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"Eine andere Gesellschaft muss auch eine liebevollere sein" (Teil 3)
GWR-Redakteur Bernd Drücke und Konstantin Wecker im Gespräch
Am 21. Februar 2010 trafen sich der Liedermacher, Komponist und Autor Konstantin Wecker und Graswurzelrevolution-Redakteur
Bernd Drücke in Kassel zu einem zweistündigen Gespräch. Anknüpfend an
die im April in der GWR 348 und im Mai in der GWR 349 veröffentlichten
Teile des Interviews drucken wir hier den letzten Teil ab. (GWR-Red.)
GWR: Du verstehst Dich als Pazifist.
Konstantin Wecker: Ja. Ich werde oft gefragt, und mich haben
auch meine Söhne gefragt, warum ich denn immer wieder vom Pazifismus
spreche und warum ich mich mit mir selbst auf die Gewaltfreiheit
geeinigt habe.
Das ist ja etwas, das man nur mit sich selbst ausmachen kann. Ich kann
zu dir nicht sagen: „Sei du gewaltfrei." Ich kann nur hoffen, dass du
es bist, vor allem, wenn wir Streit haben.
Vor allem, wenn man älter wird, gegen Ende seines Lebens, fragt man
sich, wie man seine Haltung wirklich vertreten kann, auch über die
Zeiten hinweg. Du kannst dich als 20-Jähriger für eine bestimmte Sache
begeistern, die du gerade im Moment toll findest. Ob sich das über die
Zeit halten lässt, ist ungewiss. Also, wenn du z.B. als 17-Jähriger
dummerweise begeistert warst von der Hitlerjugend, dann wird dich das
dein Leben lang belasten, auch wenn du ein paar Jahre später klug wirst
und erkennst, dass das ein absoluter Blödsinn war. Albert Schweitzer
ist für mich ein großes Vorbild, mit seiner Ethik, dieser Ehrfurcht vor
allem Lebendigem.
Die Gewaltfreiheit und diese bedingungslose Liebe zu allem, was lebt,
das ist etwas, was alle Systeme und alle Zeiten als guter und schöner
Gedanke überdauern wird. Es gab ja nur einen Einzigen, der die
Gewaltfreiheit wirklich so konsequent auch zu einem Politikum machen
konnte, und das war Gandhi. Und um Gandhi zu sein, muss man ein sehr
besonderes Leben führen. Ich meine, der Mann hat sich sehr im Griff
gehabt. Man wird nicht einfach so Gandhi, weil man ihn toll findet.
GWR: Also, ich sehe Gandhi nicht unbedingt als Vorbild. Ich meine,
er hatte ja auch, wie jeder Mensch, Fehler und Macken. Es gibt in der
Geschichte viele Beispiele für erfolgreichen gewaltfreien Widerstand,
und besonders viele, die nicht so bekannt sind. Gandhi ist bis heute
natürlich der prominenteste gewaltfreie Revolutionär. Vor allem auch
deshalb, weil der von ihm inspirierte und international populär
gemachte Zivile Ungehorsam gegen die britische Kolonialherrschaft sehr
erfolgreich war und letztlich 1947 zur Unabhängigkeit Indiens führte.
Konstantin Wecker: Aber gerade Menschen mit Fehlern und Macken
eignen sich doch zu Vorbildern! Den Fehlerfreien trau ich nicht. Das
wirklich Vorbildliche an Gandhis Gewaltfreiheit ist doch, dass er eine
wirklich große politische Wirkung hatte. Aber es gibt natürlich viele
andere Beispiele, gar keine Frage, die werden nur nie thematisiert. Das
wäre mal etwas, was Ihr machen könntet, ein Sonderheft, in dem genau
die ganzen Beispiele aus der Geschichte genannt werden.
GWR: Es gibt das Graswurzelrevolution-Sonderheft „Anarchismus und Gewaltlose Revolution heute", mit vielen Beispielen.
Konstantin Wecker: Toll! Das interessiert mich sehr. Da habe ich noch geschichtlichen Nachholbedarf. Kannst Du mir das zuschicken?
Im Verlag Graswurzelrevolution ist auch das Buch „Zeiten des
Kampfes" von Clayborne Carson erschienen. Dort geht es um das Student
Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des
afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren. Da wird u.a.
die Geschichte der antirassistischen „Bus-Bewegung" erzählt, wo sich
die Schwarzen in den Südstaaten der USA demonstrativ in die Busse
gesetzt haben, die „nur für Weiße" erlaubt waren. Das sind großartige
Beispiele für die Effektivität des Zivilen Ungehorsams. Das SNCC war
eine bedeutende Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung [vgl.
