Freitag, 18. Februar 2011

Der #Aufstand der #Armen - Warum erreichen soziale Bewegungen ihre Ziele manchmal und warum manchmal nicht?

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aufstand-der-armen
Warum erreichen soziale Bewegungen ihre Ziele manchmal und warum manchmal nicht? Wann erreichen sie mit welchen Mitteln welche Ziele? Wie können soziale Bewegungen im Kapitalismus über Anpassungen und Regulation hinaus ernsthafte systemische Veränderungen bewirken? Und inwiefern lassen sich auf der Basis bewegungsgeschichtlicher Beispiele systematische Aussagen zu diesen und weiteren Fragen treffen? Darum geht es in dem 1977 in den USA und erst 1986 in deutscher Sprache erschienenen Buch der beiden Soziologen Richard Cloward und Frances Fox Piven “Aufstand der Armen” (engl.: Poor People’s Movements).

Das Buch erschien damals bei Suhrkamp mit einem ausführlichen Vorwort von Stephan Leibfried und Wolf-Dieter Narr mit dem Titel “Sozialer Protest und politische Form. Ein Plädoyer für Unruhe, Unordnung und Protest”. Es ist derzeit so vergriffen, dass es nicht einmal in den Internet-Antiquariaten erhältlich ist. Und Suhrkamp hat offensichtlich anderes zu tun als Bewegungs-Empowerment-Literatur neu aufzulegen. Daher gibt’s das Buch jetzt hier bis auf weiteres als Volltext zum Download.

Wer erstmal eine interessante Buchbesprechung lesen will, der oder die sei auf die Besprechung von Christian Frings im Labournet verwiesen, die beinahe Einführungscharakter hat.

Im der Monatzeitung “analyse&kritik” konnte man vor einiger Zeit nachlesen, wie das scheinbar alte Buch sehr anregend sein kann auch für ganz aktuelle bewegungsstrategische Debattenbeiträge. Olaf Bernau von NoLager Bremen empfiehlt im ak Nr. 541 vom 21.8.2009 “Runter vom Beobachtungsturm” und bedient sich zur Untermauerung seiner Thesen sehr ausführlich bei Piven und Cloward. Er kommt zu dem Ergebnis, so der Untertitel: “Die bewegungsorientierte Linke ist auf etwaige Krisenproteste unverändert schlecht vorbereitet”.


Hier auch der volle Text dieses ak-Artikels, der dort auf der Homepage leider nicht online ist:


Geht es um praktische Kriseninterventionen, ist ein gewisser Hang zum Abstinenzlerischen unübersehbar: Im Zentrum der Debatte stehen gemeinhin programmatische und bündnistaktische Erwägungen. Demgegenüber spielt die Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt zu Widerständigkeiten bzw. sozialen Kämpfen kommt, eine eher marginale Rolle. Es ist also kaum verwunderlich, dass die allenthalben artikulierte Forderung nach lokalen Krisenbündnissen immer wieder im bloßen Appell stecken bleibt: Nicht zuletzt die konkrete Bestimmung, wie sich soziale Bewegungen in betriebliche und andere Auseinandersetzungen einbringen könnten, wird häufig nur am Rande gestreift.


Exemplarisch lässt sich dies anhand dreier Debattenbeiträge aus der

jüngeren Zeit verdeutlichen: Unter dem Titel „Agenda 2009: Menschen

statt Profite“ haben im Anschluss an die Krisendemonstrationen am 28.

März diverse (in unterschiedlichen Organisationen und Bündnissen aktive)

Einzelpersonen sowie die Gruppe soziale Kämpfe den Versuch einer

strategischen Standortbestimmung unternommen (ak 539). Große Teile des

Papieres beschäftigen sich mit der Analyse des herrschenden

Krisenmanagements sowie der Formulierung programmatischer

Gegenperspektiven. Wie indessen die ins Auge gefasste

„Widerstandsagenda“ realisiert werden soll – inklusive politischem

Streik, ja Generalstreik – bleibt ungeklärt. Gewiss, am Ende des

Beitrages werden stichwortartig Termin- und Aktionsvorschläge

unterbreitet, dennoch fehlt eine wie auch immer vorläufige Analyse

aktueller Kräfteverhältnisse, also auch eine Auseinandersetzung mit den

Konsequenzen jener zahlreichen Niederlagen, welche nicht nur das globale

Proletariat, sondern auch soziale Bewegungen in den letzten zwei bis

drei Jahrzehnten erlitten haben. Hintergrund dieses Mankos dürfte die

mittlerweile hinreichend erschütterte Annahme sein, wonach die Finanz-

bzw. Wirtschaftskrise zugleich eine grundlegende Legitimitätskrise des

Kapitalismus hervorgebracht und somit quasi automatisch (sic) ein

Fensterchen für emanzipatorische Politiken geöffnet habe. Ganz ähnlich

verhält es sich mit dem Diskussionsbeitrag „Wie weiter nach dem 28.

