesellschaftlichen
Verfasstheit dienen. Sowohl Lernen als auch Bildung sind aber in
jedem Fall lediglich ein Teilaspekt gesellschaftlicher Einflussnahme.
Trotzdem wird an der
Fiktion der Pädagogisierung gesellschaftlicher Problemlagen
festgehalten. Obwohl wir prinzipiell immer lernen (das lässt sich
kaum verhindern), ist das nicht dasselbe wie Lernen zum Prinzip zu
erheben, mit dem alle Probleme gelöst werden können.
Problemlösungen erfordern - meist sogar in hohem Ausmaß -
strukturelle Eingriffe in Machtverhältnisse und Bedingungen. Was
nützt die lernende Sensibilisierung für ökologisch sinnvollen
Einkauf von ortsnahen Lebensmitteln, wenn lediglich die Wahl zwischen
z.B. Knoblauch aus China oder Argentinien gegeben ist? Oder: Im Zuge
einer Burnout-Prävention zu lernen, sensibel mit sich selbst
umzugehen, ist nur Symptombekämpfung, solange
Beschäftigungsbedingungen unverändert bleiben.
Die Moral von der
Geschicht':
Hauptsache Lernen - oder nicht?
In den bisherigen
Ausführungen sind die Hintergründe und Ziele der fiktiven Erzählung
von lebenslangem Lernen bereits angeklungen. Sie sollen an dieser
Stelle noch kurz auf den Punkt gebracht werden. Die Dimensionen
reichen von dahinterliegenden kapitalistischen Verwertungsinteressen
bis zu Techniken der Implementierung von Fiktionen im Alltag. Kreiert
werden diese Fiktionen, um das Bild zu schaffen, dass dem Lernen
nicht zu entrinnen sei. Dadurch entsteht eine normative Erwartung an
die Einzelnen, sich ständig lernbereit und -willig zu halten. In den
Erzählungen werden subjektive Vorteile versprochen, für
Zuwiderhandeln wird subtil Strafe angedroht. Damit wird erreicht,
ständig verwertbares „Humankapital" zur Verfügung zu haben, und
die Pflicht und das Risiko der Bereitstellung den Individuen
überantwortet. Spätestens mit den Euphemisierungen subjektiver
Vorteile und den gewollten Anklängen von Lernen und Weiterbildung
als etwas Gutem und Sinnvollem werden gouvernementale Selbsttechniken
implementiert, damit Erwachsene sich ihr Lernen sogar selbst
auferlegen (vgl. Pongratz 2010). Anders Denken und Handeln kann so
verhindert werden, denn es bleibt weder Zeit noch Energie noch Raum
für Bildungsprozesse. Die Fiktionen werden aber hartnäckig
weiter erzählt und als Realitäten akzeptiert und erhalten dadurch
den Charakter gezielter Täuschungen. Diese gilt es kritisch
aufzudecken und weiter die Frage zu verfolgen: Warum lernen und warum
vielleicht auch nicht. Und vor allem auch: was? und wozu?
Literatur
Bolder, Axel /
Hendrich, Wolfgang: Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien
lebenslangen Lernens, Opladen 2000.
Europäische
Kommission: Erwachsenenbildung: Man lernt nie aus, Brüssel,
23.10.2006.
Faulstich, Peter
/ Bayer, Mechthild (Hrsg.): Lernwiderstände. Anlässe für
Vermittlung und Beratung, Hamburg 2006.
Holzer, Daniela:
Widerstand gegen Weiterbildung. Weiterbildungsabstinenz und die
Forderung nach lebenslangem Lernen, Wien 2004.
Pongratz, Ludwig
A.: Kritische Erwachsenenbildung: Analysen und Anstöße, Wiesbaden
2010.
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