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Interview mit Fawwas Traboulsi.
Fawwas Traboulsi
gilt als eine linke Legende im Libanon und kann auf mehr als vier Jahrzehnte
politischen Aktivismus zurückblicken. Er war Mitbegründer der Organisation
Libanesischer Sozialisten, die 1969 den nationalen Revisionismus der
traditionellen libanesischen KP kritisierte und für eine internationalistische
Neuorientierung gemeinsam mit der palästinensischen Bewegung eintrat. Zusammen
mit anderen studentischen Linken gründete er 1971, inspiriert durch den Pariser
Mai 1968, die Organisation Kommunistische Aktion Libanon (CAOL), die bis in die
Zeit des libanesischen Bürgerkriegs aktiv war. Seit 1997 ist Traboulsi Professor
für Geschichte und Politik an der Lebanese American University in Beirut. Er
publiziert regelmäßig zu arabischer Geschichte, Politik und sozialen Bewegungen.
Seine Übersetzungen umfassen Arbeiten von Marx, Gramsci, Isaac Deutscher, Che
Guevara, Etel Adnan, Sa`di Yusuf und Edward Said.
Das Interview
führte Martin Glasenapp (medico international) in Beirut, März 2011. Die
ProjektpartnerInnen der sozialmedizinischen Hilfsorganisation medico
international im Libanon, in Israel, Palästina und Ägypten engagieren sich für
gleichen Zugang zu Gesundheit, für Bürgerrechte und eine demokratische Zukunft
aller Menschen in Westasien (Naher Osten). Informationen unter: www.medico.de
Martin Glasenapp:
In einem Gespräch zwischen Tariq Ramadan und
Slavoj Žižek
auf Al Jazeera zitierte letzterer den alten Satz von Mao Zedong „Es herrscht ein
großes Chaos unter dem Himmel, aber die Bedingungen sind exzellent“, um den
Aufruhr in der arabischen Welt zu beschreiben. Sehen Sie das auch so?
Fawwas Traboulsi:
Mir gefiel, wie
Žižek
die aktuelle Entwicklung ein „säkulares Wunder“ nannte, weil gerade
unvorhersehbare Dinge geschehen. Auch für uns kamen die Ereignisse in Tunesien
und in Ägypten plötzlich und unerwartet. Lange Jahre herrschte im arabischen
Raum eine Ideologie der Hoffnungslosigkeit, die davon ausging, dass die
Demokratie allenfalls in Menschenrechtsworkshops gelehrt oder uns von den USA
auferlegt wird, die doch zugleich der erste Garant unserer Oligarchien waren.
Aber die wirkliche Demokratie ist eine Frage der umfassenden Veränderungen aller
gesellschaftlichen Strukturen, letztlich ist es die Revolution selbst. Es gibt
scheiternde Revolutionen und es gibt Revolutionen, die eine partielle Demokratie
zur Folge haben. Letzteres verlangt besonders von uns Linken Konzessionen
gegenüber der bürgerlichen Demokratie, wenn wir zu keiner sozialistischen
Revolution in der Lage sind. In jedem Fall wird die Veränderung des aktuellen
Status Quo ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess werden.
Wir leben nicht
nur in einer Region mit einer anderen Kultur, sondern alle politischen und
sozialen Rechte in der arabischen Welt - seien es die Mehrparteiensysteme, die
Pressefreiheit, bessere Verfassungen oder Regierungen -, waren das Ergebnis von
Volksaufständen. 1988 fiel die Einparteienherrschaft in Algerien, ein Ergebnis
der Wut junger Menschen. Erst drei sogenannte „Brot-Aufstände“ konnten im
Marokko die Macht ins Wanken bringen und eine politische Opposition ermöglichen,
die immerhin erste Kompromisse gegen den marokkanische König durchsetzen konnte.
Auch Jordanien brauchte drei Intifadas, um eine bessere Verfassung und eine
Mindestakzeptanz politischer Parteien durch den König zu erreichen, auch wenn
eine feudale Oligarchie weiterhin an der Macht ist.