März?“, den Angela Klein für die Aktionskonferenz in Kassel am 27./28.

Juni verfasst hat: Sie spricht zwar von „Ohnmacht und Angst“, welche

sich in der Bevölkerung ausbreiten würden, frönt dann allerdings einem

fast schon frivol anmutenden Krisenoptimismus: „Gleichzeitig – und das

ist kein Widerspruch – weist die Stimmungslage eine Tendenz zur

Radikalisierung auf; es geht die Rede vom Generalstreik; es gibt erste,

wenn auch kurzzeitige Betriebsbesetzungen; es gibt an verschiedenen

Orten Kämpfe, die den Willen ausdrücken, trotz Krise den eigenen

Lebensstandard zu behaupten.“ Kurzum: Auch bei Angela Klein sind keine

Antworten auf die Frage zu finden, wie soziale Kämpfe – ob mit oder ohne

linke Beteiligung – zu ihrer vormaligen Stärke zurückfinden könnten.

Denn auch sie scheint, Krise und Widerständigkeit umstandslos

kurzzuschließen – ohne systematische Analyse jener Bedingungen, die

gegeben sein müssen, damit Proteste überhaupt zustandekommen und eine

ernsthafte, in der Breite verankerte Eigendynamik entfalten können.

Schließlich Thomas Seibert: In seinem Beitrag „Die Unbestimmtheit

nutzen, dem Ereignis auflauern“ (ak 540) lässt er die von ihm vage am

Horizont erspähten sozialen Unruhen zum bloßen „Ereignis“

zusammenschnurren. Entsprechend kreisen seine Überlegungen in erster

Linie um die organisierte Linke, also jenes Spektrum zwischen

Linkspartei, linken GewerkschafterInnen, attac und radikaler Linke.

Vieles davon ist grundlegend, insbesondere die von Thomas Seibert schon

seit längerem propagierte Devise, dass Kooperation in Bündnissen die

prinzipielle Bereitschaft voraussetze, den jeweiligen

BündnispartnerInnen ihre Eigenständigkeit zu belassen. Allein: Eine

„Strategie- und Organisationsdebatte“ – wie sie Thomas Seibert

vorschlägt – lässt Entscheidendes außen vor, wenn sie den Graben

zwischen organisierter Linker und ‘durchschnittlicher’ Bevölkerung zu

groß werden lässt und wenn sie obendrein nicht darzulegen vermag, wie

die organisierte Linke ohne (krypto-)leninistische Allüren in

betrieblichen und anderen Konflikten aktiv werden könnte.


Protest und offensiver Widerstand sind keine Selbstläufer, sie können

nicht kurzerhand aus objektiven Makro-Daten wie massenhaften

Betriebsschließungen oder Reallohnverlusten abgeleitet werden. Wer so

argumentiert, projiziert eigene Gerechtigkeitsvorstellungen in den

gesellschaftlichen Raum, und das mit der Konsequenz, dass unerklärlich

wird, weshalb konflikthafte, ja militante Kampfzyklen immer wieder von

defensiven, zeitlich oft lange andauernden Phasen unterbrochen werden,

in denen soziale Kämpfe merklich zurückgehen bzw. ihren Charakter ändern

und allenfalls unter der Oberfläche – meist als individuelle

Überlebensstrategien – weiterbrodeln. Vor diesem Hintergrund liegt es

nahe, zunächst einmal der Frage nachzugehen, unter welchen

Voraussetzungen es in Schwellen- und Industrieländern seitens der

subalternen – politisch nicht weitergehend organisierten – Klassen

überhaupt zu offensiven Widerständigkeiten kommt. Das ist einerseits

schwierig, da jeder Streik oder Konflikt eine hochgradig individuelle

Angelegenheit darstellt – insofern ist die etwaige Reichweite bzw.