GWR 347]. Es wurde 1960 von schwarzen und weißen StudentInnen
gegründet. Dabei wurde die dominierende Rolle Martin Luther Kings, der
gegen Ende der fünfziger Jahre durch den von ihm geleiteten Busboykott
in Montgomery die Führungsfigur der US-Bürgerrechtsbewegung war,
konstruktiv in Frage gestellt. Das SNCC war der radikale Flügel der
gewaltfreien Bewegung. Es organisierte u.a. Protestaktionen und
Sit-Ins, gründete Kooperativen und Gesundheitszentren und kämpfte für
die Alphabetisierung der schwarzen Landbevölkerung.
Konstantin Wecker: Was ich auch sehr spannend finde, ist der
Schnittpunkt zur spirituellen Szene - das wird sicher nicht so sehr
Euer Thema sein, aber es ist das meine. Es gibt immer mehr
bewundernswerte Leute, wie zum Beispiel den Bernard Glassmann. Das ist
ein amerikanischer Zen-Buddhist, der der Meinung ist, dass man
Erleuchtung heute nicht mehr in erster Linie dadurch erreicht, indem
man sich auf einen Berg zurückzieht, sondern durch tätiges Mitfühlen.
Er lebt und arbeitet seit 30 Jahren auf bewundernswerte Weise z.B. mit
Obdachlosen in New York. Jedes Jahr in der Weihnachtszeit verbringt er
wochenlang im eiskalten New York mit Obdachlosen zusammen unter der
Brücke. Für Euch ist sicher auch interessant, dass er eine Bäckerei
gegründet hat, die sehr erfolgreich ist. Die ist genossenschaftlich
aufgebaut, jeder verdient das Gleiche. Also: es geht. Es gibt mehrere
solcher Projekte. Er kriegt immer wieder Ärger mit Leuten aus der
spirituellen Szene, die sagen, er müsse dann doch lieber eine Woche ein
Schweigeretreat machen. Dann sagt er: „Ja, das mag schon sein, aber
wenn die Leute mich brauchen, dann ist das wichtiger als ein
Schweigeretreat." Er ist trotzdem ein praktizierender Zen-Meister, der
am Tag sicherlich auch seine ein, zwei Stunden meditiert. Aber er
setzt das mit in die Tat um. Es gibt immer mehr spirituelle Menschen,
die das ähnlich machen. Diese Leute halte ich im Endeffekt auch für
Anarchisten, auch wenn sie es nie so nennen würden. Es geht ihnen in
den Modellen, die sie aufbauen, um Gewaltfreiheit und
Herrschaftslosigkeit. Es gibt in diesen Modellen keine Herrscher, das
ist anders als bei der spirituellen Führer-Szene. Das ist eine andere
Generation von Menschen, das ist hochinteressant. Mich interessiert es,
weil ich meditiere. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich
praktizierender Buddhist bin, aber im Endeffekt ist auch fast jeder
Moment, in dem ich am Klavier improvisiere, Meditation. Das verschafft
einem auch Einblicke in das Mysterium des Daseins und den Weg hin zur
Liebe. Ein interessanter Weg des Mannes übrigens. Der Mann ist ja in
unserer Gesellschaft der, der geliebt werden will. Das wollen alle, das
ist klar, aber man hat erst einmal nicht so viel Bezug zum aktiven
Lieben. Man ist sehr gut im Geliebt Werden und erschüttert, wenn man
nicht mehr geliebt wird, keine Frage. Das Geliebt Werden ist eine
trügerische Geschichte. Es ist hübsch, wenn es dir passiert, aber es
ist nicht deine eigene Entscheidung, es ist nicht deines, es ist kein
aktives Handeln von dir, sondern du musst immer darauf warten, ob du
das Glück hast, dass du geliebt wirst. Derjenige, der dich liebt, kann
dich auch verlassen und plötzlich einen anderen haben.
Deine Liebe, die hast du wirklich. Wenn du liebst, dann liebst du. Das
kann dir niemand nehmen. Das ist in Eigenverantwortlichkeit. Geliebt
Werden ist dagegen nie in Eigenverantwortlichkeit.
