Originalarbeit Medikamentierte Wut
Wie Jungen mit einer AD(H)S um Selbstkontrolle ringen [Forum der Psychoanalyse]
Wie Jungen mit einer AD(H)S um Selbstkontrolle ringen [Forum der Psychoanalyse]
Rolf Haubl1 (1) Myliusstrasse 20, 60323 Frankfurt am Main, Deutschland Zusammenfassung In der Perspektive einer psychoanalytischen Sozialpsychologie lässt sich die Genese der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), die zu den häufigsten psychosozialen Störungen des Kindes- und Jugendalters bei Jungen gehört, nicht einfach neurowissenschaftlich erklären. Dies ist ein Reduktionismus, der ausblendet, dass sich ein neuronales Defizit an Selbstkontrolle gar nicht bestimmen lässt, ohne Selbstkontrolle als ein historisch-kulturell-gesellschaftlich bestimmtes Anforderungsprofil der Affektregulation zu konzeptualisieren. Damit wird eine sozialcharakterologische Analyse der Störung notwendig. Jede Gemeinschaft und Gesellschaft mutet ihrem Nachwuchs per Sozialisation und Erziehung zu, Fremdkontrolle in Selbstkontrolle zu transformieren, sodass gewollt wird, was gesollt wird. Dieser Prozess ist konfliktreich und läuft auf eine Anpassung hinaus, in der die Konflikte mehr oder weniger stillgestellt sind. Moderne Gesellschaften propagieren eine Selbstkontrolle, die zu einer Spontaneität integrierenden Selbstfürsorge ermäßigt ist. Deren Erwerb verlangt Kindern und Jugendlichen die Bewältigung von Widersprüchen ab: In einer auf Zerstreuung angelegten Konsumkultur sollen sie sich konzentrieren, in einer Kultur, die dem Erfolg huldigt, sollen ihnen Enttäuschungen nichts ausmachen. Vor allem Jungen haben damit aber Probleme. Sie erwerben nur schwer die emotionale Kompetenz, aggressive Erregungen, die sie infolge von Enttäuschungen erleben, gleichermaßen zweckdienlich wie sozial verträglich zu regulieren. Fehlt ihnen diese Kompetenz, dann erleben sie eine blinde Wut, der sie sich wie einer Naturgewalt gegenüber ausgeliefert fühlen. Von den 60 Jungen, die in dem hier vorgestellten Forschungsprojekt über ihre ADHS-Medikation befragt worden sind, erleben sich die meisten so. Begnügt sich die Behandlung entgegen den Empfehlungen aller Konsensuskonferenzen, aber nichtsdestotrotz sehr viel häufiger als bislang bekannt auf die Verabreichung von Medikamenten, dann wird zwar die aggressive Erregung gedämpft, ohne dass die Betroffenen Einsicht in die zivilisierende Funktion des Aggressionsverzichts erhalten. Ohne aber den Sinn des eigenen Handelns zu verstehen, bleiben sie sich selbst dauerhaft fremd. Rage under medication: The struggle of ADHS-boys for self control
Abstract Considering the attention deficit hyperactivity disorder (ADHS), the most common disorder of male children and young boys, from the perspective of a psychoanalytic social psychology, one cannot explain its genesis solely in terms of neuroscience. It would be reductionism ignoring the fact, that it is not possible to define a neuronal deficit of self control without conceptualizing self control as a historically and culturally determined requirement profile of affect regulation. Thus, a social characterological analysis of the disorder is required. Every community and society expects their children to learn in the course of their socialization and education to transform external control into self control, in order to want to do, what is to be done. This process is conflict-ridden and aims at an adaptation by which conflicts are more or less defused. Modern societies propagate a sort of self control which is reduced to self-management with integrated spontaneity. Acquiring such self-management requires from children and adolescents to cope with contradictions. They should concentrate in a consum culture which is oriented on distraction. They should cope trouble-free with disappointments in a culture which is oriented on success. But first of all the boys have difficulties to achieve this. They have difficulties in acquiring the emotional competencies needed for the regulation of aggressive excitements due to disappointments appropriately and in socially acceptable form as well. Lacking this competencies they feel themselves at the mercy of fierce rage as if it was a force of nature. This is the self experience of the 60 boys who were questioned about their ADHS medication in the here presented research project. If the treatment is - against all consensus conferences - limited to medication and this is much more often the case as so far known -, then the aggressive excitement is reduced indeed, but the patients do not obtain insight into the civilizing function of restraining aggression. And without understanding the sense of the own action they remain in the long run strangers to themselves.
Rolf Haubl Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main sowie Direktor der Sigmund-Freud-Instituts; Gruppenlehranalytiker, Supervisor. Forschungsgebiete: Krankheit und Gesellschaft, Emotionsregulation, Beratungsforschung. Letztes Buch: zusammen mit Volker Caysa (2008) "Hass und Gewaltbereitschaft". Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. (Siehe auch Heft 4, 2008.) Auch wenn der nosologische Status der AD(H)S umstritten bleibt (Timimi 2002, 2005), ist es unstrittig, dass viele der auffälligen Kinder und Jugendlichen ihre Mitmenschen auf eine schwer erträgliche Geduldsprobe stellen. Sie sind schnell frustriert, sehr impulsiv und wenig rücksichtsvoll. Das macht sie für ihre Familien (Johnston u. Mash 2001) und mehr noch für weniger vertraute Bezugspersonen unberechenbar. Nicht nur Erwachsene, auch Gleichaltrige gehen ihnen oft aus dem Weg, weil sie nicht wissen, woran sie mit ihnen sind (Landau et al. 1998). Das auffällige Verhalten von AD(H)S-Kindern und -Jugendlichen lässt sich als Auswirkung einer mangelnden Selbstkontrolle interpretieren (Barkley 1997), als dessen neurobiologisches Korrelat ein Strukturierungsdefizit des Frontalhirns vermutet wird (Denckla 1996). Zwar kennen die meisten der betroffenen Heranwachsenden die soziokulturellen Regeln, nach denen ihre Mitmenschen handeln; sie selbst sind aber nicht fähig, diese Regeln einzuhalten, sogar dann nicht, wenn sie die Regeln einhalten wollen (Nigg 2001). Mehr noch: Nicht wenige von ihnen leiden daran, dass es ihnen nicht einmal gelingt, das zu tun, was sie gerne tun. So berichtet der 8-jährige Justus, einer von 60 Jungen, mit denen wir in einem von der Köhler-Stiftung finanziell unterstützten Forschungsprojekt zum Selbstbild medikamentös behandelter Kinder mit einer AD(H)S-Diagnose ausführlich gesprochen haben (Haubl u. Liebsch 2008, 2009), dass er ständig unruhig ist. Als Beleg beschreibt er folgende Situation: "Weil, wenn ich etwas malen wollte oder so, dann bin ich dauernd weggegangen und dann wollte ich auf einmal nicht mehr malen." ["Und du hättest aber gerne lieber gemalt?"] "Hhm" (zustimmend). "Aber ich bin ja dauernd weggerannt." Und im Fall des ebenfalls 8-jährigen Leon sind es speziell seine Augen, die er nicht unter Kontrolle bringt: "Aber es fällt mir immer schwer, wenn ich jetzt schreiben will, dann kommt-, dann gucken meine Augen also direkt in die entgegengesetzte Richtung immer. Meine Augen gucken dann immer in die andere Richtung". "Ich will ja mit den Augen hingucken, aber dann irgendwie hab ich keine Lust drauf. Aber ich will eigentlich." Ohne Medikament, da sind sich die beiden Jungen mit den meisten anderen derer, mit denen wir gesprochen haben, einig, wären sie dem Zwang, den sie beschreiben, hilflos ausgeliefert. Denn sie erleben ihren Körper buchstäblich als eigenwillig: als mit einem eigenen Willen ausgestattet. Die Tabletten helfen ihnen, sich besser zu kontrollieren. Die AD(H)S gilt als geschlechtsspezifisch verteilt. Allerdings ist die Annahme von Geschlechtsunterschieden weniger belastbar als oftmals referiert. Denn immer dann, wenn Beurteilungsbögen zur Erfassung von Symptomen eingesetzt werden, sind Geschlechtsrollenstereotype in Rechnung zu stellen. So zeigen die verfügbaren Selbstbeschreibungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen keine signifikanten Geschlechtsunterschiede (Biederman et al. 2005; DuPaul et al. 2002). Bei Fremdbeurteilungen durch Erwachsene ergeben sich jedoch welche. Die beiden umfangreichsten Metaanalysen (Gaub u. Carlson 1997; Gershon 2002) stimmen darin überein, dass sich Jungen und Mädchen mit einer AD(H)S-Diagnose, bezogen auf die soziale Integration und den Schulerfolg, nicht signifikant unterscheiden, dafür aber in puncto Hyperaktivität und Externalisierung. Beides findet sich bei Jungen stärker ausgeprägt als bei Mädchen. Divergente Befunde gibt es für Impulsivität. Während die eine Metaanalyse keine geschlechtsspezifische Verteilung des Symptoms feststellt, sind der anderen Metaanalyse zufolge Jungen impulsiver als Mädchen. Somit ist die Entwicklung von Selbstkontrolle zwar eine lebensgeschichtliche Aufgabe, vor der beide Geschlechter stehen. Sie erfolgreich zu bewältigen, mag Jungen aber schwerer fallen, zumal dann, wenn Externalisierung für die männliche Geschlechtsrolle gesellschaftlich erwartet wird. Überhaupt greift eine individualpsychologische Analyse der Selbstkontrolle zu kurz. Deshalb wird sie im Folgenden als soziokulturelles Merkmal begriffen, wobei die psychoanalytische Kulturtheorie den theoretischen Rahmen dafür liefert.