Plausibilität der hier zusammengetragenen ‘Faktoren’ von Fall zu Fall

neu zu bewerten. Andererseits blickt die gesellschaftliche Linke im Feld

sozialer (Klassen-)Kämpfe auf eine derart lange und durchaus

erfolgreiche Geschichte zurück, dass es geradezu sträflich wäre, die

darin schlummernden Einsichten nicht für aktuelle Kämpfe fruchtbar zu

machen. (1)

a) Existentieller Druck & kollabierende Routinen: In ihrem Klassiker „Aufstand der Armen“ (original: 1977) entwerfen die US-TheoretikerInnen Frances Piven und Richard Cloward eine Art Drehbuch sozialer Kämpfe – expliziert anhand der US-amerikanischen Arbeitslosen- und ArbeiterInnenbewegungen in den 1930er Jahren sowie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der ebenfalls überwiegend schwarzen Bewegung der WohlfahrtsempfängerInnen seit den 1950er Jahren. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein zweifacher: Einerseits stünde am Anfang jeder größeren Protestwelle existentieller Druck, beispielsweise durch plötzliche Not oder enttäuschte Erwartungen. Andererseits bedürfe es des Zusammenbruchs der regulativen Kräfte einer Gesellschaft – quasi als Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen überhaupt auf die Barrikaden gingen. Konkreter: Sozioökonomische Einbrüche fielen bisweilen derart einschneidend aus, dass die herkömmlichen Strukturen und Abläufe des Alltagslebens und somit auch die loyale Anbindung der Menschen an die herrschende Sozialordnung kollabieren würden. Tiefenschärfe gewinnt dieses Szenario freilich erst, wenn der nebulös anmutende Terminus des

„existentiellen Drucks“ konkretisiert wird. Denn die diesbezügliche

Bandbreite ist – wie bereits angedeutet – beträchtlich, auch wenn

umgekehrt nie aus dem Blick geraten sollte, dass sich die

unterschiedlichen Dimensionen oftmals ergänzen bzw. überlappen:

Erstens: Historisch am relevantesten dürfte – jedenfalls bis zum Zweiten

Weltkrieg – die Erfahrung plötzlicher sozialer Deklassierung gewesen

sein. Was das konkret heißt, ist heutzutage immer dann zu erleben, wenn

mehr oder weniger unerwartet Massenentlassungen bzw.

Betriebsschließungen bekannt gegeben werden. So haben entsprechende

Entscheidungen – um nur drei Beispiele zu nennen – 2004 bei Opel in

Bochum, 2005 im AEG-Werk in Nürnberg und 2007 bei Bike-Systems in

Nordhausen jeweils spontan wilde Streiks bzw. de

facto-Betriebsbesetzungen nach sich gezogen. Noch dramatischer ist die

Situation, wenn ganze Branchen abgewickelt werden sollen: Erinnert sei

nur an den einjährigen – streckenweise bürgerkriegsartigen –

Bergarbeiterstreik 1984/85 in Großbritannien, welcher jedoch den

tatsächlich erfolgten Abbau von 580.000 Arbeitsplätzen im Bergbau nicht

aufzuhalten vermochte. Am nachhaltigsten hat sich – das ist in der

aktuellen Krisenberichterstattung einmal mehr deutlich geworden – die

Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren ins kollektive

Gedächtnis eingebrannt: 1933 sind zum Beispiel in den USA ein Drittel

der Erwerbsbevölkerung arbeitslos gewesen, zugleich ist das gesamte

Lohneinkommen zwischen 1929 und 1933 von 51 auf 26 Milliarden gesunken.

Umgekehrt ist dies, so Frances Piven und Richard Cloward, zwischen 1933

und 1937 mit einer für US-Verhältnisse ebenso unbekannten wie

erfolgreichen Massenmilitanz größerer Teile der ArbeiterInnen-Bewegung

einhergegangen.

Zweitens: Eine völlig anders gelagerte Dynamik ist das Phänomen

enttäuschter Erwartungen – auch bekannt als ‘relative Deprivation’:

Häufig zitiertes Beispiel sind die jungen, aus dem agrarisch geprägten

Süditalien in die norditalienischen Industriezentren migrierten

MassenarbeiterInnen, welche seit den frühen 1960er Jahren vor allem

deshalb auf den Putz gehauen haben, weil ihre ursprünglichen

Aufstiegserwartungen in nahezu jedweder Hinsicht nicht aufgegangen sind.