Als junger Mann war ich stolz darauf, wenn viele Mädchen nach mir
schmachteten. Ich war der klassische Macho und fand das toll - „ja, die
Susi, die ist auch noch verliebt in mich" - und habe vor andern Jungs a
bisserl angeben können. Die haben das genauso gemacht.
So viel hat man gar nicht davon gehabt, weil ja jeder damit angegeben
hat. Aber ich hatte damals schon immer den Verdacht, dass es diejenige
„Susi", die einen schmachtend geliebt hat, eigentlich viel besser hat!
Bei mir war so eine Leere da, dieses Gefühl, dass da jemand auf mich
steht, hat mir nichts gegeben. Während auch derjenige, der unglücklich
geliebt hat, etwas hat. Der hat gelebt. Wir sind so eine leblose
Gesellschaft geworden, durch dieses ganze Konkurrenzdenken, durch
dieses Berühmt-Sein-Wollen, Geliebt-Werden-Wollen. Wenn du heute einen
Jugendlichen fragst, kannst du erstaunliche Antworten bekommen. Ich
habe eine 16-Jährige gefragt, was sie denn beruflich machen will, da
sagte sie mir: „Ich will berühmt werden." Da fragte ich: „Mit was
denn?" Darauf sie: „Das ist mir ganz egal." Berühmt werden als Beruf!
Hochinteressant. Aber das ist kein Leben, es ist immer nur eines im
Blickwinkel der anderen, es ist eine Schatulle,
es ist ein virtuelles Dasein. Ein eigenes, selbstverantwortliches,
gelebtes Leben, da müssen wir wieder hinführen. Und das führt einen
dann automatisch auch zur Liebe.
GWR: Und zur Anarchie?
Konstantin Wecker: Vielleicht. Nach meinem Verständnis vertraut
die Anarchistin, der Anarchist dem Menschen, er vertraut, dass er
liebevoll genug, selbstständig genug ist und keine Herrschaftskreise
braucht, die ihn lenken, leiten und führen. Also hat es viel mit
Vertrauen und Liebe zu tun.
GWR: Vielleicht noch etwas Persönliches. Die Homepage „Hinter den Schlagzeilen" machst Du zusammen mit Deiner Frau Annik?
Konstantin Wecker: In den ersten Jahren hat Annik die Website
mit mir zusammen gemacht. Jetzt macht sie ihre eigenen Projekte und ist
beruflich unglaublich involviert in ihre Bücher und Backen und...
GWR: Wir haben ihr Kochbuch „Anniks göttliche Kuchen" auch zuhause.
Konstantin Wecker: Toll! Es macht Freude, das nach zu backen.
Annik hat jetzt für dieses Buch bei Paris einen Sonderpreis des World
Cooking Award bekommen. Sehr schön.
Sie hat www.hinter-den-schlagzeilen.de
(HDS) anfangs gemacht. Jetzt, seit zwei, drei Jahren, habe ich den
Redakteur Roland Rottenfußer eingestellt. Er hat mit mir auch das
Interview für den Zeitpunkt gemacht. Der wiederum kam von der Connection.
Connection kennst Du wahrscheinlich?
GWR: Connection e. V., der antimilitaristische Verein aus Offenbach?
Konstantin Wecker: Nein, ich meine die Zeitung Connection.
Das ist eine spirituelle Zeitschrift. Eine sehr vernünftige übrigens,
die auch selbstkritisch-ironisch ist und sich total abhebt von den
spirituellen Engelsblättern.
Und dann habe ich jetzt noch den „Prinz Chaos", der auch immer
wieder mal etwas für „HDS" schreibt. Wir versuchen das jetzt
auszuweiten. Ich habe meinen Internet-Auftritt verändert.
Das ist gut. Die Zugriffe haben gezeigt, dass es einen Sinn hat. Man
muss dazu natürlich sagen, dass ich nicht das ausgesprochene
Netz-User-Publikum habe. Ein Großteil meines Publikums, das sind in der
Regel nicht die ganz jungen Leute. Aber es gibt mittlerweile genügend
Computerkurse für Senioren. Und „der fleißige Senior" ist schon ganz
gut dabei, er lässt sich von jemandem Internet und E-Mail einrichten
und dann...
Ich habe neulich eine 90-Jährige kennen gelernt, die sagte: „Ich will
jetzt E-Mail!"
Das hat sie hingekriegt, jetzt mailt sie.