Auch in Ägypten war alles, was seit
dem Tod von Abdel Nasser in 1970ern Jahren geschah die Folge zweier großer
Aufstände, die schließlich das Einparteiensystem stürzten. Alles war immer eine
Frage des Drucks der Revolte. Das zeigte sich auch in Bahrain, wo auf die
Demonstrationen von 1991 immerhin eine erste Verfassung folgte. Ein ähnliches
Muster findet sich im Jemen, in dem ein Mehrparteiensystem erst durch die
erzwungene Einheit zwischen der sozialistischen Partei und den sehr
konservativ-rechten Stammesstrukturen etabliert werden konnte. Diese
Entwicklungen verlaufen nicht aus Gründen einer vermeintlichen „arabischen
Identität“ sehr ähnlich, sondern weil die Menschen vielfach die gleichen Wünsche
haben und unter ähnlichen Formen autoritärer Herrschaft leben.
Martin Glasenapp:
Inwiefern?
Fawwas Traboulsi:
Wir haben bei uns zwei Varianten von Regimes, entweder es sind Diktaturen ohne
jede Legitimation - oder es handelt sich zunächst vom Volk anerkannte
Autoritäten, die sich dann aber in repressive Herrschaftssysteme verwandelten,
die allein auf Korruption und Ausbeutung basierten. Die landläufige neoliberale
Vorstellung von Korruption ist dabei völlig bedeutlungslos, denn hier werden
allenfalls kleine Funktionäre verfolgt, die 1000 Dollar mitgehen lassen. Ein
moderner Pharao wie Mubarak verfügte dagegen über ein Privatvermögen von 40 bis
70 Milliarden Dollar, das sämtlich aus Staatseinahmen stammt. So sehen die
Business Effects des globalen Neoliberalismus in den arabischen Gesellschaften
aus. Unsere Ökonomien sind heute vorrangig Wirtschaftssysteme, deren
Produktivsektoren aufgespaltet und völlig zerrieben wurden; sie sind zu
konsumorientierten Märkten und Rentenökonomien verkommen, in denen eine
unkontrollierte Privatisierung den Reichtum in die Hände einer kleinen mafiösen
Gruppe spült. Deren besonderer Status ergibt sich aus der engen Verbindung
zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht.
Hinzu kommt, dass
unsere Gesellschaften einen Anteil von bis zu 30–40% jungen Menschen unter 30
Jahren haben, die zumeist gut gebildet, aber arbeitslos sind. Diese Generation
nutzt nicht nur Informations- und Kommunikationsmittel wie das Internet und
Facebook, sondern sie ist auch mit den neuen transnationalen Satellitensendern
wie Al Jazeera aufgewachsen, deren unmittelbare Berichterstattung neue Formen
eines militanten und identitären Zusammengehörigkeitsgefühls in der Region
geschaffen hat.
Die vergangenen
Monate lehrten uns aber noch etwas anderes. Die Massenmobilisierungen mit
friedlichen und defensiven Mittel waren dort erfolgreich, wo in zwei stabilen
Staaten, wie in Tunesien und Ägypten, das politische System nicht mit dem Staat
identisch ist. Die Problematik ist weitaus sensibler, wenn das bestehende System
oder der Diktator, wie im Falle Libyen, selbst das System ist. Oder wenn das
herrschende Regime auf einzelne Sektoren des Staates setzt wie etwa im Jemen und
in Bahrain, wo Stammesstrukturen oder religiöse Gruppierungen dominieren. Hinzu
kommen Länder wie Jordanien, in denen immer auch die ungelöste Palästinafrage
virulent ist. Es ist ein Prozess zweier Geschwindigkeiten, der im Fall von
Libyen eine sehr gewalttätige Entwicklung annehmen wird, während es auf der
anderen Seite langsamer und verfassungsmäßiger verlaufen wird. Offensichtlich
ist aber, dass wir auf dem Weg in ein neues Zeitalter sind. Kein einziges
arabisches Land wird unberührt bleiben, wobei Algerien mit seiner traumatischen
Erfahrung eines Guerillakriegs mit über 100.000 Toten aus dieser Einschätzung
etwas herausfällt.