Ganz ähnlich in Deutschland: Allein im August 1973 legten 80.000

MetallarbeiterInnen in wilden Streiks ihre Arbeit nieder. Ihnen waren

die seitens der IG Metall ausgehandelten Lohnerhöhungen von 8,5 Prozent

schlicht zu niedrig – jedenfalls im Lichte der damaligen Teuerungsrate.

Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, dass Routinen

und Loyalitäten nicht nur in der Krise, sondern auch im Zuge offensiver

Streikzyklen kollabieren bzw. ihre Ausrichtung ändern können.

Drittens, zurück nach Italien: Die Kritik der MassenarbeiterInnen

richtete sich nicht zuletzt gegen das despotische Fabrikregime – ein

Umstand, welcher sich im Laufe der 1960er Jahre bei vielen von ihnen zu

einer grundsätzlichen Kritik kapitalistischer Lohnarbeit zugespitzten

sollte. Wichtig ist jener Umstand insofern, als hohe

Bandgeschwindigkeiten, schlechter Gesundheitsschutz, verweigerte

Mitbestimmung etc schon lange wichtige Auslöser defensiver wie

offensiver Arbeitskämpfe darstellen: So streikten die ArbeiterInnen in

den USA Anfang der 1930er Jahre zunächst einmal für das Recht, überhaupt

betriebliche Vertretungsstukturen bilden und offiziell mit den

Unternehmen (Tarif-)Verhandlungen führen zu können; in den 1960er Jahren

setzten sich FordarbeiterInnen in Köln für eine stündliche Band- bzw.

Akkordpause ein; und der Besetzung der berühmten Kachelfabrik Zanon 2001

in Argentinien ist – gleichsam als erste gemeinsame Kraftprobe – ein

9-tägiger Streik für besseren Arbeits- und Gesundheitsschutz im März

2000 vorausgegangen.

Viertens: Der Kampf um die eigene Würde ist ein Bewegggrund, welcher in

vielen Auseinandersetzungen eine mehr oder weniger tragende Rolle spielt

- darauf hat auch der Betriebsratschef von New-Fabris unmissverständlich

aufmerksam gemacht, jener Autozuliefererfirma in Frankreich, auf der

streikende Arbeiter mehrere Wochen lang explosive Gasflaschen deponiert

hatten: „Wir stehen vor dem Elend (…). Wir sollten uns nicht wegwerfen

lassen wir Dreck. Wir müssen gegen all diese Entlassungen in Frankreich

und in anderen europäischen Ländern kämpfen.“

b) Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte: Das Moment der Würde

verweist auf einen elementaren Sachverhalt: Der Druck mag noch so groß

sein, zu Widerständigkeit und Protest kommt es erst, wenn die

diesbezüglichen Erfahrungen als ungerecht interpretiert bzw. empfunden

werden. Das aber ist keineswegs selbstverständlich, sind doch die

gesellschaftlichen Akteure – bei aller Bereitschaft zur Rebellion – den

herrschenden Verhältnissen zunächst einmal in habitueller, d.h.

kognitiver, normativer und affektiver Hinsicht mehr oder weniger

weitgehend verpflichtet. Es ist insofern kaum verwunderlich, dass dieser

ebenso simple wie grundlegende Sachverhalt linke TheoretikerInnen schon

immer beschäftigt hat – wichtige Schlagworte lauten etwa: ‘Ideologie als

notwendig falsches Bewusstsein’ (Marx/Engels), ‘verdinglichtes

Bewusstsein’ (Lukácz), ‘autoritärer Charakter’ (Adorno), ‘spontaner

Konsens, Alltagsverstand und kulturelle Hegemonie’ (Gramsci), ‘sense of

one’s own place’ (Bourdieu) etc. Kurzum: Wer auf Krisenproteste setzt,

sollte nicht nur Bankenzusammenbrüche und Exportdaten in Augenschein

nehmen, sondern auch die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ (Axel