Von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle Die psychoanalytische Kulturtheorie geht von folgender allgemeiner Bestimmung aus: "Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, dass er denselben Triebverzicht leistet. Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt" (Freud 1915d, S. 333). Anders formuliert: "unser Gewissen ist in seinem Ursprunge 'soziale Angst' und nichts anderes" (Freud 1915d, S. 331). In dem Sinne, dass keine Kultur ohne Triebverzicht auskommt, beschreibt Freud eine universale soziale Tatsache. Nicht universal, sondern historisch kontingent sind dagegen das Ausmaß an soziokulturell gefordertem Triebverzicht sowie das Ausmaß an sozialer Angst, über deren Erzeugung der Triebverzicht durchgesetzt wird. Zwar muss jede nachfolgende Generation ebenfalls Triebverzicht leisten, aber nicht zwangsläufig denselben. Ebenso wenig ist der zu leistende Triebverzicht innerhalb derselben Generation an jedem "sozialen Ort" (Bernfeld 1969) derselbe. So bescheinigt Freud dem "gemeinen Mann" eine geringere Verzichtsleistung als dem Bürgertum (vgl. den Brief an Martha vom 29.08.1883, Freud 1988, S. 42 f.), wobei er impliziert, dass die Fähigkeit, in einem großen Ausmaß Triebverzicht nicht per bloßer Unterdrückung, sondern per Sublimierung (Haubl 1992) zu leisten, zu den Faktoren gehört, die einen sozialen Aufstieg begünstigen. Diese Fähigkeit ist alles andere als selbstverständlich, gibt es doch Menschen, von denen mehr Triebverzicht gefordert wird, als sie leisten können, was ihre psychische Gesundheit gefährdet (Freud 1908d, S. 154). Der jeweils geforderte Triebverzicht setzt individualgeschichtlich nicht sofort mit voller Intensität ein. Vielmehr wird er auf dem Weg vom Säugling zum Erwachsenen allmählich gesteigert. Dieser Prozess nimmt zum einen als Sozialisation, zum anderen als Erziehung seinen Lauf. Während "Sozialisation" die Bildung psychischer Strukturen durch die praktische Teilnahme und Teilhabe am sozialen Leben meint, ist "Erziehung" zunächst im Elternhaus, dann in der Schule eine vergleichsweise geplante und im Hinblick auf bestimmte Planungsziele reflektierte, bewusste Intervention. Empirisch sind beide Teilprozesse innig miteinander verschränkt. Wenn der geforderte Triebverzicht in Sozialisation und Erziehung primär über die Erzeugung sozialer Ängste durchgesetzt wird, dann gehört zu diesen Ängsten nicht allein die Angst um das eigene physische Überleben, sondern abgemildert, aber nicht weniger wirkmächtig, die Angst davor, von signifikanten Bezugspersonen nicht geliebt und/oder nicht wertgeschätzt zu werden. Im Grunde beruhen alle sozialen Ängste auf der erlebten Drohung, keinen Zugang zu einer signifikanten Gemeinschaft zu finden oder aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Um solche Ängste nicht ständig erleben zu müssen, verinnerlicht der Heranwachsende den geforderten Triebverzicht, weil er ihn dann nicht länger als Verzicht erlebt, den signifikante Bezugspersonen oder abstrakter: die Normen ihrer Gemeinschaft fordern, sondern als Verzicht, den sie freiwillig erbringen, weil sie einsehen, dass er ihnen nützt. Diese Entwicklung von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle als "Umsetzung von äußerem Zwang in inneren Zwang" wird zwar in der Kindheit grundgelegt, aber nicht ein für alle Male eingerichtet, weshalb Freud von einer "beständigen Umsetzung" spricht. Denn für ihn ist evident, dass jeder Triebverzicht instabil bleibt, weil keine Kultur über Sublimierungsangebote verfügt, die eine volle Triebbefriedigung wettmachen würde, weshalb nicht nur Unterprivilegierte, sondern auch die "besser beteilten Gesellschaftsschichten" (Freud 1927c, S. 333) der Kultur latent feindselig begegnen. Insofern entwickelt der Heranwachsende mit zunehmender Verinnerlichung gleichzeitig eine gegenläufige Neigung, die von der mehr oder weniger bewussten Sehnsucht lebt, die Selbstkontrolle aufzugeben: sich gehen zu lassen. Kulturen rechnen mit dieser Regressionsneigung, weshalb sie nicht ständig dasselbe Ausmaß an Triebverzicht erwarten. Stattdessen stellen sie sogar bestimmte Zeiten und Räume zur Verfügung, in denen sie eine Lockerung der Selbstkontrolle erlauben aber eben begrenzt, nicht immer und überall, was heißt: Auch diese Zeiten und Räume unterliegen der Fremdkontrolle (Haubl 1995). Auf diese Weise wird der geforderte Triebverzicht selbst noch in seiner Lockerung soziokulturell abgesichert. Folglich bleibt die Erzeugung sozialer Ängste die Ultima Ratio jeder sozialen Integration. Und die Freiwilligkeit in der Selbstkontrolle erscheint lediglich als Reaktionsbildung. Wovon der geforderte Triebverzicht abhängt, bleibt bei Freud weitgehend unbestimmt. Stellt man die Frage makrosoziologisch, so ist Triebverzicht über ein unverwechselbares individuelles Triebschicksal hinaus eine konstitutive Bedingung der Reproduktion einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Insofern variiert jeder Individualcharakter einen Sozialcharakter (Fromm 1981). In der bürgerlichen Gesellschaft dominiert ein Sozialcharakter, der sich über Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft definiert, die als selbstständige oder unselbstständige Erwerbsarbeit in Vermögen und damit in Lebenschancen transformiert werden. Ein Großteil der 60 Jungen, mit denen wir gesprochen haben, steht unter einem erheblichen Leistungsdruck. Sie vermitteln das Bild von Eltern, denen die Lebensfreude ihrer Kinder weniger wichtig erscheint als deren schulischer Erfolg. Dabei sind es in der Wahrnehmung der Kinder vor allem die Mütter, von denen der Leistungsdruck ausgeht oder die den Leistungsdruck der Schule weitergeben und die für eine Medikation sorgen, die ihren Kindern die Anpassung an die gesellschaftlichen Erfolgsbedingungen erleichtern soll.
"Aber jetzt habe ich welche im Ranzen " Bevor der 10-jährige Noel die Tabletten bekam, hat er "sehr viel Quatsch gemacht"; und den macht er noch immer, wenn er vergisst, sie einzunehmen: "Die Lehrer beschweren sich alle ich rede halt viel mit meinen Klassenkameraden, mitten, wenn die [Lehrerin] was erklärt, und ich spiele mit Stiften und so und noch andere Sachen halt".; "Zappele die ganze Zeit auf dem Stuhl rum und mache halt viel mit den Armen." Ohne Tabletten kann Noel dieses Verhalten nicht einstellen, obwohl er es will: "Weil ich wollte ja auch, dass ich nicht mehr so-, dass ich nicht mehr so bin, dass ich halt mit vielen Sachen im Unterricht spiele. jetzt passe ich mal auf, das geht halt nicht bei mir, ich versuche es , aber es geht halt nicht". Es geht selbst dann nicht, wenn er sich anstrengt: "Dann würde ich schon aufhören kurz, aber dann mit einem Mal vergesse ich es halt wieder und fange einfach wieder an." Noel will ruhig und aufmerksam sein können, weil er, wie eine Kinderpsychologin feststellt, ein "Schlauer" ist, "schlauer als manch andere Kinder in der Klasse". Um dieses Potenzial zu entfalten, nimmt er die Tabletten ein: "Ich wollte auch, dass ich in der Schule besser werde", denn "mit den Tabletten da geht es halt besser". Deshalb will er sie zumindest so lange einnehmen, bis er sich auch ohne sie kontrollieren kann: "Ich will gerne, dass ich die Tabletten eben mal nicht mehr brauche, dass ich dann von selbst nicht hyperaktiv bin und dass ich dann wieder einen geregelten Ablauf bekomme." Hinter diesem Wunsch aber erscheint die Angst: "Ohne die [Tabletten] geht fast gar nix"; "Sonst würde die Schule eigentlich gar nicht funktionieren, ich würde nicht aufs Gymnasium kommen." Am deutlichsten zeigt sich diese Angst in einer Passage des Interviews, in der es zu einer bemerkenswerten Verständigungsschwierigkeit kommt. Sie entsteht aus Noels Äußerung, Quatsch zu machen, "Das ist wie eine Strafe": ["Eine Strafe für wen?"] "Für mich eigentlich in der Schule." ["Es ist eine Strafe für dich, dass du die Tabletten nehmen musst?"] "Nein, es ist keine Strafe, wenn ich sie nicht nehme, ist es eine Strafe dafür, so merke ich mir das, weil, wenn ich sie nicht nehme, dann werde ich irgendwie bestraft und halt ich bestrafe mich dann selbst, indem ich dann viel Quatsch mache." ["Das habe ich jetzt noch nicht verstanden, das ist eine Strafe für-."] (Unterbricht) "Das ist wie eine Strafe." ["Wie eine Strafe. Und wie ist das, kannst du das noch mal erklären?"] "Also, wenn ich sie nicht nehme, dann ist das halt-, dann bin ich also hyperaktiv, und das ist dann wie eine Strafe für mich, dass ich so hyperaktiv bin, weil, das möchte ich ja selbst auch nicht, dass ich hyperaktiv bin." ["Und wer straft dich dann?"] "Eigentlich niemand, außer dass ich dann hyperaktiv bin. Also das mit der Strafe ist einfach nur so [ein] Umgangswort." Versucht man die Verständigungsschwierigkeiten so stimmig wie möglich aufzulösen, dann sagt Noel: "Wenn ich die Tabletten nicht nehme, werde ich (wieder) hyperaktiv und das heißt, ich müsste die daraus resultierenden negativen schulischen Folgen tragen. Da ich diese Folgen nicht tragen möchte, würde ich mich selbst bestrafen, wenn ich die Tabletten nicht nähme." Dass Noel in diesem Zusammenhang von "Strafe" spricht, ist auffällig, auch wenn er rückwirkend versucht, seine Wortwahl als bloßes "Umgangswort" zu neutralisieren. Die Verständigungsschwierigkeiten resultieren daraus, dass in Noels Äußerungen vage bleibt, wer wen bestraft: Kommt die Strafe von außen, sind es die Eltern und Lehrer oder abstrakt die sozialen (schulischen) Verhältnisse, die ihn für sein hyperaktives Verhalten bestrafen, oder bestraft er sich selbst? Die Unklarheit der Äußerung lässt sich als Manifestation des noch nicht stabilisierten Übergangs von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle verstehen. Wenn es Noel noch an Selbstkontrolle mangelt, dann liegt das daran, dass es in seinem Leben einen Lebensentwurf gibt, der den Lebensentwurf, den seine Mutter für ihn vor Augen hat, unterläuft. Noel ist mit seinem Vater bezeichnenderweise über einen positiv besetzten Begriff des Quatschmachens verbunden: "Und mit dem [Vater] kann man auch jeden möglichen Quatsch machen, also mit dem kann man auf den Balkon gehen, Wasserpistolen laden und, wenn unten Leute vorbeilaufen, abschießen". Bei dieser Vorstellung lebt Noel auf. Aber er weiß, dass er sie nicht realisieren kann, ohne in Konflikte zu geraten, die er nicht durchsteht. Deshalb fügt er sich: Hat er die Tabletten anfangs "nicht so toll gefunden", stimmt er seiner Medikation einschließlich einer steigenden Dosierung: nach anfänglich 10 mg "waren es irgendwann später die 20er, dann die 30er und jetzt die 40er" inzwischen zu, weil er gelernt hat, es als Strafe zu begreifen, wenn er sie nicht nimmt. Die Fremdkontrolle wird in der Selbstkontrolle unsichtbar, die allerdings vorerst darin besteht, dass Noel seine Tabletteneinnahme selbst kontrolliert: "Aber jetzt habe ich welche im Ranzen, falls ich die mal vergesse, kann ich die in der Schule nachnehmen."
