Mittwoch, 6. Juli 2011

#Scheuklappen #angelegt - Nazis haben in einer Nacht an sechs Häusern, darunter Wohnhäusern, Feuer gelegt. [via ND]


Scheuklappen angelegt

Von Sarah Liebigt

[Neues Deutschland]
http://www.neues-deutschland.de/artikel/201416.scheuklappen-angelegt.html
 

Zu politischen und medialen Reaktionen auf Brandanschläge, Überfälle und brennende Autos

Nazis haben in einer Nacht an sechs Häusern, darunter Wohnhäusern, Feuer gelegt. Wäre ihre Rechnung aufgegangen, hätte es zahlreiche Tote gegeben.

Ein mediales Echo auf diese Aktionen gibt es, doch Entsetzen und Empörung konzentrieren sich nicht etwa auf gewalttätige Nazis. Stattdessen wiederholen die Nachrichten gebetsmühlenartig, es handle sich um »gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremisten«, die in letzter Zeit für Aufsehen sorgen.

Denn den Brandanschlägen voraus gegangen waren Übergriffe auf NPDler: Vier Mitglieder respektive Wahlhelfer der rechten Partei wurden jeweils von einem Grüppchen Vermummter angegriffen und verprügelt. Wenige Tage später wurden in einer einzigen Nacht insgesamt sechs linke Projekte angegriffen, davon eins im brandenburgischen Rheinsberg. Beides wird sofort direkt miteinander in Bezug gesetzt: Der provozierenden Prügel für Rechts durch Links folgt Zündelei gegen Links durch Rechts.

In der öffentlichen Reaktion und Debatte werden die NPDler mitunter fast als arme Opfer dargestellt, die »feige Angriffe« über sich ergehen lassen müssen. Und weil in der Hauptstadt des öfteren mal Edelkarossen brennen, sind die »Feuerteufel« der Gazetten auch jetzt nicht lebensgefährlich und braun gefärbt sondern bleiben »rotlackiert«. Der kalte Schauer, der angesichts der Brandanschläge eigentlich über den öffentlichen Rücken laufen müsste, bleibt gänzlich aus.

Stattdessen wird, wer es wagt, eine Wertung jener Anschläge in ihrer Gewalttätigkeit zu versuchen oder gar Prügelattacke von Brandanschlag abgrenzen will, stantepede als Autonomenfreundchen und Befürworter von Gewalt angegriffen. Sicher, einem Nazi eine Abreibung zu verpassen, ist kein Kavaliersdelikt. Über den politischen Sinn solcher Aktionen lässt sich trefflich diskutieren. Wer jedoch Wohnhäuser anzündet, spielt in einer anderen Liga.

Doch diese Tatsache ist hinter Scheuklappen verschwunden. Die jene anlegen, die die vergangenen Geschehnisse auf einen Extremistenkampf reduzieren, der sich allein zwischen Linksaußen und Rechtsaußen über den Köpfen der unbescholtenen Bürger abspielt. »Seit Jahren weisen wir den Senat darauf hin, dass neben der inakzeptablen Beschädigung von Sacheigentum auch die Verletzung von Leib und Leben von Menschen durch die sich gegenseitig aufschaukelnden Extremisten billigend in Kauf genommen wird«, schimpft die Berliner CDU – und steht damit längst nicht allein. Auch in der linksliberalen Öffentlichkeit grassiert die Meinung, die lebensgefährdenden Brandanschläge seien ausschließlich eine direkte Folge auf die Prügelangriffe.

Doch ein Nazi ist kein Nazi, weil er sich ständig dafür rächen will, dass er Nazi genannt wird. Erst Recht muss er sich nicht erst darauf besinnen, dass schlafende Menschen auszuräuchern eine Idee ist, die ihm gefällt. Er gibt per se einen feuchten Kehricht auf Leib und Leben anderer.

Ist es ein Unterschied, ob Nazis in vier Wochen vier Wohnhäuser anzünden oder in einer Nacht? – Die beschädigten Orte sind der rechten Szene nicht erst nach den Angriffen auf ihre Parteioffiziellen eingefallen. Sondern sind längst auf einschlägigen Websites als passende Ziele brauner Gewalt aufgeführt.

Im März 2010 wird das Auto einer linken Politikerin angezündet, zuvor erhielt sie Drohungen aus dem rechten Spektrum. Im November 2010 wird ein Brandanschlag auf den linken Infoladen M 99 in Berlin-Kreuzberg verübt. Der Laden befindet sich in einem Wohnhaus, dessen Bewohner schliefen. In der selben Nacht wird ein Fenster einer Wohnung eingeschmissen, in dem ein Anti-Nazi-Plakat hängt. Im Mai 2011 werden Scheiben des Linksparteibüros in Neukölln mit Steinen eingeworfen. Ebenfalls im Mai greift nach einem erfolglosen Marschversuch ein Nazitrupp Passanten in der U-Bahn an, schlägt und tritt auf am Boden Sitzende ein. Ende Juni 2011 wird das Büro der Grünen mit Farbbomben beschädigt und das Wort »Volksfeind« an die Fassade geschmiert, in der selben Nacht wird erneut das Neuköllner Linksparteibüro angegriffen. – Ist ein Plakat Provokation? Ist es Provokation, eine demokratische Partei zu sein?

Scheuklappen waren, sind und bleiben gefährlich. Denn eine neutrale Mitte gibt es nicht, es gibt nur die Ignoranz, alles außerhalb dieser Mitte über einen Kamm zu scheren.

Seit 1990 wurden rund 150 Menschen durch Neonazis und RassistInnen ermordet. Im vom Feuer zerstörten Jugendclub der Neuköllner Falken schlief in der Nacht zuvor eine Kindergruppe. Gilt es zu warten, bis ein Wohnhaus niederbrennt, und allein die Naziparole auf dem Gehweg davor übrig bleibt – ehe die breite öffentliche Debatte sich darauf besinnt, dass Neonazis keinen Anlass benötigen, um Fenster in Wohnhäusern einzuschmeißen, zu brandschatzen und Menschen zusammenzuschlagen?



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