Aber nicht nur im Maghreb, auch im
Irak beginnen sich die politischen Auseinandersetzungen zu verschieben. Der
Fokus liegt nicht mehr nur auf der Anwesenheit der US-amerikanischen Truppen,
sondern man hat das Gefühl wieder bei den Irakern und den sozialen Problemen
anzukommen. Neue soziale Kräfte treten auf, die weder Verbindungen zu
al-Qaida
oder der schiitischen Madhi-Miliz[1],
dem sog. „Widerstand“ - nennen wir sie besser bewaffnete Insurgenten - haben,
noch mit der Regierung alliiert sind. Es ist eine junge Bewegung, die sich aus
Sunniten, Schiiten und Kurden zusammensetzt und die Regierung für die mangelnde
öffentliche Infrastruktur und die fehlenden staatlichen Dienste kritisiert.
Martin Glasenapp:
Was halten sie von der Position, die Linke in Europa vertreten, dass der Sturz
von Saddam Hussein und der Irakkrieg Bedingungen dafür waren, dass es zu den
aktuellen Eruptionen der arabischen Gesellschaften überhaupt kommen konnte?
Fawwas Traboulsi:
Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Die aktuelle Dynamik lässt sich nicht aus
dem Irakkrieg schöpfen. Zuerst einmal hat die Besetzung des Irak kein neues
Regime geschaffen, sondern einen Staat zerstört. Saddam Hussein und der Staat
waren nicht identisch. Es war nicht notwendig, den Großteil der Verwaltung zu
zerstören, die Armee abzuschaffen und eine Million Mitglieder der alten
Baath-Partei aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Jeder wusste, dass die
allermeisten irakischen Offiziere mit den ausländischen Kräften kollaboriert
hätten. Aber all das sind alte Geschichten, die nur bedingt in die Gegenwart
wirken. Die offensichtliche Lektion, die wir lernen mussten, ist vielmehr, dass
alle kleinen und größeren Aufstände, die zuvor aus einem Mix von sozialen und
politischen Forderungen bestanden, von den Regimes mit politischen Konzessionen
beantwortet wurden. Die reichen aber nicht mehr aus, auch wenn überall der
Ausnahmezustand aufgehoben, Mehrparteiensysteme und Pressefreiheiten eingeführt
werden müssen, weil es heute um wirklich sehr tiefgreifende soziale Probleme
geht.
Read more at www.grundrisse.netMartin Glasenapp:
In Tunesien und in Ägypten stand Europa bis zur letzten Minute hinter Ben Ali
beziehungsweise Mubarak. Wird der Revolutionssturm in Arabien nicht auch zu
einem veränderten Verhältnis zwischen einer bald emanzipierteren,
selbstbewussteren arabischen Welt und einem verstörten Westen führen?
Fawwas Traboulsi:
Die in Arabien durch die USA und Europa von außen legitimierte Stabilität war in
Wahrheit auch ein verdeckter Bürgerkrieg nach innen. Nach dem 11. September 2001
wurden die autoritären Regierungen zusätzlich als westliche Bollwerke gegen den
sogenannten „Terrorismus“ und den islamischen Fundamentalismus gefördert. Es
ging um wirtschaftliche Interessen, aber auch um die Verlängerung des Status Quo
zwischen Israel und Palästina. Hosni Mubarak lieferte ägyptisches Erdgas weit
unter dem internationalen Preis nach Israel und das zu einem auf 20 Jahre
festgelegten Tarif. Die Funktion vieler Regime der Region ist nun einmal an das
Vorhandensein fossiler Brennstoffe gekoppelt. Die Milliarden arabischer
Petrodollars in den USA und in Europa bilden ein bedeutendes Fundament des
globalen Marktes. Die Saudis beispielsweise sind in der unangenehmen Situation
den jeweiligen US-amerikanischen Präsidenten fragen zu müssen, ob sie ihre
Schatzanweisungen veräußern dürfen. Die saudische Armee kann moderne
US-Flugabwehrsysteme nachweislich nicht bedienen, kauft aber F-16 Kampfflugzeuge
für 60 Milliarden Dollar, so wie eine reiche Person ein Handy oder einen
Computer kauft. Das ist der Hintergrund in der Region, von dem alles andere
abhängig ist. Jetzt aber geht es erstmals nicht mehr nur um politische Ziele,
sondern um wirklichen sozialen Wandel. Daraus begründet sich auch das enorme
Gewaltpotential, das zukünftig noch zu großen Zusammenstössen führen kann.
