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Arbeitslosenzahlen in Deutschland: Schein und Wirklichkeit
In
der letzten Woche meldete die Bundesagentur für Arbeit (BA) erneut
einen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Mit der sozialen
Realität haben diese Zahlen allerdings wenig zu tun.
Mit 2,7
Millionen gab es im Oktober laut Statistik 59.000 Arbeitslose weniger
als im September und 204.000 weniger als vor einem Jahr. Das ist der
niedrigste Stand in einem Oktober seit 1991. Die Arbeitslosenquote lag
bei 6,5 Prozent.
Politik und Wirtschaft begrüßten die
„erfreulichen Zahlen“, sind diese doch das beste Argument für die von
der Bundesregierung beschlossene Kürzung der Mittel für
Langzeitarbeitslose. Bereits im laufenden Jahr sind die Fördermittel für
Qualifizierung und Förderung Langzeitarbeitsloser um 20 Prozent
reduziert worden; für nächstes Jahr ist eine weitere Kürzung in
mindestens gleicher Höhe geplant.
Doch die offiziellen
Arbeitslosenzahlen geben noch nicht einmal ein ungefähres Bild der
sozialen Situation in Deutschland wieder.
Zunächst einmal musste
die Bundesagentur zugestehen, dass es bei den saisonbereinigten Zahlen
erstmals seit Februar 2010 wieder einen leichten Anstieg gab. Die
Saisonbereinigung berücksichtigt, dass in bestimmten Monaten, etwa zum
Jahreswechsel oder zum Beginn eines Ausbildungsjahres, die
Arbeitslosigkeit in der Regel steigt, in anderen wiederum sinkt.
BA-Chef
Frank-Jürgen Weise sagte denn auch bei der Präsentation der Zahlen:
„Die Unsicherheit ist im Raum.“ So sei die Beschäftigung etwa im
Verarbeitenden Gewerbe noch nicht wieder auf dem Vorkrisenstand. „Da
fehlen noch 130.000 Beschäftigungsmöglichkeiten“, sagte er. Auch erwarte
er im kommenden Jahr ein erneutes Ansteigen der Arbeitslosigkeit.
Erstmals seit zwei Jahren ist die Produktion in Deutschland im Oktober
wieder geschrumpft.
Ein genauerer Blick in die Statistiken der BA
belegt zudem, dass weit über eine Million Arbeitslose aus der
offiziellen Arbeitslosenzahl herausfallen. 376.000 Arbeitslose, die
älter als 58 Jahre sind, fehlen in der Statistik genauso wie die fast
190.000 Ein-Euro-Jobber. Auch 173.000 Menschen, die sich in beruflicher
Weiterbildung befinden, und 147.000, die in Maßnahmen der „Aktivierung
und beruflichen Eingliederung“ stecken, gelten nicht als arbeitslos.
Dasselbe gilt für die über 320.000 krankgemeldeten Arbeitslosen.
Zu
den offiziellen Arbeitslosenzahlen muss man außerdem jene hinzurechnen,
die aufgrund einer „kurzzeitigen Leistungsunterbrechung“ aus der
Statistik verschwinden. Aktuelle Zahlen liegen nur für den Monat Juni
vor. In diesem Monat wurden 317.000 Arbeitslosen Leistungen aus der
Arbeitslosenversicherung (ALG I) oder der Grundsicherung (ALG II)
vorenthalten. Die Betroffenen sind Opfer der vielfach dokumentierten
Schikanen der Arbeitsagenturen und Jobcenter. Meist werden sie wegen
Nichteinhaltung eines Meldetermins, dem fehlenden Nachweis von
Bewerbungsschreiben oder anderen Geringfügigkeiten sanktioniert.
Die
Zahl der Sanktionen ist 2010 gegenüber 2009 bundesweit um 14 Prozent
gestiegen. Im laufenden Jahr erwartet die BA fast eine Million
Sanktionen. Sie treffen junge Arbeitslose unter 25 Jahre besonders
häufig und rigoros. Ihnen kann der gesamte Lebensunterhalt und teilweise
sogar die Mietzahlung gestrichen werden. Jeder zehnte junge Arbeitslose
hat mindestens eine Sanktion erhalten. In der Statistik wirken sich die
Schikanen positiv aus: Je mehr Sanktionen, desto weniger offizielle
Arbeitslose.
Nur mit diesen statistischen Tricks und Finessen
gelangt die Bundesagentur zu den im internationalen Vergleich relativ
niedrigen Arbeitslosenzahlen. Legt man die Zahl der Leistungsbezieher
zugrunde, gelangt man auf noch höhere Zahlen, wobei auch hier die
Arbeitslosen, die keine staatliche Leistung erhalten, nicht einbezogen
sind.
Nach einer vorläufigen Hochrechnung der BA bezogen im
Oktober über 5,1 Millionen Erwerbsfähige im Alter von 15 bis 65 Jahren
Arbeitslosengeld I oder II. Im Juni 2011 galten aber nur 43 Prozent
(oder 1,99 Millionen) der 4,65 Millionen ALG-II-Empfänger als
arbeitslos.
Viele dieser Leistungsbezieher haben tatsächlich eine
Arbeit, aber ihr Einkommen ist derart gering, dass sie auf
„aufstockende Leistungen“ angewiesen sind, um auf den Hartz-IV-Satz zu
kommen. Bei diesen 1,4 Millionen „Aufstockern“ handelt es sich um
679.000 geringfügig Beschäftigte oder Minijobber, die höchstens 400 Euro
im Monat verdienen, um 230.000 Teilzeitbeschäftigte und um 320.000
Vollzeitbeschäftigte, die trotz 40-Stundenwoche weniger als den
Hartz-IV-Satz verdienen.