Von der Selbstkontrolle zur Selbstfürsorge Da Triebverzicht gefordert wird, um eine bestimmte Gesellschaftsordnung zu reproduzieren, geht von Triebbedürfnissen, die nicht hinreichend kontrolliert werden, eine destabilisierende Wirkung aus. Es sind Kräfte, die auf eine Veränderung der bestehenden Ordnung drängen. Da Entwicklungsprozesse aber nur über Veränderungen in Gang kommen, beinhaltet jede Weigerung, auf die Befriedigung von Triebbedürfnissen zu verzichten, auch ein kreatives Potenzial. Wer es entfalten will, muss sich sozialen Ängsten aussetzen, den eigenen wie denen seiner Mitmenschen. Er muss seine Selbstkontrolle daraufhin prüfen, inwieweit sie das Resultat einer Verinnerlichung von Fremdkontrolle ist, die eine automatische Anpassung verlangt. Eine solche Prüfung mag dazu führen, die Strenge der eigenen Selbstkontrolle zu überdenken, ohne aber auf Selbstkontrolle verzichten zu können. Denn auch die intendierte Verbesserung einer bestehenden Gesellschaftsordnung ist ohne Selbstkontrolle nicht möglich. Dieser Umstand verweist auf die konzeptuelle Notwendigkeit, zwischen zwei Aspekten von Selbstkontrolle zu unterscheiden: Erstens ist Selbstkontrolle eine lebensgeschichtlich erworbene Ich-Funktion, die individuell dazu dient, eigene Interessen zu vertreten und Normen einzuhalten. Zweitens ist sie selbst eine Norm, die verlangt, in bestimmten Situationen, im Extremfall immer und überall kontrolliert oder genauer: rationalisiert zu handeln. Als solche setzt sie die entsprechende Ich-Funktion voraus. Um nicht zu einem Habitus zu erstarren, der um seiner selbst willen aufrechterhalten wird, bedarf die Selbstkontrolle eines Komplements, das für eine Entwicklungsdynamik sorgt. Begreift man Spontaneität als eine Regression im Dienste des Ich, dann ist sie dieses Komplement. Denn ohne Spontaneität droht Erstarrung, aber ohne Selbstkontrolle lassen sich spontane Veränderungen nicht verstetigen, auch wenn sie zweifelsfrei als Verbesserungen eingeschätzt werden. Um die skizzierte Entwicklungsdynamik begrifflich zu präzisieren, wäre es vielleicht angeraten, den Begriff der Selbstkontrolle durch den der Selbstfürsorge (Küchenhoff 1999) zu ersetzen. In ihm schwingen bereits die deskriptive und die normative Vorstellung mit, dass Selbstkontrolle nur dann eine vitale Ich-Funktion ist, wenn sie die Möglichkeiten eines Individuums zu handeln und zu erleben erweitern.
Affektregulation Die psychoanalytische Kulturtheorie ist ursprünglich triebtheoretisch konzeptualisiert. Gegen diese Konzeptualisierung gibt es gut begründete Einwände, die aber hier nicht referiert und diskutiert werden sollen. Hellsichtig hat Freud (1915d) im Konzept des Triebes im Unterschied zum Konzept des Instinkts ein notwendiges Ineinander von Natur, den somatischen Triebquellen, und Kultur, den Triebobjekten, formuliert. In der naturalistischen Lesart des Triebkonzepts dominiert die Natur die Kultur, in der kulturalistischen die Kultur die Natur. Wenn Alfred Lorenzer (1972, 2002) Triebe als "Interaktionsformen" rekonstruiert, dann um die Polarisierung von Natur und Kultur aufzuheben und Triebe als soziokulturell konstituierte Leiblichkeit zu begreifen. In den modernen Neurowissenschaften findet sich diese Position eindrucksvoll bestätigt. Wie Menschen praktisch miteinander umgehen, bleibt ihnen nicht äußerlich, sondern prägt von ihrem intrauterinen Leben an ihre "Natur", etwa als permanente Umstrukturierung ihrer neuronalen Netzwerke (z. B. Hüther 1996). Insofern werden Beziehungserfahrungen in ihrer Grundschicht verkörpert und damit auch leiblich erlebt eine "naturalisierte" Erfahrung, die lebenslang nur bedingt bewusst eingeholt und damit auch verbalisiert werden kann. Was Freud in seiner Kulturtheorie triebtheoretisch abhandelt, wird heute zunehmend affekttheoretisch konzeptualisiert, wobei eine Verbindung darin besteht, dass Freud (1915d) bemüht war, Affekte als Triebrepräsentanzen zu fassen. In affekttheoretischer Perspektive bemisst sich der Erwerb von Selbstkontrolle oder Selbstfürsorge an der Fähigkeit, die eigenen Affekte zweckdienlich zu regulieren (Fonagy 2002). Affekte werden dabei als phylogenetische Dispositionen begriffen, den Körper in bestimmte Bewegungen zu versetzen, wie es der Begriff der Emotion in seiner buchstäblichen Bedeutung besagt. So gesehen, sind Affekte präreflexive Handlungsbereitschaften, die nicht mit Reflexen verwechselt werden dürfen, auch dann nicht, wenn ihre Wirkung imperativ erlebt wird (Frijda 1996). Ob es begründet ist, zwischen Affekten und Emotionen zu unterscheiden, soll hier dahingestellt sein. Im Vergleich der jeweiligen Konnotationen wird mit dem Affektbegriff eine stärkere Impulsivität assoziiert, gerade darin besteht seine Nähe zum Triebbegriff. Für die Anthropologie, die Freud in seiner Kulturtheorie vertritt, ist die Annahme wesentlich, dass Affekte/Emotionen immer Manifestationen konfliktträchtiger Prozesse der soziokulturellen Integration sind. Wenn Individuen mittels Sozialisation und Erziehung soziokulturell integriert werden, dann beinhaltet diese Integration ein irreduzibles Moment der Unterwerfung, weil die menschliche Triebnatur keine "natürliche" soziokulturelle Anpassung leistet. Selbst wenn man wie in der Bindungstheorie (Brisch et al. 2002) von einem phylogenetisch disponierten Bindungsbedürfnis ausgeht, wäre es ein Kurzschluss, Konfliktfreiheit zu unterstellen. Freilich gebraucht Freud im Vergleich mit der Bindungstheorie eine sehr viel dramatischere Rhetorik, die man aus heutiger Sicht für unzeitgemäß halten mag. Wird sie für unzeitgemäß gehalten, suggeriert das leicht, die Konfliktspannung zwischen Individuum und Kultur kennzeichne autoritäre Gesellschaften, die historisch bereits überwunden seien oder noch überwunden werden müssten. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft würden sich dagegen solche Spannungen erübrigen. Zwar antizipiert auch Freud einen Zivilisationsprozess, wie ihn Norbert Elias (1977) postuliert hat. Aber er bleibt ungleich skeptischer. In seiner Perspektive erscheint es als Idealisierung, Sozialisation und Erziehung als konfliktfrei zu beschreiben als Verleugnung der Gewalt, die nach wie vor von allen Agenten und Agenturen ausgeht, die an der soziokulturellen Integration beteiligt sind. Wird Selbstkontrolle oder Selbstfürsorge als die Fähigkeit konzeptualisiert, die eigenen Affekte/Emotionen zu regulieren, dann kann dafür derselbe Problemaufriss gelten, wie für die Triebtheorie beschrieben. Eine selbstkontrollierte oder selbstfürsorgliche Affekt-/Emotionsregulation ist das lebensgeschichtliche Resultat von Erfahrungen mit fremdkontrollierten Affekt-/Emotionsregulationen. Denn es sind die signifikanten Bezugspersonen, die den Heranwachsenden von Kindheit an als Hilfs-Ich zur Seite gestanden haben. Wie sie in die Affekt-/Emotionsregulation ihres Nachwuchses eingreifen, geschieht nicht beliebig, sondern im Hinblick auf die Emotionsnormen (Hochschild 1979) ihrer Emotionskultur (Gordon 1989). Denn Gemeinschaften/Gesellschaften sind immer auch emotional verankert und das auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Emotionalität, die das generelle Ausmaß der Rationalisierung, also das Verhältnis von Emotionen und Kognitionen betrifft, sowie auf der Ebene differenzieller Emotionen wie Freude, Stolz, Ekel, Ärger, Wut, Scham, Schuld, Neid, Traurigkeit u.a.m. In allen Gemeinschaften/Gesellschaften finden sich Normen, die den erwachsenen Mitgliedern vorschreiben, wie sie auf beiden Ebenen zu handeln haben, um soziokulturell integriert zu sein. Vorgeschrieben wird entweder nur der affektive/emotionale Ausdruck oder darüber hinausgehend auch, wer was in welcher Situation fühlen soll. Die Einhaltung ihrer Emotionsnormen bestätigt eine Gemeinschaft/Gesellschaft; Verletzungen oder Brüche dieser Normen können sie unter Veränderungsdruck setzen.
Psychostrukturelle Zerreißprobe Der Sozialcharakter, den eine bestimmte Gesellschaftsordnung prämiert, weshalb sie ihn durch Sozialisation und Erziehung in einer hinreichenden Menge herzustellen sucht, ist immer auch durch einen bestimmten emotionalen Habitus gekennzeichnet. So hat Elias (1977, LXIII) den Zivilisationsprozess als Prozess rekonstruiert, in dem der "Homo clausus" zum dominanten Sozialcharakter aufsteigt. Dieser Charakterformation entspricht eine geringe Emotionalität, die durch eine starke Schamangst vor allen vitalen Lebensäußerungen zustande kommt. Der "Homo clausus" ist der Sozialcharakter, der die kartesianische Spaltung von Körper und Geist psychostrukturell vollzieht. Sein Lebensentwurf beruht auf der Vorstellung, dass Emotionen ausgeschaltet werden müssen, um zweckrational handeln zu können, was die Zurichtung der eigenen Person zu einem effektiven Arbeitsinstrument einschließt. Diese Vorstellung ist nachweislich falsch (Damasio 1995). Emotionen sind ein integraler Bestandteil des Verstandes. Emotionslosigkeit gefährdet die menschliche Rationalität. Das belegen Patienten mit Verletzungen des Frontalhirns, die auffällige Persönlichkeitsveränderungen zeigen, auch wenn sie körperlich anscheinend gesund sind. Obwohl ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt scheinen, sind sie nicht mehr fähig, ihr Leben, das sie vor ihrer Verletzung erfolgreich gelebt haben, zu organisieren. Ihre Verletzung erzeugt die Spaltung, die Descartes als Normalität voraussetzt. Denn beim Urteilen und Entscheiden werden im Frontalhirn die wahrgenommenen Handlungsalternativen nicht nur durchdacht, sondern zugleich emotional bewertet. Diese Bewertung erfolgt automatisch anhand von angeborenen und gelernten "somatischen Markern": Angenehme und unangenehme Körperempfindungen bahnen die Richtung des Denkens, ohne dass solche Vorgaben bewusst würden. Damit ist zwar nicht garantiert, dass die gefällten Urteile und getroffenen Entscheidungen "richtig" sind. Ohne entsprechende emotionale Bewertung kommen aber überhaupt keine geordneten Urteils- und Entscheidungsprozesse zustande, an denen höhere kognitive Fähigkeiten ansetzen könnten. Vor allem in Situationen, die Handeln verlangen, in denen keine hinreichenden handlungsleitenden Informationen zur Verfügung stehen, sind Emotionen existenziell wichtig. In solchen Situationen treffen Handelnde ihre Entscheidung meist durch eine "selektive Fokussierung einiger Merkmale bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Merkmale. Da Emotionen die Funktion haben, bestimmte Merkmale hervorzuheben, ist die Fähigkeit, Emotionen zu empfinden, wesentlich, um sich unter solchen Bedingungen überhaupt zu entscheiden" (McAllister 2005, S. 571). Spätestens seit den 1970er Jahren steht der "Homo clausus" im westlichen Kulturkreis in der Kritik. Im Zuge von gesellschaftlichen Prozessen der "Informalisierung" (Wouters 1977) sind neue Leitbilder entstanden, die für einen emotionaleren Sozialcharakter eintreten. Anders dagegen in Asien, wo nach wie vor ein ungleich größerer Wert auf strenge emotionale Zurückhaltung gelegt und die Missachtung dieses Gebots durch Beschämung sanktioniert wird. Es verwundert deshalb nicht, dass sich in Asien eine signifikant niedrigere Prävalenz für eine AD(H)S findet (Leung et al. 1996; Yao et al. 1988). Allerdings dürfte mit stereotypen Wahrnehmungen zu rechnen sein. Wenn britische Lehrer bei Schülern mit chinesischem Kulturhintergrund signifikant weniger Hyperaktivität wahrnehmen als bei gleichaltrigen britischen Schülern, dann mag das Temperamentsdifferenzen entsprechen, aber auch Wahrnehmungsdifferenzen wiedergeben, in denen sich das britische Heterostereotyp des Asiaten spiegelt, der immer lächelt und sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen lässt (Sonuga-Barke et al. 1993). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie weit die steigende Zahl von AD(H)S-Kindern und -Jugendlichen einen sozialcharakterologischen Wandel anzeigt (Haubl 2008). Zumindest diejenigen unter ihnen mit nur gering ausgeprägten Symptomen imponieren nicht selten durch den Charme temperamentvoller Lebendigkeit. Mit zunehmender Intensität der Symptome geht dieser Charme aber schnell verloren. Man hat es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in einer Konsumgesellschaft aufwachsen, deren Ziel eine ständige Emotionalisierung im Dienste eines unstillbaren Begehrens ist. In einer solchen auf Zerstreuung angelegten Welt sollen sie sich konzentrieren! Diese widersprüchliche Anforderung ist eine psychostrukturelle Zerreißprobe, die Viele nicht bestehen. Sie werden von Affekten überflutet, die sie nicht mehr regulieren können. So reagieren sie etwa in kompetitiven Leistungssituationen im Vergleich mit Jungen ohne eine AD(H)S sehr viel offener enttäuscht und verärgert, wenn sie unterlegen sind und das auch dann, wenn sie instruiert werden, zu verbergen, wie sie sich fühlen (Walcott u. Landau 2004). Es mangelt ihnen an "emotionaler Kompetenz" (Saarni 1999) und das insbesondere bei der Regulierung aggressiver Emotionen wie Ärger und Wut.