Ägyptens Armee blieb tolerant gegenüber den politischen Forderungen des
Tahrir-Aufstands, aber als die Gewerkschaften ihre Rechte einklagten, warnten
die Generäle vor sozialen Unruhen. Die großen und insbesondere die unabhängigen
Gewerkschaften brachten dennoch ihre Forderungen in die politische Agenda ein.
Ein Bestandteil dieses „Wunders“, von dem
Žižek
sprach, war der Umstand, dass ein Slogan gefunden wurde, der alles beinhaltet
und in dem sich alle, ob nun Studierende, Arbeitslose, oder Angehörige der
Mittelklasse, die Angst vor der Zukunft und ihre Jobs haben, wiederfinden
konnten. Ähnlich wie der Aufbruch 1968 kam die direkte Forderung nach einer
grundlegenden Veränderung ins Spiel, bei der niemand im Vorfeld schon genau
wissen konnte, wo jene Kräfte sind, die sie umsetzen können.
Martin Glasenapp:
An welchem Punkt kamen die Bewegungen zusammen?
Fawwas Traboulsi:
Ganz einfach: „Die Herrscher müssen gehen, dass Regime muss fallen“. Wenn in
unserer Region ein politischer Akteur die Herrschaft stürzen will, spricht er
klassischerweise über die Option der Gewalt oder vereint eine starke Allianz
hinter sich. Hier aber fanden sich junge Menschen im Internet zusammen, sie
suchten Verbündete und starteten mit Hunderttausenden eine Kampagne. Bis vor
wenigen Monaten waren noch alle überzeugt, dass aus dieser ägyptischen Nation
nichts mehr entspringt. Aber auf einmal gelang den Menschen in Tunesien der
Umsturz, der Hunderttausende mobilisierte, nach Ägypten überschwappte und dort
erneut Millionen bewegte. Diese Freiheit verbreitet sich überall weiter; wobei
damit nicht gesagt ist, dass es überall radikale Brüche geben wird oder sich
ähnliche Massen mobilisieren werden. Die Menschen in dieser Region wurden seit
zwei Generationen von ihren Regimes zutiefst gedemütigt, die zu Anfang zwar eine
panarabische Ideologie und einen sozialen Aufstieg versprachen, heute aber nur
repressiv die innere Ordnung aufrechterhalten. Diese Regime sind ziellos
geworden, sie sind weder für noch gegen Amerika und bis auf einige Ausnahmen
sind sie dem Palästinenserproblem gegenüber politisch indifferent. Die Antworten
auf all das wurde im Netz formuliert, jetzt liegen sie auf der Straße: „Wir
wollen alles ändern“.
Martin Glasenapp:
Wie sehen Sie die Rolle der Linken? Auf dem Weltsozialforum in Dakar sagte der
tunesische Schriftsteller Jelloul Azouna, als in Tunesien die Bewegung schon die
Straße eroberte, da dachte die Linke noch klandestin.
Fawwas Traboulsi:
Es ist nicht fair mit Tunesien zu beginnen. Ich möchte auf die Frage allgemeiner
antworten: Ja, die Linke ist in den meisten arabischen Staaten seit langem
marginalisiert und unterdrückt. Daraus resultiert auch ihre mangelnde Dynamik
und minoritäre Präsenz in den aktuellen Kämpfen. Bekanntlich wurden die großen
kommunistischen Parteien im Irak und im Sudan schon vor Jahrzehnten
abgeschlachtet. Später raubten die rechten Militärregime vielen Linken ihre
Energie, sodass sie seit den neunziger Jahren keine nennenswerte Rolle mehr
spielten. Bis in die jüngste Zeit war das der Status Quo. Trotzdem gab es in
Tunesien eine gute, illegal organisierte, kommunistische Arbeiterpartei, die vor
allem aus jungen Menschen bestand. Auch in Ägypten spielten kleine linke
Gruppierungen und Parteien ihre Rolle, aber die Millionen verabredeten sich im
Internet. Ein anderer Punkt ist die vermeintliche Angst vor den IslamistInnen.
In dem Moment, wo in Ägypten 10 Millionen auf die Straße sind, nimmt die
Muslimbruderschaft, die etwa 20-25 Prozent der Bevölkerung repräsentiert,
natürlich ihren Platz ein. Ähnliches passiert in Tunesien, im Jemen, im Marokko
und natürlich auch in Algerien. In Bahrain gibt es nur eine kleine linke
Strömung, die eine konfessionsübergreifende Brücke zwischen Sunniten und
Schiiten schlägt, aber sie ist keine entscheidende Kraft.