Honneth). Denn sämtliche Erfahrungen zeigen, dass derartige (sowohl

persönlich als auch kollektiv zu realisierende) Prozesse praktischer

Dissidenz ein schwerfälliges und langwieriges – auf jeden Fall kein

automatisches – Unterfangen sind: In den USA hat es, wie gesagt, 3 bis 5

Jahre gebraucht, bis sich die ArbeiterInnen gegen die Folgen der

Weltwirtschaftskrise massenhaft zur Wehr gesetzt haben. Genausowenig

sind in Italien und Deutschland der „heiße Herbst“ bzw. die

„Septemberstreiks“ im Jahr 1969 vom Himmel gefallen. Vorausgegangen

waren vielmehr – als eine Art Inkubationszeit – die fälschlicherweise

oft als streikarm bezeichneten 1960er Jahre: In einer Vielzahl wilder,

oftmals lokal verankerter sowie mehr oder weniger diskret durchgezogener

Streiks und Auseinandersetzungen konnten immer wieder Erfahrungen in

kollektiver Selbstorganisierung, konfrontativer Selbstbehauptung,

externer Solidarität etc. gesammelt werden – inklusive der schrittweisen

Aneignung subversiver bzw. kritischer Denk- und Wahrnehmungsmuster, auf

deren Basis dissidente Wirklichkeitsinterpretationen überhaupt erst

möglich wurden (nebst Überwindung von Angst, Scham und Konformismus).
c) Organisierung & Unberechenbarkeit: Ohne organisierte Kerne, welche

die Initiative ergreifen, ist sozialer Aufruhr undenkbar. In

betrieblichen Auseinandersetzungen sind dies gemeinhin – insbesondere

bei wilden Streiks, Betriebsbesetzungen oder konspirativ eingefädelten

Warnstreiks – basisorientierte Betriebsgruppen, linke VertreterInnen des

gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers oder parteipolitsch gebundene

Kader. Es gibt aber auch Ausnahmen: Bei Gate Gourmet haben sich bereits

2003 – also über zwei Jahre vor dem Streik – mehrere, nur zum Teil

politisch erfahrene ArbeiterInnen als konspirativ agierende

Widerstandszelle zusammengetan: Einerseits um den unternehmenshörigen

Betriebsratschef abzusägen, was tatsächlich gelungen ist, andererseits

um die einst äußerst stark mit dem Unternehmen identifizierte

Belegschaft auf die Notwendigkeit eines Streiks einzustimmen (seitdem es

im Zuge eines Besitzerwechsels zu krasser Verdichtung der

Arbeitsabläufe, völliger Flexibilisierung der Arbeitszeiten und

absichtsvoller Schikanierung, ja Entwürdigung der ArbeiterInnen gekommen

war). Es ist daher auch folgerichtig gewesen, dass jenes U-Boot den

ganzen 6-monatigen Streik über als informelle Streikleitung und somit

Gegengewicht zur Gewerkschaft fungiert hat. Und doch: Selbst wenn

sämtliche Zeichen auf Streik bzw. Aufruhr stehen – im Sinne des bislang

Dargelegten –, es gibt keinerlei Garantie, dass dies am Ende auch

tatsächlich geschieht. Oder mit Rosa Luxemburg: Es ist „äußerst schwer,

vorauszusehen und zu berechnen, welcher Anlass und welche Momente zu

Explosionen führen können und welche nicht (…). Die Revolution ist (…)

nicht ein Manöver des Proletariats im freien Felde, sondern sie ist ein

Kampf mitten im unaufhörlichen Krachen, Zerbröckeln, Verschieben aller

sozialen Fundamente.“
d) Erfolgsbedingungen sozialer Kämpfe: Ob soziale Kämpfe erfolgreich