Blinde Wut Unter den 60 Jungen, mit denen wir in unserem Forschungsprojekt gesprochen haben, sind etliche, die immer wieder bei kleinsten Anlässen in Wut ausbrechen, ihre eigenen Wutanfälle aber mehr oder weniger erschreckend erleben: Der 10-jährige Jonas etwa berichtet, bevor er Medikamente bekommen hat, ist er "immer so schnell wütend geworden". Als Beispiel führt er eine Situation an, in der ihn Mitschüler mit Wasser angespritzt haben: "Ja, da habe ich so Wut gehabt, dass ich da [einem Mitschüler] eine Gehirnerschütterung gemacht habe". Auf die Frage nach seinen anschließenden Gefühlen, sagt Jonas spürbar gedrückt: "Sehr traurig weil ich immer sehr wütend werde, obwohl ich nicht wütend werden will." Da er seine Wutanfälle bisher noch nicht selbst kontrollieren kann, stimmt er seiner Medikation zu, auch wenn er sich nach Einnahme der Tabletten wie ein "Roboter" fühlt. Er nimmt diese gravierende Nebenwirkung in Kauf, weil er sich durch die Tabletten "zurückhalten kann mit der Faust". Dabei hofft er darauf, dass er das Medikament mit seinem 18. Lebensjahr absetzen kann. Denn in seiner Vorstellung sind seine Wutanfälle die Folge eines Mangels an Gehirnreifung. Aufgrund dieser objektivierenden Erklärung glaubt er, dass bis zu seiner Volljährigkeit sein "Gehirn anders auch ist, gewachsen ist, mit Erfahrung [sich immer besser selbst kontrollieren zu können] und so". Jonas spricht selbst von Wut. Offenbar kennt er dieses Gefühl gut und er leidet unter ihm. Wovon er nicht spricht, sind die Gründe, warum er wütend wird. Bestenfalls nennt er wie in seinem Beispiel einen Anlass. Oder er führt eine weitere objektivierende Erklärung an, dieses Mal aus der Komplementärmedizin: "Manchmal werde ich auch verrückt, weil ich so viel Zucker nehme Nur wenn ich zu viel Zucker esse und trinke , kann ich mich nicht mehr beherrschen." Der 11-jährige Tom benennt die Regulation seiner Wut sogar als Entwicklungsziel: "Dass ich halt aufpassen soll, dass ich nicht mehr so wütend werde und so, dass ich mich halt beherrschen soll". Spricht er von Sollen und nicht von Wollen, wird deutlich, dass Tom sich mit einem Gebot konfrontiert erlebt, das er nicht so recht einsieht. Das Medikament verhilft ihm dazu, diesem Gebot gerecht zu werden, ohne es verinnerlicht zu haben, allerdings nur solange es wirkt: "Wenn mich jemand ein paar Mal schubst, also wenn die [Tablette] noch wirkt, dann lass ich mich nicht reizen, aber wenn die nicht mehr so viel wirkt, dann lasse ich mich halt eher reizen , dann muss ich mich schlagen". Da es das Medikament ist, das den imperativen Drang, sich zu schlagen, reguliert, spürt Tom auch keine Verantwortung für das, was er tut. Diese Verantwortung hat er an das Medikament abgetreten. Seine persönliche Verantwortung besteht allenfalls darin, auf eine angemessene Tabletteneinnahme zu achten, wenn nicht auch das Monitoring von seinen Eltern übernommen wird. Im Unterschied zu Jonas finden sich bei Tom keine Hinweise darauf, dass er traurig ist, zuschlagen zu müssen. Schlägt er zu, erlebt er dies als eine reflexartige Reaktion auf einen Reiz wie den, geschubst zu werden. Diesen Reiz-Reaktions-Zusammenhang vermag er nur medikamentös zu hemmen, nicht aber willentlich zu unterbrechen, weil er auch nicht versteht, was ihn so wütend macht. Schubsen erscheint in diesem Zusammenhang als ein physikalischer Reiz und nicht als ein sozialer, der z. B. mit Statuskämpfen innerhalb der Gleichaltrigengruppe verbunden wäre. Eine ganze Reihe der Jungen berichtet von Situationen, in denen sie aus der Perspektive der Interviewer und der Interpreten der Interviews wütend gewesen sind, ihre Erregung aber anders bezeichnen. Der 8-jährige Harry etwa spricht davon, dass er "teufelig" und "wild" wird. Auf die Frage, "Warst du wütend auf irgendwas oder wieso wird man dann so wild?", antwortet Harry erst "keine Ahnung" und schiebt dann nach: "Das war immer ein bisschen viel Aufregung". Versteht man "wütend" als Beschreibung eines innerpsychischen Zustands, für den es Gründe gibt, und "wild" als Beschreibung eines Verhaltens, dann nimmt Harry das Angebot nicht an, über seine Gründe nachzudenken. Er ist "aufgeregt" gewesen, warum, kann er nicht sagen. Harry ist mit der Einnahme der Medikamente einverstanden, weil sie seine Aggressionen dämpfen. Ohne Tabletten würde er selbst bei einem "Scherz" seiner Klassenkameraden zuschlagen: "Dann würde ich sie schlagen und so was, so ungefähr halt, und das ist dann blöd halt immer, wenn so was entsteht, dann kriegt man nämlich Ärger, das ist noch blöder halt." Bezeichnenderweise argumentiert Harry auch hier außengeleitet: Er schlägt nur deshalb nicht zu, weil er keinen Ärger haben will, mithin aufgrund von sozialer Angst und nicht aufgrund von Einsicht. Die Tabletten helfen ihm nicht, den Sinn eines Aggressionsverzichts einzusehen, sondern hindern ihn neuronal daran, sozial nicht gebilligtes Verhalten zu zeigen. Auch Harry bevorzugt eine objektivierende Erklärung, wobei er eine bemerkenswerte Vorstellung entwickelt, deren Vorbild womöglich ein Film über Kariesprophylaxe gewesen ist. Denn auf die Wirkung seiner Medikamente angesprochen, sagt er, dass die Tabletten "wie beim Zähneputzen" dazu dienen, gefährliche "Bakterien" zu "bekämpfen". Die Bakterien sind "böse. Da kriege ich immer sofort einen Ausraster." Sie greifen seine Selbstkontrolle an und setzen sie außer Kraft. Damit dies nicht geschieht, bilden die Medikamente eine "Mauer", wodurch die Bakterien daran gehindert werden, zu der "Ausrasterstelle" vorzudringen, weil sie sich im Angriff auf die Schutzmauer zersetzen: "Dann sind sie [die Bakterien] irgendwann ganz futsch. Und wenn sie [die Tabletten] aufhören zu wirken, sind sie wieder da." So gesehen, versinnbildlicht Harry die Aufforderung der Erwachsenen, seine sozial nicht gebilligten Aggressionen unter Kontrolle zu bringen, als einen permanenten Angriff bakterieller Krankheitserreger, die abgewehrt werden müssen. Ein Ende dieses Kampfes, der in seinem Körper tobt, ist nicht abzusehen, weil sich die bakteriellen Krankheitserreger, sprich: seine Aggressionen, immer wieder erneuern, und nur durch eine medikamentöse Schutzmauer daran gehindert werden können, durchzubrechen und ein Ausrasten zu verursachen. Diese objektivierende Erklärung lässt für ihn erst gar nicht die Frage aufkommen, welches denn die Gründe sind, aus denen er ohne Medikamente ausrastet. Von solchen Gründen erhält man im Interview bestenfalls eine Ahnung: So erzählt Harry von einer Zeit in seinem Leben, in der er besonders "wild" gewesen ist. Zur Veranschaulichung wählt er eine wiederkehrende Situation, in der es ihn getrieben hat, "immer Spielzeug rauszureißen aus den Kisten". Man kann sich ausmalen, wie er die Gegenstände hoch erregt traktiert. Diese Situationen sind in seiner Erinnerung eng mit dem Anfang der Medikation verbunden: "Da habe ich die Medicinet verschrieben gekriegt". Warum er gerade diese Situationen erinnert, wird im Interview nicht klar. Er beginnt, Tabletten einzunehmen, als er in die zweite Grundschulklasse kommt. Vermutlich ist es aber auch die Zeit, in der sein Vater die Familie verlässt. Bis heute beklagt Harry sich, dass er ihn viel zu selten sieht. Angenommen, diese Vermutung trifft zu, dann mag das erregte Herausreißen des Spielzeugs aus den Kisten die Inszenierung eines Verlustes gewesen sein, der ihn in einem Gemisch aus Angst, Wut und Trauer zurückgelassen hat. Die Situationen würden erinnert, weil sie bis heute unverstanden sind. An die Stelle notwendigen Sinnverstehens wäre die Medikation getreten. Indem sie seine Erregung erfolgreich dämpft, bleibt sie unverstanden und auf weitere Medikation angewiesen.