Die Frage wird
jetzt sein, wie die Linke auf jene Millionen von Menschen reagiert, die
handelten, aber nicht in Parteien organisiert sind. Auf alle Fälle kann sie sich
neu formieren. Man darf nicht vergessen, dass alle unsere Parteien letztlich
stalinistisch waren und in der Vergangenheit entweder einen nationalistischen
oder westlich liberalen Kurs einschlugen. Insofern wird es keine leichte Aufgabe
sein, die Linke neu rekonstruieren, selbst wenn man den Marxismus als eine
umfassende Vision begreift und beginnt, ihn wieder analytisch einzusetzen. Ich
denke dennoch, dass die Linke instinktiv weiß, wo sie steht und begriffen hat,
dass die Demokratie eine große Errungenschaft ist und wir in der Phase einer
demokratischen Revolution sind.
Martin Glasenapp:
Sprechen wir über den Libanon. Wird der arabische Frühling hier seine Resonanz
erfahren? Viele Linke sagen mir, dass es nur kleine Erschütterungen geben wird
und ein junger Palästinenser meinte lakonisch: „Wir haben keinen Tahrir Platz,
hier hat jede Konfession ihren eigenen Park“.
Fawwas Traboulsi:
Der Libanon ist eine gespaltene Gesellschaft und im Gegensatz zu allen
arabischen Staaten ist auch das Regime gespalten. Die Allianzen des 14. März[2]
und des 8. März[3]
einschließlich der Hisbollah sind Teil des Regimes, stabilisieren die
konfessionellen Blöcke und akzeptieren letztendlich das wirtschaftliche System.
Auch wenn im Zusammenhang mit der Allianz 8. März immer von der Ablehnung des
UN-Sondertribunals gesprochen wird,[4]
so kritisiert dieser Block in erster Linie die allgegenwärtige Korruption. Im
Libanon ist die lokale Oligarchie sehr eng mit dem internationalen Kapital
verflochten. Die Staatsverschuldung besteht in erster Linie aus einer
Verschuldung des libanesischen Staates gegenüber den einheimischen Banken. Das
Defizit wird dann durch einen besonders hohen Zinssatz umverteilt. Wir begannen
mit 42 Prozent, jetzt sind wir bei 87 oder 88 Prozent und haben damit eines der
höchsten Zinsniveaus der Welt. Dabei ist der Libanon kein wirklich reiches Land.
Die wirtschaftliche Zahlungsbilanz ist nur stabil, weil jährlich acht Milliarden
Dollar durch AuslandslibanesInnen zurückfließen. In nahezu jeder Familie
arbeitet ein Verwandter im Ausland, 40 Prozent aller LibanesInnen leben
außerhalb des Landes. Die Masse der Gesellschaft existiert von jenen Geldern,
die ihre Verwandten überweisen, da es im Land kaum eine lokale Produktion gibt.
Das konfessionelle System garantiert und reproduziert diese Klassenstruktur.
Weil aber das
Regime in zwei Blöcke gespalten ist, kämpft eine dritte Kraft im Libanon, wie
etwa die Bewegung für die Säkularität, mit besonderen politischen
Schwierigkeiten. Aber auch bei uns wird es zukünftig einen Wunsch nach
Veränderung geben. Die Frage ist nur, wie sich eine Stimme entwickelt, die auch
zu hören ist. Ein weiterer Faktor ist, dass der Libanon noch immer unter
syrischem Mandat steht. Jeder Aufruhr bedeutet eine enorme Herausforderung für
das syrische Regime, wie umgekehrt jeder nennenswerte Massenprotest in Syrien
Einfluss auf die Innenpolitik des Libanons haben wird. Kurzfristig bin ich eher
skeptisch, aber die Bewegungen der Region sind jung und auch die Jugend in
Beirut hat begonnen zu demonstrieren. Das Problem liegt nicht darin zu beginnen,
sondern einen Ausdruck zu finden, in dem sich viele wiederfinden.