verlaufen, hängt – je nach Situation – von ganz verschiedenen Faktoren

ab. Zwei von ihnen seien erwähnt – einmal mehr unter selektivem

Rückgriff auf Frances Piven und Richard Cloward: Erstens: Historisch

waren es insbesondere militante bzw. offensive Massenaktionen, welche

den ökonomischen und politischen Eliten substantielle Zugeständnisse

abgerungen haben – jedenfalls insoweit es gelungen ist, dem eigenen

Anliegen in der Öffentlichkeit Legitimität zu verleihen und somit die

politischen Entscheidungsträger früher oder später unter massiven

Interventionsdruck zu setzen. Auf diesen Doppel-Mechanismus weist auch

Rainer Thomann in einer jüngst erschienenen Studie zu

„Betriebsbesetzungen als wirksame Waffe im gewerkschaftlichen Kampf“

hin: Hinsichtlich eines im Jahr 2008 erfolgreich verlaufenen

Arbeitskampfes in einem großen Eisenbahn-Instandsetzungswerk in

Bellinzona/Schweiz heißt es, dass es nur durch die entschlossene

Betriebsbesetzung gelungen sei, einen Ort öffentlich wirksamer

Gegenmacht zu etablieren – zuungusten der ansonsten üblichen Aufnahme

von Sozialplanverhandlungen, an deren Ende gleichsam per defintionem die

Schließung des Betriebes stünde. Bemerkenswert ist diese Erfahrung

insofern, als sie für soziale Bewegungen hierzulande ein riesiges, bis

heute nahezu brachliegendes Agitationsfeld eröffnet – einschließlich

glorreicher Ausnahmen wie z.B. die breite Unterstützung des (verlorenen)

Betriebskampfes bei AEG in Nürnberg 2005/06. Zweitens: Nicht nur

politisch, auch materiell und strategisch ist der Erfolg sozialer Kämpfe

maßgeblich davon abhängig, inwieweit externe Unterstützung mobilisiert

werden kann. Drei Beispiele: Der britische Bergarbeiterstreik ist zwar

grandios gescheitert, möglich ist der einjährige Arbeitskampf aber nur

deshalb gewesen (vor dem Hintergrund nicht existierender Streikkassen in

Großbritannien), dass insgesamt 65 Mio. Pfund in Gestalt von Sach-,

Nahrungs- und Geldspenden akquiriert werden konnten; als die besetzte

Kachelfabrik Zanon in Argentinien 2003 erstmalig geräumt werden sollte,

wurde nicht nur zum provinzweiten Generalstreik aufgerufen, vielmehr

hatten sich auch 5000 Menschen als Schutzschild vor der Fabrik

eingefunden; auch die Abwicklung von Bike-Systems in Nordhausen konnte

nicht verhindert werden, dennoch sollte nicht in Vergessenheit geraten,

dass die einwöchige Produktion von 1800 Strike-Bikes (welche sowohl für

die Beschäftigten, als auch für die undomatische Linke eine äußerst

beflügelnde Erfahrung war) einzig durch reichhaltige Unterstützung von

‘außen’ möglich gemacht wurde.

Noch im Frühjahr war allenthalben Krisenoptimismus en vogue – Slave

Cubela sprach beispielsweise von der Krise als Treibhaus, ja von

sozialen Kämpfen als zu erwartenden „Treibhausblüten“ (express 4/2009).

Dahinter stand zum einen die Erwartung, dass durch gravierende

Turbulenzen das „erstarrte soziale Wissen“ (Slave Cubela) erodieren

würde, etwa weil die Menschen durch abrupt in die Höhe schnellende

Arbeitslosenzahlen realisieren könnten, dass der Verlust des

Arbeitsplatzes mitnichten selbstverschuldet sei. Zum anderen zirkulierte

die Hoffnung, dass es durch die Globalität der Krise zu einer

teppichartigen Synchronität der Kämpfe und somit einem Überschwappen des

Aufruhrs in bis dato ruhige Gefilde käme. Und doch: Nicht nur der

bisherige Krisenverlauf, auch etliche der hier skizzierten Erfahrungen

mit sozialen Kämpfen in der Vergangenheit sprechen dafür, mit Prognosen

hinsichtlich aufkeimender ‘Krisenproteste’ zukünftig vorsichtiger zu

hantieren – jedenfalls, was hiesige Verhältnisse anbelangt:

a) Gewiss, die Überakkumulationskrise als strukturelle Ursache der

aktuellen Weltwirtschaftskrise besteht unverändert fort. Dennoch führt

kein Weg an der Einsicht vorbei, dass es den ökonomischen und

politischen Eliten in ihrem bisherigen Krisenmanagement besser als

erwartet gelungen ist, all zu intensive Ausschläge nach unten zu

vermeiden. Ob es also – im Sinne von Frances Piven und Richard Cloward –

tatsächlich zu kollabierenden Loyalitäten und Routinen (samt Kämpfen)

kommen wird, scheint derzeit keinesfalls ausgemacht. Und das auch

deshalb, weil die nach der Bundestagswahl drohende Abwälzung der

krisenbedingten Milliardenschulden auf die Allgemeinheit ihre fatalen

Effekte nicht in einem großen Showdown, sondern vielmehr scheibchenweise

– das heißt auf Jahre gestreckt – entfalten dürfte.