Untaugliche Beruhigungsversuche In etlichen Interviews finden sich sowohl Beschreibungen von nichtmedikamentösen Strategien, die AD(H)S-Kinder und -Jugendliche von ihren Eltern empfohlen bekommen, um sich zu beherrschen, als auch Beschreibungen von nichtmedikamentösen Strategien, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen selbst zu beruhigen versuchen. So berichtet der 8-jährige Justus, der aggressiv wird, wenn sein älterer Bruder ihn ärgert, indem er ihn "Behindikindi [behindertes Kind]" nennt oder ihn mimisch provoziert: "Und die Mama hat halt gesagt, ich soll mich nicht mehr so aufregen, ich soll einfach-, wenn er Grimassen zieht oder mich ärgert, soll ich einfach weggucken." Da Justus und seinesgleichen nicht über die dazu notwendige Selbstkontrolle verfügen, sind solche Empfehlungen aber nicht hilfreich und sprechen eher für die Hilflosigkeit der Eltern. Das gilt auch für Beruhigungsversuche, zu denen die betroffenen Kinder und Jugendlichen von sich aus Zuflucht nehmen, was im Fall des 9-jährigen Olli Rudi, der manchmal unkontrollierbar "aufgedreht" ist, sogar wörtlich zutrifft: Wenn er gar nicht mehr anders kann, dann geht er ins Bad, knallt die Tür zu und schließt sich ein. Auf diese Weise befreit er sich aus unerträglichen Situationen, ohne dafür aber auf Verständnis zu treffen. Denn offenbar "meckert" ihm sein Vater hinterher, weil beim Türeknallen das Türschloss "kaputt gehen" könnte. Olli Rudi klingt enttäuscht, weil sich sein Vater mehr um die Tür als um ihn sorgt. So wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen meist nicht v
Abstract Considering the attention deficit hyperactivity disorder (ADHS), the most common disorder of male children and young boys, from the perspective of a psychoanalytic social psychology, one cannot explain its genesis solely in terms of neuroscience. It would be reductionism ignoring the fact, that it is not possible to define a neuronal deficit of self control without conceptualizing self control as a historically and culturally determined requirement profile of affect regulation. Thus, a social characterological analysis of the disorder is required. Every community and society expects their children to learn in the course of their socialization and education to transform external control into self control, in order to want to do, what is to be done. This process is conflict-ridden and aims at an adaptation by which conflicts are more or less defused. Modern societies propagate a sort of self control which is reduced to self-management with integrated spontaneity. Acquiring such self-management requires from children and adolescents to cope with contradictions. They should concentrate in a consum culture which is oriented on distraction. They should cope trouble-free with disappointments in a culture which is oriented on success. But first of all the boys have difficulties to achieve this. They have difficulties in acquiring the emotional competencies needed for the regulation of aggressive excitements due to disappointments appropriately and in socially acceptable form as well. Lacking this competencies they feel themselves at the mercy of fierce rage as if it was a force of nature. This is the self experience of the 60 boys who were questioned about their ADHS medication in the here presented research project. If the treatment is - against all consensus conferences - limited to medication and this is much more often the case as so far known -, then the aggressive excitement is reduced indeed, but the patients do not obtain insight into the civilizing function of restraining aggression. And without understanding the sense of the own action they remain in the long run strangers to themselves.
Rolf Haubl Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main sowie Direktor der Sigmund-Freud-Instituts; Gruppenlehranalytiker, Supervisor. Forschungsgebiete: Krankheit und Gesellschaft, Emotionsregulation, Beratungsforschung. Letztes Buch: zusammen mit Volker Caysa (2008) "Hass und Gewaltbereitschaft". Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. (Siehe auch Heft 4, 2008.) Auch wenn der nosologische Status der AD(H)S umstritten bleibt (Timimi 2002, 2005), ist es unstrittig, dass viele der auffälligen Kinder und Jugendlichen ihre Mitmenschen auf eine schwer erträgliche Geduldsprobe stellen. Sie sind schnell frustriert, sehr impulsiv und wenig rücksichtsvoll. Das macht sie für ihre Familien (Johnston u. Mash 2001) und mehr noch für weniger vertraute Bezugspersonen unberechenbar. Nicht nur Erwachsene, auch Gleichaltrige gehen ihnen oft aus dem Weg, weil sie nicht wissen, woran sie mit ihnen sind (Landau et al. 1998). Das auffällige Verhalten von AD(H)S-Kindern und -Jugendlichen lässt sich als Auswirkung einer mangelnden Selbstkontrolle interpretieren (Barkley 1997), als dessen neurobiologisches Korrelat ein Strukturierungsdefizit des Frontalhirns vermutet wird (Denckla 1996). Zwar kennen die meisten der betroffenen Heranwachsenden die soziokulturellen Regeln, nach denen ihre Mitmenschen handeln; sie selbst sind aber nicht fähig, diese Regeln einzuhalten, sogar dann nicht, wenn sie die Regeln einhalten wollen (Nigg 2001). Mehr noch: Nicht wenige von ihnen leiden daran, dass es ihnen nicht einmal gelingt, das zu tun, was sie gerne tun. So berichtet der 8-jährige Justus, einer von 60 Jungen, mit denen wir in einem von der Köhler-Stiftung finanziell unterstützten Forschungsprojekt zum Selbstbild medikamentös behandelter Kinder mit einer AD(H)S-Diagnose ausführlich gesprochen haben (Haubl u. Liebsch 2008, 2009), dass er ständig unruhig ist. Als Beleg beschreibt er folgende Situation: "Weil, wenn ich etwas malen wollte oder so, dann bin ich dauernd weggegangen und dann wollte ich auf einmal nicht mehr malen." ["Und du hättest aber gerne lieber gemalt?"] "Hhm" (zustimmend). "Aber ich bin ja dauernd weggerannt." Und im Fall des ebenfalls 8-jährigen Leon sind es speziell seine Augen, die er nicht unter Kontrolle bringt: "Aber es fällt mir immer schwer, wenn ich jetzt schreiben will, dann kommt-, dann gucken meine Augen also direkt in die entgegengesetzte Richtung immer. Meine Augen gucken dann immer in die andere Richtung". "Ich will ja mit den Augen hingucken, aber dann irgendwie hab ich keine Lust drauf. Aber ich will eigentlich." Ohne Medikament, da sind sich die beiden Jungen mit den meisten anderen derer, mit denen wir gesprochen haben, einig, wären sie dem Zwang, den sie beschreiben, hilflos ausgeliefert. Denn sie erleben ihren Körper buchstäblich als eigenwillig: als mit einem eigenen Willen ausgestattet. Die Tabletten helfen ihnen, sich besser zu kontrollieren. Die AD(H)S gilt als geschlechtsspezifisch verteilt. Allerdings ist die Annahme von Geschlechtsunterschieden weniger belastbar als oftmals referiert. Denn immer dann, wenn Beurteilungsbögen zur Erfassung von Symptomen eingesetzt werden, sind Geschlechtsrollenstereotype in Rechnung zu stellen. So zeigen die verfügbaren Selbstbeschreibungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen keine signifikanten Geschlechtsunterschiede (Biederman et al. 2005; DuPaul et al. 2002). Bei Fremdbeurteilungen durch Erwachsene ergeben sich jedoch welche. Die beiden umfangreichsten Metaanalysen (Gaub u. Carlson 1997; Gershon 2002) stimmen darin überein, dass sich Jungen und Mädchen mit einer AD(H)S-Diagnose, bezogen auf die soziale Integration und den Schulerfolg, nicht signifikant unterscheiden, dafür aber in puncto Hyperaktivität und Externalisierung. Beides findet sich bei Jungen stärker ausgeprägt als bei Mädchen. Divergente Befunde gibt es für Impulsivität. Während die eine Metaanalyse keine geschlechtsspezifische Verteilung des Symptoms feststellt, sind der anderen Metaanalyse zufolge Jungen impulsiver als Mädchen. Somit ist die Entwicklung von Selbstkontrolle zwar eine lebensgeschichtliche Aufgabe, vor der beide Geschlechter stehen. Sie erfolgreich zu bewältigen, mag Jungen aber schwerer fallen, zumal dann, wenn Externalisierung für die männliche Geschlechtsrolle gesellschaftlich erwartet wird. Überhaupt greift eine individualpsychologische Analyse der Selbstkontrolle zu kurz. Deshalb wird sie im Folgenden als soziokulturelles Merkmal begriffen, wobei die psychoanalytische Kulturtheorie den theoretischen Rahmen dafür liefert.
Von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle Die psychoanalytische Kulturtheorie geht von folgender allgemeiner Bestimmung aus: "Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, dass er denselben Triebverzicht leistet. Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt" (Freud 1915d, S. 333). Anders formuliert: "unser Gewissen ist in seinem Ursprunge 'soziale Angst' und nichts anderes" (Freud 1915d, S. 331). In dem Sinne, dass keine Kultur ohne Triebverzicht auskommt, beschreibt Freud eine universale soziale Tatsache. Nicht universal, sondern historisch kontingent sind dagegen das Ausmaß an soziokulturell gefordertem Triebverzicht sowie das Ausmaß an sozialer Angst, über deren Erzeugung der Triebverzicht durchgesetzt wird. Zwar muss jede nachfolgende Generation ebenfalls Triebverzicht leisten, aber nicht zwangsläufig denselben. Ebenso wenig ist der zu leistende Triebverzicht innerhalb derselben Generation an jedem "sozialen Ort" (Bernfeld 1969) derselbe. So bescheinigt Freud dem "gemeinen Mann" eine geringere Verzichtsleistung als dem Bürgertum (vgl. den Brief an Martha vom 29.08.1883, Freud 1988, S. 42 f.), wobei er impliziert, dass die Fähigkeit, in einem großen Ausmaß Triebverzicht nicht per bloßer Unterdrückung, sondern per Sublimierung (Haubl 1992) zu leisten, zu den Faktoren gehört, die einen sozialen Aufstieg begünstigen. Diese Fähigkeit ist alles andere als selbstverständlich, gibt es doch Menschen, von denen mehr Triebverzicht gefordert wird, als sie leisten können, was ihre psychische Gesundheit gefährdet (Freud 1908d, S. 154). Der jeweils geforderte Triebverzicht setzt individualgeschichtlich nicht sofort mit voller Intensität ein. Vielmehr wird er auf dem Weg vom Säugling zum Erwachsenen allmählich gesteigert. Dieser Prozess nimmt zum einen als Sozialisation, zum anderen als Erziehung seinen Lauf. Während "Sozialisation" die Bildung psychischer Strukturen durch die praktische Teilnahme und Teilhabe am sozialen Leben meint, ist "Erziehung" zunächst im Elternhaus, dann in der Schule eine vergleichsweise geplante und im Hinblick auf bestimmte Planungsziele reflektierte, bewusste Intervention. Empirisch sind beide Teilprozesse innig miteinander verschränkt. Wenn der geforderte Triebverzicht in Sozialisation und Erziehung primär über die Erzeugung sozialer Ängste durchgesetzt wird, dann gehört zu diesen Ängsten nicht allein die Angst um das eigene physische Überleben, sondern abgemildert, aber nicht weniger wirkmächtig, die Angst davor, von signifikanten Bezugspersonen nicht geliebt und/oder nicht wertgeschätzt zu werden. Im Grunde beruhen alle sozialen Ängste auf der erlebten Drohung, keinen Zugang zu einer signifikanten Gemeinschaft zu finden oder aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Um solche Ängste nicht ständig erleben zu müssen, verinnerlicht der Heranwachsende den geforderten Triebverzicht, weil er ihn dann nicht länger als Verzicht erlebt, den signifikante Bezugspersonen oder abstrakter: die Normen ihrer Gemeinschaft fordern, sondern als Verzicht, den sie freiwillig erbringen, weil sie einsehen, dass er ihnen nützt. Diese Entwicklung von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle als "Umsetzung von äußerem Zwang in inneren Zwang" wird zwar in der Kindheit grundgelegt, aber nicht ein für alle Male eingerichtet, weshalb Freud von einer "beständigen Umsetzung" spricht. Denn für ihn ist evident, dass jeder Triebverzicht instabil bleibt, weil keine Kultur über Sublimierungsangebote verfügt, die eine volle Triebbefriedigung wettmachen würde, weshalb nicht nur Unterprivilegierte, sondern auch die "besser beteilten Gesellschaftsschichten" (Freud 1927c, S. 333) der Kultur latent feindselig begegnen. Insofern entwickelt der Heranwachsende mit zunehmender Verinnerlichung gleichzeitig eine gegenläufige Neigung, die von der mehr oder weniger bewussten Sehnsucht lebt, die Selbstkontrolle aufzugeben: sich gehen zu lassen. Kulturen rechnen mit dieser Regressionsneigung, weshalb sie nicht ständig dasselbe Ausmaß an Triebverzicht erwarten. Stattdessen stellen sie sogar bestimmte Zeiten und Räume zur Verfügung, in denen sie eine Lockerung der Selbstkontrolle erlauben aber eben begrenzt, nicht immer und überall, was heißt: Auch diese Zeiten und Räume unterliegen der Fremdkontrolle (Haubl 1995). Auf diese Weise wird der geforderte Triebverzicht selbst noch in seiner Lockerung soziokulturell abgesichert. Folglich bleibt die Erzeugung sozialer Ängste die Ultima Ratio jeder sozialen Integration. Und die Freiwilligkeit in der Selbstkontrolle erscheint lediglich als Reaktionsbildung. Wovon der geforderte Triebverzicht abhängt, bleibt bei Freud weitgehend unbestimmt. Stellt man die Frage makrosoziologisch, so ist Triebverzicht über ein unverwechselbares individuelles Triebschicksal hinaus eine konstitutive Bedingung der Reproduktion einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Insofern variiert jeder Individualcharakter einen Sozialcharakter (Fromm 1981). In der bürgerlichen Gesellschaft dominiert ein Sozialcharakter, der sich über Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft definiert, die als selbstständige oder unselbstständige Erwerbsarbeit in Vermögen und damit in Lebenschancen transformiert werden. Ein Großteil der 60 Jungen, mit denen wir gesprochen haben, steht unter einem erheblichen Leistungsdruck. Sie vermitteln das Bild von Eltern, denen die Lebensfreude ihrer Kinder weniger wichtig erscheint als deren schulischer Erfolg. Dabei sind es in der Wahrnehmung der Kinder vor allem die Mütter, von denen der Leistungsdruck ausgeht oder die den Leistungsdruck der Schule weitergeben und die für eine Medikation sorgen, die ihren Kindern die Anpassung an die gesellschaftlichen Erfolgsbedingungen erleichtern soll.