GWR: ... Du bist bei Deinem gestrigen Konzert in Kaufungen auch auf
Goethe eingegangen. Er hat übrigens Anarchie zuerst, wie üblich, als
negativen Begriff verwendet und mit Chaos und Terror gleichgesetzt. Im
Alter hat sich das bei ihm deutlich geändert. 1787 hat er noch
gepoltert: „Mir ist von Jugend auf Anarchie verdrießlicher gewesen als
der Tod selbst." 1808 hörte sich das dann so an: „Ob wir gleich, was
Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamen Anarchie leben, die
uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint, so ist
es doch eben diese
Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite ins Enge, aus der
Zerstreuung zur Vereinigung treiben muss." 1821 verwendete er den
Begriff schließlich positiv:
„Warum mir aber in neuester Welt Anarchie gar so gut gefällt? Ein jeder
lebt nach seinem Sinn. Das ist nun also auch mein Gewinn. Ich lass
einem jeden sein Bestreben, um auch nach meinem Sinn zu leben."
Konstantin Wecker: Das ist amüsant. Also, Goethe hat am Schluss
dann eigentlich alles gewusst. Ein solches Leben ist erstaunlich. Ich
weiß nicht, woher er seinen Zugriff hatte.
Wir können ja noch so sehr glauben, dass wir mit unserem Denken auch
nur annähernd die Welt erfassen können.
Aber selbst wenn wir nicht nur 20 % unseres Hirns verwenden, sondern
100, wir haben keine Chance, in das Mysterium auch nur irgendwie
einzudringen, außer über die Inspiration, die Poesie, die Musik. Wie
Nietzsche so schön sagte: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum." Die
Musik ist eine non-rationale Sprache. Deswegen ist sie aber nicht
dümmer. Sie ist eine eigene Sprache, die dich weiterführt, weiser macht
und bereichert.
GWR: Was bedeutet es für Dich, Anarchist zu sein?
Konstantin Wecker: Es bedeutet nicht das, was normalerweise in
der Gesellschaft geglaubt wird, wenn jemand sagt: „Ich bin Anarchist".
In den achtziger Jahren war ich Gast einer ARD-Talkshow von Alfred
Biolek. Da fragte mich Biolek nach meiner politischen Einstellung. Und
da sagte ich: „Ja, ich bin Anarchist." Da stockte der Atem im Raum, ich
habe das genau gemerkt. Den Leuten stockte der Atem, weil die RAF noch
existierte und die Medien sie immer als „anarchistisch" bezeichneten [obwohl die marxistisch-leninistische Rote Armee Fraktion den Anarchismus als „kleinbürgerlich-pseudorevolutionär" ablehnte, Anm. BD].
Ich habe dann versucht, das zu erklären. Das war kaum mehr möglich,
weil da etwas im Raum war, weil die Leute gedacht haben, der Mann, der
zieht jetzt sofort die Bombe raus und zerstört dieses Studio.
Anschließend kamen unglaubliche Leserbriefe an: Bis jetzt sei ich ihnen
so sympathisch gewesen, wie könne ich so etwas sagen! Ich sagte das
genau aus diesem Gedanken heraus, den wir jetzt so entwickeln, erstens
als Künstler und zweitens, weil ich an die Liebe glaube. Ich habe
wörtlich gesagt, dass ich an das Gute im Menschen glaube und daran,
dass der Mensch sich selbst verantworten und selbst bestimmen kann. Es
ist interessant, wie die Herrschenden immer wieder die Begriffe für
sich erobern. Bestes Beispiel in der letzten Zeit ist das Wort
„Reform". „Reform" war bis jetzt immer etwas, was zu einer gerechteren
Situation führt. Mittlerweile nennt man „Reform" etwas, das dazu führt,
dass es den Armen noch schlechter geht und den Reichen besser. Das sind
„Reformen"! Man hat dieses gut besetzte Wort für sich verwendet.
Prekariat statt Armut, Friedensmission statt Krieg und vieles mehr. Da
ist die Konterrevolution, da sind die Neoliberalen mit ihren „Think
Tanks" schon sehr clever. Es ist schade, dass es viele Worte gibt, die
sie für sich erobert haben. Für mich als Poeten geht es auch darum, die
Hoheit des Wortes zurück zu erobern.
GWR: Das war ein schönes Schlusswort. Ich danke Dir herzlich für das Gespräch.
Interview: Bernd Drücke
Read more at linksnet.deInfos zu und von Konstantin Wecker:
www.hinter-den-schlagzeilen.de
Kontakt:
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 350, Sommer 2010, www.graswurzel.net
09.06.2010
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