Für eine Kultur des Weniger Gastkommentar von Katrin Göring-Eckardt
Wenn man heute in bestimmten Kreisen Kritik am Wachstumsimperativ äußert, ist der Ausruf "Das ist doch eine Retrodebatte aus den Siebzigern!" noch die netteste Reaktion. Andere erklären einen schlichtweg für verrückt.
Ohne Wachstum wäre man ja auf dem direkten Weg zurück in die Steinzeit, zurück zu Kutsche statt Auto, zu Lagerfeuer statt Induktionsherd.
Aber wer ist hier eigentlich verrückt? Ist die Wachstumslogik wirklich so rational, wie ihre Fürsprecher behaupten? Platt gesagt: Wenn Wachstum das alleinige Kriterium für ein gelingendes Leben wäre, müsste man sich ja darüber freuen, wenn jemand sich in der Kneipe betrinkt und dann sein Auto zu Schrott fährt.
Alkoholumsatz, Reparatur oder Neukauf bringen schließlich die Wirtschaft in Schwung. Anders, weniger zynisch gesagt: Der Maßstab des Wirtschaftswachstums anhand des Bruttoinlandsproduktes sagt nichts darüber aus, wie solidarisch eine Gesellschaft ist, was für Kulturgüter sie hervorbringt, wie miteinander umgegangen wird, ob das Leben lebenswert ist.
Es gibt immer mehr Menschen, die den Fetisch Wachstum kritisch sehen. Wachstumskritik ist alles andere als retro, die Diskussion über die "Grenzen des Wachstums" und die Frage nach einem besseren Leben fasziniert viele unterschiedliche Menschen ob es junge Eltern sind oder die, die gestern noch genau jenen "Experten" geglaubt hatten, die dann den Finanzcrash mit verursacht haben.
Oder die, die lange Zwölfstundentage für selbstverständlich hielten und nun Zweifel am System, dessen Teil sie sind, bekommen. Oder die mit Facebook-Freunden in Asien, die ihnen ganz direkt von Überschwemmungen durch den Klimawandel berichten. Spätestens Fukushima hat uns allen vor Augen geführt, wie angebracht Zweifel an den Verheißungen des technologischen Fortschritts sind.
In der Debatte geht es, mal mit dieser, mal mit jener Akzentsetzung, um eine Kultur des Weniger. Diese Kultur des Weniger ist lebensweltlich geerdet: Sie steht für einen Wandel, in dem sich individuelle Freiheit, Werte wie Nachhaltigkeit und die Lust am Genuss verbinden.
Das Klischee von den wandelnden Öko-Spaßbremsen, die uns bei trockenem Brot und Bionade im groben Jutesack am spartanischen Bio-Holztisch sitzen haben wollen, passt schon lange nicht mehr. Statt Askese sind die neuen Lebensstile ein Versprechen auf mehr Freiheit und auf ein gutes Leben.
Wie sollte die Politik auf diesen kulturellen Wandel reagieren? Am wichtigsten ist es, die Wende nicht vorschnell im Regulierungswahn zu ersticken. Dann wäre der frische Wind dahin. Zu jeder gesellschaftlichen Veränderung gehört eine gesellschaftliche Bewegung, die von unten kommt und nicht von oben verordnet werden kann. Politik sollte die neuen Lebensstile solidarisch unterstützen und vor allem dazu beitragen, dass sich eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Kultur des Weniger entspinnt.
Eine Diskussion, in der nicht nur über individuelle Lebensstile, sondern auch offen über die Zukunft der Produktionsverhältnisse und politisch-institutionelle Rahmenbedingungen gesprochen wird. Denn aus der Wachstumszwangsjacke kann man sich nicht nach dem Motto "Ich ändere mein Leben und dann wird alles gut" befreien.
All dies darf kein elitärer Diskurs sein. Nicht zuletzt wird es um die soziale Frage gehen müssen: Wie wird das Weniger verteilt werden, wer wird welche Lasten tragen? Schließlich gilt die einfache Wahrheit, dass nicht alle mehr haben können als alle anderen.
Eines ist klar: Die Kultur des Weniger soll kein Projekt von Wenigen bleiben und das gute Leben nicht nur Gutverdienenden vorbehalten sein. Nur dann wird die neue Wachstumsskepsis bleiben, was sie ist: ein modernes Projekt, das unser Leben nicht karger, sondern unendlich viel reicher macht.
Die Autorin von Bündnis 90/Die Grünen ist Vizepräsidentin des Bundestages und Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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