"Aber jetzt habe ich welche im Ranzen " Bevor der 10-jährige Noel die Tabletten bekam, hat er "sehr viel Quatsch gemacht"; und den macht er noch immer, wenn er vergisst, sie einzunehmen: "Die Lehrer beschweren sich alle ich rede halt viel mit meinen Klassenkameraden, mitten, wenn die [Lehrerin] was erklärt, und ich spiele mit Stiften und so und noch andere Sachen halt".; "Zappele die ganze Zeit auf dem Stuhl rum und mache halt viel mit den Armen." Ohne Tabletten kann Noel dieses Verhalten nicht einstellen, obwohl er es will: "Weil ich wollte ja auch, dass ich nicht mehr so-, dass ich nicht mehr so bin, dass ich halt mit vielen Sachen im Unterricht spiele. jetzt passe ich mal auf, das geht halt nicht bei mir, ich versuche es , aber es geht halt nicht". Es geht selbst dann nicht, wenn er sich anstrengt: "Dann würde ich schon aufhören kurz, aber dann mit einem Mal vergesse ich es halt wieder und fange einfach wieder an." Noel will ruhig und aufmerksam sein können, weil er, wie eine Kinderpsychologin feststellt, ein "Schlauer" ist, "schlauer als manch andere Kinder in der Klasse". Um dieses Potenzial zu entfalten, nimmt er die Tabletten ein: "Ich wollte auch, dass ich in der Schule besser werde", denn "mit den Tabletten da geht es halt besser". Deshalb will er sie zumindest so lange einnehmen, bis er sich auch ohne sie kontrollieren kann: "Ich will gerne, dass ich die Tabletten eben mal nicht mehr brauche, dass ich dann von selbst nicht hyperaktiv bin und dass ich dann wieder einen geregelten Ablauf bekomme." Hinter diesem Wunsch aber erscheint die Angst: "Ohne die [Tabletten] geht fast gar nix"; "Sonst würde die Schule eigentlich gar nicht funktionieren, ich würde nicht aufs Gymnasium kommen." Am deutlichsten zeigt sich diese Angst in einer Passage des Interviews, in der es zu einer bemerkenswerten Verständigungsschwierigkeit kommt. Sie entsteht aus Noels Äußerung, Quatsch zu machen, "Das ist wie eine Strafe": ["Eine Strafe für wen?"] "Für mich eigentlich in der Schule." ["Es ist eine Strafe für dich, dass du die Tabletten nehmen musst?"] "Nein, es ist keine Strafe, wenn ich sie nicht nehme, ist es eine Strafe dafür, so merke ich mir das, weil, wenn ich sie nicht nehme, dann werde ich irgendwie bestraft und halt ich bestrafe mich dann selbst, indem ich dann viel Quatsch mache." ["Das habe ich jetzt noch nicht verstanden, das ist eine Strafe für-."] (Unterbricht) "Das ist wie eine Strafe." ["Wie eine Strafe. Und wie ist das, kannst du das noch mal erklären?"] "Also, wenn ich sie nicht nehme, dann ist das halt-, dann bin ich also hyperaktiv, und das ist dann wie eine Strafe für mich, dass ich so hyperaktiv bin, weil, das möchte ich ja selbst auch nicht, dass ich hyperaktiv bin." ["Und wer straft dich dann?"] "Eigentlich niemand, außer dass ich dann hyperaktiv bin. Also das mit der Strafe ist einfach nur so [ein] Umgangswort." Versucht man die Verständigungsschwierigkeiten so stimmig wie möglich aufzulösen, dann sagt Noel: "Wenn ich die Tabletten nicht nehme, werde ich (wieder) hyperaktiv und das heißt, ich müsste die daraus resultierenden negativen schulischen Folgen tragen. Da ich diese Folgen nicht tragen möchte, würde ich mich selbst bestrafen, wenn ich die Tabletten nicht nähme." Dass Noel in diesem Zusammenhang von "Strafe" spricht, ist auffällig, auch wenn er rückwirkend versucht, seine Wortwahl als bloßes "Umgangswort" zu neutralisieren. Die Verständigungsschwierigkeiten resultieren daraus, dass in Noels Äußerungen vage bleibt, wer wen bestraft: Kommt die Strafe von außen, sind es die Eltern und Lehrer oder abstrakt die sozialen (schulischen) Verhältnisse, die ihn für sein hyperaktives Verhalten bestrafen, oder bestraft er sich selbst? Die Unklarheit der Äußerung lässt sich als Manifestation des noch nicht stabilisierten Übergangs von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle verstehen. Wenn es Noel noch an Selbstkontrolle mangelt, dann liegt das daran, dass es in seinem Leben einen Lebensentwurf gibt, der den Lebensentwurf, den seine Mutter für ihn vor Augen hat, unterläuft. Noel ist mit seinem Vater bezeichnenderweise über einen positiv besetzten Begriff des Quatschmachens verbunden: "Und mit dem [Vater] kann man auch jeden möglichen Quatsch machen, also mit dem kann man auf den Balkon gehen, Wasserpistolen laden und, wenn unten Leute vorbeilaufen, abschießen". Bei dieser Vorstellung lebt Noel auf. Aber er weiß, dass er sie nicht realisieren kann, ohne in Konflikte zu geraten, die er nicht durchsteht. Deshalb fügt er sich: Hat er die Tabletten anfangs "nicht so toll gefunden", stimmt er seiner Medikation einschließlich einer steigenden Dosierung: nach anfänglich 10 mg "waren es irgendwann später die 20er, dann die 30er und jetzt die 40er" inzwischen zu, weil er gelernt hat, es als Strafe zu begreifen, wenn er sie nicht nimmt. Die Fremdkontrolle wird in der Selbstkontrolle unsichtbar, die allerdings vorerst darin besteht, dass Noel seine Tabletteneinnahme selbst kontrolliert: "Aber jetzt habe ich welche im Ranzen, falls ich die mal vergesse, kann ich die in der Schule nachnehmen."
Von der Selbstkontrolle zur Selbstfürsorge Da Triebverzicht gefordert wird, um eine bestimmte Gesellschaftsordnung zu reproduzieren, geht von Triebbedürfnissen, die nicht hinreichend kontrolliert werden, eine destabilisierende Wirkung aus. Es sind Kräfte, die auf eine Veränderung der bestehenden Ordnung drängen. Da Entwicklungsprozesse aber nur über Veränderungen in Gang kommen, beinhaltet jede Weigerung, auf die Befriedigung von Triebbedürfnissen zu verzichten, auch ein kreatives Potenzial. Wer es entfalten will, muss sich sozialen Ängsten aussetzen, den eigenen wie denen seiner Mitmenschen. Er muss seine Selbstkontrolle daraufhin prüfen, inwieweit sie das Resultat einer Verinnerlichung von Fremdkontrolle ist, die eine automatische Anpassung verlangt. Eine solche Prüfung mag dazu führen, die Strenge der eigenen Selbstkontrolle zu überdenken, ohne aber auf Selbstkontrolle verzichten zu können. Denn auch die intendierte Verbesserung einer bestehenden Gesellschaftsordnung ist ohne Selbstkontrolle nicht möglich. Dieser Umstand verweist auf die konzeptuelle Notwendigkeit, zwischen zwei Aspekten von Selbstkontrolle zu unterscheiden: Erstens ist Selbstkontrolle eine lebensgeschichtlich erworbene Ich-Funktion, die individuell dazu dient, eigene Interessen zu vertreten und Normen einzuhalten. Zweitens ist sie selbst eine Norm, die verlangt, in bestimmten Situationen, im Extremfall immer und überall kontrolliert oder genauer: rationalisiert zu handeln. Als solche setzt sie die entsprechende Ich-Funktion voraus. Um nicht zu einem Habitus zu erstarren, der um seiner selbst willen aufrechterhalten wird, bedarf die Selbstkontrolle eines Komplements, das für eine Entwicklungsdynamik sorgt. Begreift man Spontaneität als eine Regression im Dienste des Ich, dann ist sie dieses Komplement. Denn ohne Spontaneität droht Erstarrung, aber ohne Selbstkontrolle lassen sich spontane Veränderungen nicht verstetigen, auch wenn sie zweifelsfrei als Verbesserungen eingeschätzt werden. Um die skizzierte Entwicklungsdynamik begrifflich zu präzisieren, wäre es vielleicht angeraten, den Begriff der Selbstkontrolle durch den der Selbstfürsorge (Küchenhoff 1999) zu ersetzen. In ihm schwingen bereits die deskriptive und die normative Vorstellung mit, dass Selbstkontrolle nur dann eine vitale Ich-Funktion ist, wenn sie die Möglichkeiten eines Individuums zu handeln und zu erleben erweitern.