Wie niedrig der Hartz-IV-Satz ist,
ergibt sich ebenfalls aus den Angaben der BA. Im Juni 2011 lebten 6,2
Millionen Menschen in 3,4 Millionen Familien (Bedarfsgemeinschaften),
die Hartz-IV-Leistungen erhielten. Eine durchschnittliche
Bedarfsgemeinschaft mit 1,9 Personen erhielt 672 Euro an Geldleistungen
aus der Grundsicherung. Rechnet man die Sozialversicherungsbeiträge bzw.
-zuschüsse und die einmaligen Leistungen hinzu, erhielt eine
Bedarfsgemeinschaft im Durchschnitt 806 Euro ausgezahlt. Dabei
variierten die Zahlungen deutlich, von durchschnittlich 693 Euro für
eine alleinstehende Person (inklusive Sozialversicherungsbeiträge und
Einmalzahlungen) bis 1.331 Euro für eine Bedarfsgemeinschaft mit fünf
und mehr Personen.
Auch „Erfolgsmeldungen“, dass junge Menschen
ausreichend mit Ausbildungs- und Arbeitsplätzen versorgt seien,
entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Zahlen-Trickserei.
So
verkündete die Bundesagentur für Arbeit am Montag gemeinsam mit den
Unternehmen und der Bundesregierung, Ende September habe es noch knapp
30.000 unbesetzte Lehrstellen gegeben, aber nur noch 12.000 Lehrstellen
suchende Jugendliche. Sinkende Bewerberzahlen stünden einem Anstieg des
Lehrstellenangebots gegenüber.
Der DGB hat nachgewiesen, dass die
Zahl der unversorgten Bewerber in Wirklichkeit 76.800 beträgt, weil
Regierung und Wirtschaft 65.200 Jugendliche als versorgt zählen, „die
sich mit Bewerbungstrainings, Einstiegsqualifizierungen und Praktika
über Wasser halten“.
Doch auch der DGB ignorierte die
Jugendlichen, die in zahlreichen Maßnahmen geparkt sind. Bis zu 350.000
Jugendliche finden in der gesamten Bundesrepublik jedes Jahr keinen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und werden in Beschäftigungsmaßnahmen
öffentlicher Träger verschoben.
Der Bildungsexperte Professor
Dieter Münk von der Universität Duisburg-Essen hat herausgefunden, dass
rund 60 Prozent der betroffenen Jugendlichen auch nach 30 Monaten
Verweildauer in Beschäftigungsmaßnahmen keinen regulären Arbeitsplatz
haben.
Ein hoher Prozentsatz derjenigen, die durch diese
Beschäftigungsmaßnahmen aus den Arbeitslosenstatistiken verschwinden,
sind Jugendliche mit Migrationshintergrund oder junge Frauen. Münk
bezeichnet diese Jugendlichen als „Reservearmee aus Benachteiligten für
den Arbeitsmarkt“. Diese jungen Männer und Frauen sind schließlich
gezwungen, jeden noch so niedrig bezahlten Job anzunehmen.
So
verwundert es nicht, dass die Zahl der Niedriglöhner in Deutschland
stetig wächst. Laut einer Studie, die das Forschungsunternehmen Prognos
AG im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt hat, verdienen 1,2
Millionen Menschen weniger als 5 Euro und 5 Millionen Menschen weniger
als 8,50 Euro brutto pro Stunde. 8,50 Euro fordern die Gewerkschaften
als Mindestlohn.
Fasst man den Niedriglohn nach internationalen
wissenschaftlichen Maßstäben (weniger als zwei Drittel des
Durchschnittslohns), dann arbeitet in Deutschland fast jeder vierte
Vollzeitbeschäftigte (22,8 Prozent) zu einem Niedriglohn, wie die BA in
ihrem Jahresbericht 2010 ebenfalls mitteilt. Das sind rund 9,4 Millionen
Beschäftigte. Die Niedriglohnschwelle liegt derzeit in Ostdeutschland
bei 1.379 Euro brutto und in Westdeutschland bei 1.890 Euro.
Insbesondere
das Gastgewerbe und private Haushalte sind davon betroffen. In diesen
Bereichen arbeiten drei von vier Vollzeitangestellten zu Löhnen
unterhalb der Niedriglohngrenze. Frauen und Jugendliche unter 25 Jahren
sind besonders betroffen. Mehr als jede dritte Frau und nahezu jeder
zweite junge Beschäftigte, Auszubildende nicht eingerechnet, arbeiten in
Vollzeit unterhalb der Niedriglohnschwelle. In absoluten Zahlen sind
das 715.000 Jugendliche und fast 2,6 Millionen Frauen.
Die
offizielle Zahl der armen Menschen in Deutschland wächst daher stetig.
Im Jahr 2009 waren laut Statistischem Bundesamt rund 12,6 Millionen
Menschen arm. Am stärksten von Armut betroffen sind Arbeitslose und
Alleinerziehende. Den 12,6 Millionen Armen steht ein privates
Geldvermögen von rund fünf Billionen Euro gegenüber.
Das
Anwachsen der Armut in Deutschland geht maßgeblich auf die Politik der
rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) zurück,
die 1998 den größten Sozialabbau in Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg einleitete. Hohe Arbeitslosigkeit, ein rasant wachsender
Niedriglohnsektor und Sozialkürzungen haben eine soziale Katastrophe in
Gang gesetzt, die sich in der jetzigen Krise weiter vertiefen wird. Die
offiziellen Statistiken versuchen dies zu verschleiern und zu
beschönigen. Aber anders als Statistiken kann man die realen Erfahrungen
von Millionen Menschen nicht verfälschen.
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