b) Insbesondere in den Industrieländern hat die ArbeiterInnenbewegung im

Zuge der neoliberalen Globalisierung dramatische Niederlagen erlitten

(vgl. ak 535). Das hat nicht nur objektiv ihre Kampfkraft geschwächt –

exemplarisch erwähnt sei die umfassende Prekarisierung der

Arbeitsverhältnisse (samt Fragmentierung durch Leiharbeit,

Teilzeitarbeit, Minijobs etc.). Auch in subjektiver Hinsicht haben die

Niederlagen deutliche Spuren hinterlassen, nicht zuletzt durch den

Verlust konkreter Organisations-, Kampf- und Machterfahrungen. Mehr

noch: Zahlreiche Menschen sind regelrecht demoralisiert worden, etwa

davon, dass es trotz Massenprotesten nicht gelungen ist, die Einführung

von Hartz IV zu verhindern. Dieser Umstand spiegelt sich auch in einer

von Gero Neugebauer für die Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel

„Politische Milieus in Deutschland“ erstellten Studie wider: Danach sei

im „abgehängten Prekariat“ – also in jenen von der Krise (potentiell) am

stärksten betroffenen Mileus – „das Politikinteresse sowie das

politische Kommunikations- und Teilhabeverhalten unterdurchschnittlich“.

Vieles spricht demnach dafür, dass es in nächster Zeit zu einem

permanenten Auf- und Abflauen sozialer Kämpfe kommen wird und erst im

Schlepptau davon zu einer allmählichen Herausbildung substantieller,

breit verankerter Konfliktfähigkeit – vergleichbar den Erfahrungen in

den frühen1930er Jahren in den USA sowie den 1960er Jahren in

Westeuropa.

c) Ebenfalls problematisch ist, dass die Gewerkschaften bis heute nicht

die notwendigen Konsequenzen aus den in der neoliberalen Globalisierung

begründeten Erpressungspotentialen gezogen haben – Stichwort:

Standortwettbewerb. Auf jeden Fall steht der Aufbau transnationaler

Gewerkschaftsstrukturen weiterhin nicht oben auf der Agenda – ein Manko,

worauf unter anderem der ver.di-Linke Werner Sauerborn unverdrossen

aufmerksam macht (vgl. etwa: express 01/2009).

d) Schließlich sollte nicht unterschlagen werden, dass auch die

bewegungsorientierte Linke unverändert schwach aufgestellt ist – der von

manchen erhoffte Stabilisierungseffekt durch die Proteste in Heiligedamm

ist mit anderen Worten nicht eingetreten. Insofern sind von dieser Seite

in naher Zukunft wohl keine außergewöhnlichen Aktivitäten hinsichtlich

‘Krisenprotesten’ bzw. Klassenkämpfen zu erwarten.

Bei aller Skepsis, es wäre sachlich falsch und politisch

kontraproduktiv, nunmehr das Handtuch zu werfen – denn es gibt durchaus

Risse im Putz: Der wilde Streik bei Opel im Oktober 2004, der

hartnäckige (wenn auch nicht sonderlich erfolgreiche) Streik im

Einzelhandel (2007/08), der Lokführer-Streik (2007/08), die

Emmely-Kampagne (seit 2007) – all diese und weitere (zum Teil bereits

erwähnte) Beispiele zeigen, dass auch hierzulande Widerständigkeit

möglich ist. In diesem Sinne sei abschließend die Frage aufgeworfen,

welche Rolle die bewegungsorientierte Linke im kommenden Krisengeschehen

spielen könnte bzw. sollte:

a) Zweierlei dürfte unstrittig sein: Die Krise kann jedeN treffen –

Erwerbslose, abhängig Beschäftigte, Studierende, NutzerInnen

öffentlicher Dienstleistungen etc. Das aber heißt, dass Krisenkämpfe an

ganz verschiedenen Orten ausbrechen können. Zudem gilt, dass es keinen

privilegierten Durchsetzungsmechanismus gibt, denn jede Gruppe hat ihre

ganz eigenen Vorgehensweisen, mittels derer konkreter Druck entfaltet

werden kann – sei es Streik, Besetzung, Demonstration oder eine

Kombination aus alle dem. Mit anderen Worten: Es wäre zu kurz gegriffen,

lokale Krisenbündnisse als bloße Vernetzungsorte zu bestimmen. Im

Mittelpunkt sollte vielmehr das (in sozialen Zentren, workers centers

oder ähnlichen Orten verankerte) Bemühen stehen, sich wechselseitig in

der Entfaltung unmittelbaren Drucks zu unterstützen – und das auf

mindestens fünf Weisen: Taktisch-Strategisch (Blockaden gegen

StreikbrecherInnen etc), diskursiv-medial (Solidaritätsaktionen etc.),

politisch-programmatisch (Propagierung globaler Solidarität – zuungusten

chauvinistischer bzw. rassistischer Krisenlösungsstrategien etc.),

praktisch-organisatorisch (Vernetzung mit anderen Streikollektiven etc)

sowie solidarisch-konkret (FahrerInnendienste etc.).

b) Die verbindliche Beteiligung an konkreten Kämpfen (ob als BetroffeneR

oder UnterstützerIn) stellt erfahrungsgemäß eine extrem

nervenaufreibende Angelegenheit dar. Vor diesem Hintergrund nehmen sich

die zahlreichen Appelle der vergangenen Monate reichlich skurril aus,

wonach lokale Krisenbündnisse stets darauf achten sollten, Wirtschafts-,

Energie-, Klima- und Ernährungskrise gleichermaßen zu behandeln. Wer so

argumentiert, unterschätzt nicht nur die praktisch-alltäglichen

Erfordernisse in konkreten Auseinandersetzungen – nebst unvermeidbarer

‘Betriebs’blindheiten. Nein, verkannt wird auch, dass praktische Kämpfe

völlig anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als diskursive

Interventionen. Eine Problematik, welche ihrerseits auf den Umstand

verweist, dass sich große Teile der bewegungsorientierten Linken bis

heute nicht entschieden haben, ob sie ProtagonistInnen in sozialen

(Klassen-)Kämpfen werden möchten (ganz gleich, in welcher Position) oder

ob sie ihre Rolle vornehmlich in der Organisierung punktueller

Großevents bzw. zeitlich befristeter Kampagnen sehen.

c) Gerade weil sich soziale Kämpfe als eine Art schwarzes Loch entpuppen

können (denn Taktgeber ist nicht der eigene Terminkalender, sondern die

Konfrontationsdynamik mit einem realen, hochgradig interessegeleiteten

Gegner), ist es naheliegend, auf lokaler Ebene die meist nicht

sonderlich üppigen Kräfte an lediglich zwei oder drei

Auseinandersetzungspunkten zu bündeln – unbeschadet dessen, wie

partikular bzw. nicht-repräsentativ jeder konkrete Kampf auf den ersten

Blick erscheinen mag. Denn erfahrungsgemäß kann auf diese Weise durchaus

beträchtliche Resonanz erzielt werden – mit der Konsequenz, dass die

eigene Glaubwürdigkeit und Mobilisierungskraft rasant wächst, nicht

zuletzt im Rahmen symbolisch-diskursiv ausgerichteter Großereignisse

bzw. Aktionstage a lá 28. März.

Olaf Bernau/NoLager Bremen

(1) Aus Gründen der Übersichtlichkeit beziehe ich mich auf der Ebene der

Beispiele in erster Linie auf Arbeitskämpfe. Über die im Text gemachten

Literaturangaben hinaus möchte ich insbesondere auf folgende Bücher

verweisen:

Nanni Balestrini/Primo Moroni, Die goldene Horde. Arbeiterautonomie,

Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien
, Schwarze Risse 1994;

Torsten Bewernitz (Hrsg), die neuen Streiks, Unrast 2008;

Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder, Campus 2007;

Flying Pickets (Hrsg), Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet, Assoziation

A 2007;

Holger Marcks/Matthias Seiffert (Hrsg), Die großen Streiks, Unrast 2008;

Radaktion Druckwächter (Hrsg), Akteure berichten über den Arbeitkampf

bei AEG/Elektrolux in Nürnberg 2005-07
, Die Buchmacherei

2009;

Transact Nr 2 „Krise und soziale Kämpfe“ (http://transact.noblogs.org);

Wildcat 68, Beilage zu Fabrikbesetzungen in Argentinien, Sommer 2004.

Read more at www.who-owns-the-world.org
 

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