Affektregulation Die psychoanalytische Kulturtheorie ist ursprünglich triebtheoretisch konzeptualisiert. Gegen diese Konzeptualisierung gibt es gut begründete Einwände, die aber hier nicht referiert und diskutiert werden sollen. Hellsichtig hat Freud (1915d) im Konzept des Triebes im Unterschied zum Konzept des Instinkts ein notwendiges Ineinander von Natur, den somatischen Triebquellen, und Kultur, den Triebobjekten, formuliert. In der naturalistischen Lesart des Triebkonzepts dominiert die Natur die Kultur, in der kulturalistischen die Kultur die Natur. Wenn Alfred Lorenzer (1972, 2002) Triebe als "Interaktionsformen" rekonstruiert, dann um die Polarisierung von Natur und Kultur aufzuheben und Triebe als soziokulturell konstituierte Leiblichkeit zu begreifen. In den modernen Neurowissenschaften findet sich diese Position eindrucksvoll bestätigt. Wie Menschen praktisch miteinander umgehen, bleibt ihnen nicht äußerlich, sondern prägt von ihrem intrauterinen Leben an ihre "Natur", etwa als permanente Umstrukturierung ihrer neuronalen Netzwerke (z. B. Hüther 1996). Insofern werden Beziehungserfahrungen in ihrer Grundschicht verkörpert und damit auch leiblich erlebt eine "naturalisierte" Erfahrung, die lebenslang nur bedingt bewusst eingeholt und damit auch verbalisiert werden kann. Was Freud in seiner Kulturtheorie triebtheoretisch abhandelt, wird heute zunehmend affekttheoretisch konzeptualisiert, wobei eine Verbindung darin besteht, dass Freud (1915d) bemüht war, Affekte als Triebrepräsentanzen zu fassen. In affekttheoretischer Perspektive bemisst sich der Erwerb von Selbstkontrolle oder Selbstfürsorge an der Fähigkeit, die eigenen Affekte zweckdienlich zu regulieren (Fonagy 2002). Affekte werden dabei als phylogenetische Dispositionen begriffen, den Körper in bestimmte Bewegungen zu versetzen, wie es der Begriff der Emotion in seiner buchstäblichen Bedeutung besagt. So gesehen, sind Affekte präreflexive Handlungsbereitschaften, die nicht mit Reflexen verwechselt werden dürfen, auch dann nicht, wenn ihre Wirkung imperativ erlebt wird (Frijda 1996). Ob es begründet ist, zwischen Affekten und Emotionen zu unterscheiden, soll hier dahingestellt sein. Im Vergleich der jeweiligen Konnotationen wird mit dem Affektbegriff eine stärkere Impulsivität assoziiert, gerade darin besteht seine Nähe zum Triebbegriff. Für die Anthropologie, die Freud in seiner Kulturtheorie vertritt, ist die Annahme wesentlich, dass Affekte/Emotionen immer Manifestationen konfliktträchtiger Prozesse der soziokulturellen Integration sind. Wenn Individuen mittels Sozialisation und Erziehung soziokulturell integriert werden, dann beinhaltet diese Integration ein irreduzibles Moment der Unterwerfung, weil die menschliche Triebnatur keine "natürliche" soziokulturelle Anpassung leistet. Selbst wenn man wie in der Bindungstheorie (Brisch et al. 2002) von einem phylogenetisch disponierten Bindungsbedürfnis ausgeht, wäre es ein Kurzschluss, Konfliktfreiheit zu unterstellen. Freilich gebraucht Freud im Vergleich mit der Bindungstheorie eine sehr viel dramatischere Rhetorik, die man aus heutiger Sicht für unzeitgemäß halten mag. Wird sie für unzeitgemäß gehalten, suggeriert das leicht, die Konfliktspannung zwischen Individuum und Kultur kennzeichne autoritäre Gesellschaften, die historisch bereits überwunden seien oder noch überwunden werden müssten. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft würden sich dagegen solche Spannungen erübrigen. Zwar antizipiert auch Freud einen Zivilisationsprozess, wie ihn Norbert Elias (1977) postuliert hat. Aber er bleibt ungleich skeptischer. In seiner Perspektive erscheint es als Idealisierung, Sozialisation und Erziehung als konfliktfrei zu beschreiben als Verleugnung der Gewalt, die nach wie vor von allen Agenten und Agenturen ausgeht, die an der soziokulturellen Integration beteiligt sind. Wird Selbstkontrolle oder Selbstfürsorge als die Fähigkeit konzeptualisiert, die eigenen Affekte/Emotionen zu regulieren, dann kann dafür derselbe Problemaufriss gelten, wie für die Triebtheorie beschrieben. Eine selbstkontrollierte oder selbstfürsorgliche Affekt-/Emotionsregulation ist das lebensgeschichtliche Resultat von Erfahrungen mit fremdkontrollierten Affekt-/Emotionsregulationen. Denn es sind die signifikanten Bezugspersonen, die den Heranwachsenden von Kindheit an als Hilfs-Ich zur Seite gestanden haben. Wie sie in die Affekt-/Emotionsregulation ihres Nachwuchses eingreifen, geschieht nicht beliebig, sondern im Hinblick auf die Emotionsnormen (Hochschild 1979) ihrer Emotionskultur (Gordon 1989). Denn Gemeinschaften/Gesellschaften sind immer auch emotional verankert und das auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Emotionalität, die das generelle Ausmaß der Rationalisierung, also das Verhältnis von Emotionen und Kognitionen betrifft, sowie auf der Ebene differenzieller Emotionen wie Freude, Stolz, Ekel, Ärger, Wut, Scham, Schuld, Neid, Traurigkeit u.a.m. In allen Gemeinschaften/Gesellschaften finden sich Normen, die den erwachsenen Mitgliedern vorschreiben, wie sie auf beiden Ebenen zu handeln haben, um soziokulturell integriert zu sein. Vorgeschrieben wird entweder nur der affektive/emotionale Ausdruck oder darüber hinausgehend auch, wer was in welcher Situation fühlen soll. Die Einhaltung ihrer Emotionsnormen bestätigt eine Gemeinschaft/Gesellschaft; Verletzungen oder Brüche dieser Normen können sie unter Veränderungsdruck setzen.
Psychostrukturelle Zerreißprobe Der Sozialcharakter, den eine bestimmte Gesellschaftsordnung prämiert, weshalb sie ihn durch Sozialisation und Erziehung in einer hinreichenden Menge herzustellen sucht, ist immer auch durch einen bestimmten emotionalen Habitus gekennzeichnet. So hat Elias (1977, LXIII) den Zivilisationsprozess als Prozess rekonstruiert, in dem der "Homo clausus" zum dominanten Sozialcharakter aufsteigt. Dieser Charakterformation entspricht eine geringe Emotionalität, die durch eine starke Schamangst vor allen vitalen Lebensäußerungen zustande kommt. Der "Homo clausus" ist der Sozialcharakter, der die kartesianische Spaltung von Körper und Geist psychostrukturell vollzieht. Sein Lebensentwurf beruht auf der Vorstellung, dass Emotionen ausgeschaltet werden müssen, um zweckrational handeln zu können, was die Zurichtung der eigenen Person zu einem effektiven Arbeitsinstrument einschließt. Diese Vorstellung ist nachweislich falsch (Damasio 1995). Emotionen sind ein integraler Bestandteil des Verstandes. Emotionslosigkeit gefährdet die menschliche Rationalität. Das belegen Patienten mit Verletzungen des Frontalhirns, die auffällige Persönlichkeitsveränderungen zeigen, auch wenn sie körperlich anscheinend gesund sind. Obwohl ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt scheinen, sind sie nicht mehr fähig, ihr Leben, das sie vor ihrer Verletzung erfolgreich gelebt haben, zu organisieren. Ihre Verletzung erzeugt die Spaltung, die Descartes als Normalität voraussetzt. Denn beim Urteilen und Entscheiden werden im Frontalhirn die wahrgenommenen Handlungsalternativen nicht nur durchdacht, sondern zugleich emotional bewertet. Diese Bewertung erfolgt automatisch anhand von angeborenen und gelernten "somatischen Markern": Angenehme und unangenehme Körperempfindungen bahnen die Richtung des Denkens, ohne dass solche Vorgaben bewusst würden. Damit ist zwar nicht garantiert, dass die gefällten Urteile und getroffenen Entscheidungen "richtig" sind. Ohne entsprechende emotionale Bewertung kommen aber überhaupt keine geordneten Urteils- und Entscheidungsprozesse zustande, an denen höhere kognitive Fähigkeiten ansetzen könnten. Vor allem in Situationen, die Handeln verlangen, in denen keine hinreichenden handlungsleitenden Informationen zur Verfügung stehen, sind Emotionen existenziell wichtig. In solchen Situationen treffen Handelnde ihre Entscheidung meist durch eine "selektive Fokussierung einiger Merkmale bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Merkmale. Da Emotionen die Funktion haben, bestimmte Merkmale hervorzuheben, ist die Fähigkeit, Emotionen zu empfinden, wesentlich, um sich unter solchen Bedingungen überhaupt zu entscheiden" (McAllister 2005, S. 571). Spätestens seit den 1970er Jahren steht der "Homo clausus" im westlichen Kulturkreis in der Kritik. Im Zuge von gesellschaftlichen Prozessen der "Informalisierung" (Wouters 1977) sind neue Leitbilder entstanden, die für einen emotionaleren Sozialcharakter eintreten. Anders dagegen in Asien, wo nach wie vor ein ungleich größerer Wert auf strenge emotionale Zurückhaltung gelegt und die Missachtung dieses Gebots durch Beschämung sanktioniert wird. Es verwundert deshalb nicht, dass sich in Asien eine signifikant niedrigere Prävalenz für eine AD(H)S findet (Leung et al. 1996; Yao et al. 1988). Allerdings dürfte mit stereotypen Wahrnehmungen zu rechnen sein. Wenn britische Lehrer bei Schülern mit chinesischem Kulturhintergrund signifikant weniger Hyperaktivität wahrnehmen als bei gleichaltrigen britischen Schülern, dann mag das Temperamentsdifferenzen entsprechen, aber auch Wahrnehmungsdifferenzen wiedergeben, in denen sich das britische Heterostereotyp des Asiaten spiegelt, der immer lächelt und sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen lässt (Sonuga-Barke et al. 1993). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie weit die steigende Zahl von AD(H)S-Kindern und -Jugendlichen einen sozialcharakterologischen Wandel anzeigt (Haubl 2008). Zumindest diejenigen unter ihnen mit nur gering ausgeprägten Symptomen imponieren nicht selten durch den Charme temperamentvoller Lebendigkeit. Mit zunehmender Intensität der Symptome geht dieser Charme aber schnell verloren. Man hat es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in einer Konsumgesellschaft aufwachsen, deren Ziel eine ständige Emotionalisierung im Dienste eines unstillbaren Begehrens ist. In einer solchen auf Zerstreuung angelegten Welt sollen sie sich konzentrieren! Diese widersprüchliche Anforderung ist eine psychostrukturelle Zerreißprobe, die Viele nicht bestehen. Sie werden von Affekten überflutet, die sie nicht mehr regulieren können. So reagieren sie etwa in kompetitiven Leistungssituationen im Vergleich mit Jungen ohne eine AD(H)S sehr viel offener enttäuscht und verärgert, wenn sie unterlegen sind und das auch dann, wenn sie instruiert werden, zu verbergen, wie sie sich fühlen (Walcott u. Landau 2004). Es mangelt ihnen an "emotionaler Kompetenz" (Saarni 1999) und das insbesondere bei der Regulierung aggressiver Emotionen wie Ärger und Wut.