Martin Glasenapp:
In den siebziger Jahren gab es einen Slogan der palästinensischen Linken, der in
etwa lautete: Die Befreiung Palästinas findet über die Befreiung der arabischen
Hauptstädte statt. Damals bildete die palästinensische Bewegung so etwas wie die
Avantgarde im arabischen Raum, heute verharren die Palästinenser ohne jede
Hoffnung auf der Westbank und in Gaza. Glauben Sie, dass die arabischen
Aufstände Einfluss auf die palästinensische Frage haben?
Fawwas Traboulsi:
Zuerst einmal, denke ich, ist bewiesen, dass der Slogan in seinem analytischen
Sinn noch immer richtig, aber heute kaum noch geläufig ist. Die Allianz zwischen
den USA und Israel, wie sie seit Jahrzehnten besteht, zielte anfangs nicht
darauf, die Palästinenser zu brechen, sondern den Einfluss der damaligen
Sowjetunion in der Region zurückzudrängen. Darüber hinaus ging es um die
Kontrolle der Ölvorkommen, die wirtschaftliche Sicherheit der protegierten
Sicherheitsregimes, schlussendlich um die bilateralen
israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Daraus resultierte die Vorstellung
der PalästinenserInnen, es sei möglich, Palästina unabhängig von den politischen
und sozialen Bedingungen in den angrenzenden arabischen Ländern zu befreien. Die
palästinensische Führung machte dann ihren schwersten Fehler, als sie es zuließ,
dass durch die Oslo-Verträge die politische Verbindung zu den angrenzenden
arabischen Ländern gekappt wurde.
Ein anderer Punkt
ist eher praktischer Natur: Der Niedergang der autoritären Regime ist ein
Verlust für die israelische Politik. Das zeigt sich in der Reaktion auf das
Verschwinden Mubaraks, aber auch in der Anspannung angesichts der Proteste in
Jordanien gegen den König Abdullah. Beide Länder sind Garanten der israelischen
Regionalpolitik – um so mehr steht jetzt die strategische Orientierung des
gesamten Raums in Frage. Ich ahne, dass sich deshalb der Kurs von Netanjahu,
also seine rechte Likud-Politik, behaupten wird.
Schließlich
besteht die größte Herausforderung für die palästinensische Befreiungsbewegung,
die alte Frage neu denken: Was heißt heute überhaupt palästinensische Befreiung?
Die Debatte war verschwunden, weil unter palästinensischen Politikern die
Auffassung herrschte, es könnte sich für Palästina separat etwas ändern,
unabhängig davon, was in der Region passiert. Wer so denkt, betreibt bestenfalls
intellektuelle Gymnastik ohne jede Verbindung zur Realität.
[1]
Die
Mahdi-Miliz, oder Jaish al-Mahdi (JAM) ist eine schiitische
paramilitärische Einheit, die im Juni 2003 von dem
Geistlichen
Muqtada as-Sadr begründet wurde.
[2]
Die Allianz 14.
März ist eine prowestliche Koalition, die aus der sog.
„Zedernrevolution“ hervorging, die 2005 zum Abzug der Syrer aus dem
Libanon führte. Führende Gruppierungen sind das „Future Movement“ der
Familie Hariri, dazu mehrere christlich-maronitische Parteien (Samir
Geagea), Sozialdemokraten und kleinere konfessionelle Gruppen.
[3]
Die Allianz 8.
März umfasst mehrere politische Parteien, die im Allgemeinen als
„pro-syrisch“ gelten. Darunter u. a. die schiitische Hisbollah und Amal,
Teile des christlichen Lagers (Free Patriotic Movement), dazu
panarabische, pro-syrische und linke Gruppierungen.
[4]
Das
Sondertribunal für den Libanon ist der Ad-hoc-Strafgerichtshof der
Vereinten Nationen zur Aufklärung des Attentates auf den ehemaligen
prowestlichen Ministerpräsident Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005, bei
dem dieser und 22 weitere Personen getötet wurden. Die bisherigen
Ermittlungsergebnisse des Tribunals verorten die möglichen Täter im
Umfeld der Hisbollah und des syrischen Geheimdienstes. Die Hisbollah
lehnt die Legitimität des Tribunals ab und bezeichnet die Ermittlungen
als ausländische und von Israel gesteuerte Einflussnahme auf den
Libanon.
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