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VERLINKT
Fahrende Züge
Ein Online-Journalist enthüllt, wie Newsseiten ihre Texte prominent platzieren
Oliver Miller kennt die Abgründe des Online-Journalismus. Er steckte mal mittendrin. Millers Job war es, Artikel über Fernsehserien zu schreiben und auf aoltv.com, der TV-Service-Seite von AOL, zu veröffentlichen. Der Medienkonzern schickte ihm dafür Videoclips der Shows. Die waren etwa eine Minute lang, manchmal zwei. Dann sollte Miller so tun, als habe er die ganze Sendung gesehen und etwas darüber schreiben. Irgendetwas. Egal was. Er hatte dafür 25 Minuten Zeit.
Ob die Artikel inhaltlich oder sprachlich korrekt waren, interessierte bei AOL niemanden. Nur ein Artikel, der in Googles Suchergebnislisten weit oben landete und deshalb oft angeklickt wurde, war ein guter Artikel.
Um sicherzustellen, dass Google den Text bei möglichst vielen Suchabfragen möglichst prominent platziert, stellt AOL seinen Autoren das "Blogsmith Demand Tool" bereit. Damit können sie verfolgen, welche Themen im Netz gerade besonders gefragt ist. Auf diese fahrenden Züge sollen die Schreiber aufspringen und möglichst sogar zwei dieser populären Themen in einer Story kombinieren.
Das ist wie Malen nach Zahlen als journalistische Darstellungsform. Die Masse gibt die Schlagworte vor, und der Autor reiht sich brav ein und schreibt, was von ihm erwartet wird. Thematisch drehen sich die Nachrichten dann im Kreis. Ähnliche Mechanismen gibt es auch hierzulande. Auf deutschen Nachrichten-Websites bestehen 80 Prozent aller Artikel aus demselben Agenturmaterial, wie Focus-Online-Geschäftsführer Oliver Eckert kürzlich über eine Auswertung auf der Sammelseite nachrichten.de herausgefunden haben will.
Das passiert unter anderem, weil sich die Redaktionen gegenseitig beobachten und ihre Themen angleichen, wenn sie glauben, dass ein Konkurrent eine starke Geschichte gefunden hat - oder wenn sie sehen, dass ein Thema bei Google News ganz weit oben steht.
Ich will das gar nicht mal komplett verdammen. Denn nicht jeder User benutzt ständig mehrere Nachrichtenseiten. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass es auch andere Angebote gibt, die nach ganz eigenen Kriterien gewichten. Eine davon ist byliner.com - ein Projekt aus den USA, bei dem die Redakteure alle Themen und Texte nach einem ganz einfachen System auswählen: Sie müssen gut sein. Das ist alles.
Dort habe ich auch die Story von Oliver Miller entdeckt, der sie unter dem Titel "Ein AOL-Sklave spricht" veröffentlicht hat. Sie endet so: "Durch das Netz gibt es mehr Leser auf der Welt als jemals zuvor. Und doch sind die Autoren wertloser als je zuvor... Im Zeitalter der Internetnachrichten sind Google-Keywords wichtig. Normale Wörter nicht so sehr."
Read more at www.berlinonline.deIch hoffe, er hat sich mit seinem Artikel wenigstens ein bisschen selbst widersprochen.
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