Blinde Wut Unter den 60 Jungen, mit denen wir in unserem Forschungsprojekt gesprochen haben, sind etliche, die immer wieder bei kleinsten Anlässen in Wut ausbrechen, ihre eigenen Wutanfälle aber mehr oder weniger erschreckend erleben: Der 10-jährige Jonas etwa berichtet, bevor er Medikamente bekommen hat, ist er "immer so schnell wütend geworden". Als Beispiel führt er eine Situation an, in der ihn Mitschüler mit Wasser angespritzt haben: "Ja, da habe ich so Wut gehabt, dass ich da [einem Mitschüler] eine Gehirnerschütterung gemacht habe". Auf die Frage nach seinen anschließenden Gefühlen, sagt Jonas spürbar gedrückt: "Sehr traurig weil ich immer sehr wütend werde, obwohl ich nicht wütend werden will." Da er seine Wutanfälle bisher noch nicht selbst kontrollieren kann, stimmt er seiner Medikation zu, auch wenn er sich nach Einnahme der Tabletten wie ein "Roboter" fühlt. Er nimmt diese gravierende Nebenwirkung in Kauf, weil er sich durch die Tabletten "zurückhalten kann mit der Faust". Dabei hofft er darauf, dass er das Medikament mit seinem 18. Lebensjahr absetzen kann. Denn in seiner Vorstellung sind seine Wutanfälle die Folge eines Mangels an Gehirnreifung. Aufgrund dieser objektivierenden Erklärung glaubt er, dass bis zu seiner Volljährigkeit sein "Gehirn anders auch ist, gewachsen ist, mit Erfahrung [sich immer besser selbst kontrollieren zu können] und so". Jonas spricht selbst von Wut. Offenbar kennt er dieses Gefühl gut und er leidet unter ihm. Wovon er nicht spricht, sind die Gründe, warum er wütend wird. Bestenfalls nennt er wie in seinem Beispiel einen Anlass. Oder er führt eine weitere objektivierende Erklärung an, dieses Mal aus der Komplementärmedizin: "Manchmal werde ich auch verrückt, weil ich so viel Zucker nehme Nur wenn ich zu viel Zucker esse und trinke , kann ich mich nicht mehr beherrschen." Der 11-jährige Tom benennt die Regulation seiner Wut sogar als Entwicklungsziel: "Dass ich halt aufpassen soll, dass ich nicht mehr so wütend werde und so, dass ich mich halt beherrschen soll". Spricht er von Sollen und nicht von Wollen, wird deutlich, dass Tom sich mit einem Gebot konfrontiert erlebt, das er nicht so recht einsieht. Das Medikament verhilft ihm dazu, diesem Gebot gerecht zu werden, ohne es verinnerlicht zu haben, allerdings nur solange es wirkt: "Wenn mich jemand ein paar Mal schubst, also wenn die [Tablette] noch wirkt, dann lass ich mich nicht reizen, aber wenn die nicht mehr so viel wirkt, dann lasse ich mich halt eher reizen , dann muss ich mich schlagen". Da es das Medikament ist, das den imperativen Drang, sich zu schlagen, reguliert, spürt Tom auch keine Verantwortung für das, was er tut. Diese Verantwortung hat er an das Medikament abgetreten. Seine persönliche Verantwortung besteht allenfalls darin, auf eine angemessene Tabletteneinnahme zu achten, wenn nicht auch das Monitoring von seinen Eltern übernommen wird. Im Unterschied zu Jonas finden sich bei Tom keine Hinweise darauf, dass er traurig ist, zuschlagen zu müssen. Schlägt er zu, erlebt er dies als eine reflexartige Reaktion auf einen Reiz wie den, geschubst zu werden. Diesen Reiz-Reaktions-Zusammenhang vermag er nur medikamentös zu hemmen, nicht aber willentlich zu unterbrechen, weil er auch nicht versteht, was ihn so wütend macht. Schubsen erscheint in diesem Zusammenhang als ein physikalischer Reiz und nicht als ein sozialer, der z. B. mit Statuskämpfen innerhalb der Gleichaltrigengruppe verbunden wäre. Eine ganze Reihe der Jungen berichtet von Situationen, in denen sie aus der Perspektive der Interviewer und der Interpreten der Interviews wütend gewesen sind, ihre Erregung aber anders bezeichnen. Der 8-jährige Harry etwa spricht davon, dass er "teufelig" und "wild" wird. Auf die Frage, "Warst du wütend auf irgendwas oder wieso wird man dann so wild?", antwortet Harry erst "keine Ahnung" und schiebt dann nach: "Das war immer ein bisschen viel Aufregung". Versteht man "wütend" als Beschreibung eines innerpsychischen Zustands, für den es Gründe gibt, und "wild" als Beschreibung eines Verhaltens, dann nimmt Harry das Angebot nicht an, über seine Gründe nachzudenken. Er ist "aufgeregt" gewesen, warum, kann er nicht sagen. Harry ist mit der Einnahme der Medikamente einverstanden, weil sie seine Aggressionen dämpfen. Ohne Tabletten würde er selbst bei einem "Scherz" seiner Klassenkameraden zuschlagen: "Dann würde ich sie schlagen und so was, so ungefähr halt, und das ist dann blöd halt immer, wenn so was entsteht, dann kriegt man nämlich Ärger, das ist noch blöder halt." Bezeichnenderweise argumentiert Harry auch hier außengeleitet: Er schlägt nur deshalb nicht zu, weil er keinen Ärger haben will, mithin aufgrund von sozialer Angst und nicht aufgrund von Einsicht. Die Tabletten helfen ihm nicht, den Sinn eines Aggressionsverzichts einzusehen, sondern hindern ihn neuronal daran, sozial nicht gebilligtes Verhalten zu zeigen. Auch Harry bevorzugt eine objektivierende Erklärung, wobei er eine bemerkenswerte Vorstellung entwickelt, deren Vorbild womöglich ein Film über Kariesprophylaxe gewesen ist. Denn auf die Wirkung seiner Medikamente angesprochen, sagt er, dass die Tabletten "wie beim Zähneputzen" dazu dienen, gefährliche "Bakterien" zu "bekämpfen". Die Bakterien sind "böse. Da kriege ich immer sofort einen Ausraster." Sie greifen seine Selbstkontrolle an und setzen sie außer Kraft. Damit dies nicht geschieht, bilden die Medikamente eine "Mauer", wodurch die Bakterien daran gehindert werden, zu der "Ausrasterstelle" vorzudringen, weil sie sich im Angriff auf die Schutzmauer zersetzen: "Dann sind sie [die Bakterien] irgendwann ganz futsch. Und wenn sie [die Tabletten] aufhören zu wirken, sind sie wieder da." So gesehen, versinnbildlicht Harry die Aufforderung der Erwachsenen, seine sozial nicht gebilligten Aggressionen unter Kontrolle zu bringen, als einen permanenten Angriff bakterieller Krankheitserreger, die abgewehrt werden müssen. Ein Ende dieses Kampfes, der in seinem Körper tobt, ist nicht abzusehen, weil sich die bakteriellen Krankheitserreger, sprich: seine Aggressionen, immer wieder erneuern, und nur durch eine medikamentöse Schutzmauer daran gehindert werden können, durchzubrechen und ein Ausrasten zu verursachen. Diese objektivierende Erklärung lässt für ihn erst gar nicht die Frage aufkommen, welches denn die Gründe sind, aus denen er ohne Medikamente ausrastet. Von solchen Gründen erhält man im Interview bestenfalls eine Ahnung: So erzählt Harry von einer Zeit in seinem Leben, in der er besonders "wild" gewesen ist. Zur Veranschaulichung wählt er eine wiederkehrende Situation, in der es ihn getrieben hat, "immer Spielzeug rauszureißen aus den Kisten". Man kann sich ausmalen, wie er die Gegenstände hoch erregt traktiert. Diese Situationen sind in seiner Erinnerung eng mit dem Anfang der Medikation verbunden: "Da habe ich die Medicinet verschrieben gekriegt". Warum er gerade diese Situationen erinnert, wird im Interview nicht klar. Er beginnt, Tabletten einzunehmen, als er in die zweite Grundschulklasse kommt. Vermutlich ist es aber auch die Zeit, in der sein Vater die Familie verlässt. Bis heute beklagt Harry sich, dass er ihn viel zu selten sieht. Angenommen, diese Vermutung trifft zu, dann mag das erregte Herausreißen des Spielzeugs aus den Kisten die Inszenierung eines Verlustes gewesen sein, der ihn in einem Gemisch aus Angst, Wut und Trauer zurückgelassen hat. Die Situationen würden erinnert, weil sie bis heute unverstanden sind. An die Stelle notwendigen Sinnverstehens wäre die Medikation getreten. Indem sie seine Erregung erfolgreich dämpft, bleibt sie unverstanden und auf weitere Medikation angewiesen.
Untaugliche Beruhigungsversuche In etlichen Interviews finden sich sowohl Beschreibungen von nichtmedikamentösen Strategien, die AD(H)S-Kinder und -Jugendliche von ihren Eltern empfohlen bekommen, um sich zu beherrschen, als auch Beschreibungen von nichtmedikamentösen Strategien, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen selbst zu beruhigen versuchen. So berichtet der 8-jährige Justus, der aggressiv wird, wenn sein älterer Bruder ihn ärgert, indem er ihn "Behindikindi [behindertes Kind]" nennt oder ihn mimisch provoziert: "Und die Mama hat halt gesagt, ich soll mich nicht mehr so aufregen, ich soll einfach-, wenn er Grimassen zieht oder mich ärgert, soll ich einfach weggucken." Da Justus und seinesgleichen nicht über die dazu notwendige Selbstkontrolle verfügen, sind solche Empfehlungen aber nicht hilfreich und sprechen eher für die Hilflosigkeit der Eltern. Das gilt auch für Beruhigungsversuche, zu denen die betroffenen Kinder und Jugendlichen von sich aus Zuflucht nehmen, was im Fall des 9-jährigen Olli Rudi, der manchmal unkontrollierbar "aufgedreht" ist, sogar wörtlich zutrifft: Wenn er gar nicht mehr anders kann, dann geht er ins Bad, knallt die Tür zu und schließt sich ein. Auf diese Weise befreit er sich aus unerträglichen Situationen, ohne dafür aber auf Verständnis zu treffen. Denn offenbar "meckert" ihm sein Vater hinterher, weil beim Türeknallen das Türschloss "kaputt gehen" könnte. Olli Rudi klingt enttäuscht, weil sich sein Vater mehr um die Tür als um ihn sorgt. So wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen meist nicht v
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"Ihr habt alle Dinge verstanden, die ich euch gesagt habe, und ihr habt sie im Glauben angenommen. Wenn ihr sie erkannt habt, dann sind sie die Eurigen. Wenn nicht, dann sind sie nicht die Eurigen."
AntwortenLöschenJesus von Nazareth (nicht in der Bibel zu finden)
"Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht."
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
"Steht der in Gütergemeinschaft lebende Kommunist am äußersten rechten Flügel, am Ausgangstor der gesellschaftlichen Entwicklung, bedeutet darum die kommunistische Forderung den letzten reaktionären Schritt, so muss die Natürliche Wirtschaftsordnung als Programm der Aktion, des Fortschritts des äußersten linken Flügelmannes angesehen werden. Alles, was dazwischen liegt, sind nur Entwicklungsstationen."
Silvio Gesell
"The greatest tragedy in mankind’s entire history may be the hijacking of morality by religion."
Arthur C. Clarke
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