Samstag, 11. Juni 2011

#Einzelhandel #in #Deutschland (...) über #Fakten, #ImPressionen und #DePressionen [via labournet]


Einzelhandel in Deutschland

Anton Kobel über Fakten, ImPressionen und DePressionen

[via labournet.de]

http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/eh/kobel2.html

 


»Krise im Handel – Handeln in der Krise«, unter diesem Motto hatte der express in Kooperation mit ver.di Rhein-Neckar und ver.di Stuttgart im Oktober 2010 eine Tagung für Handelsbeschäftigte und Hauptamtliche veranstaltet. Obwohl mit rund drei Millionen Beschäftigten nicht weniger »systemrelevant« als andere, wird die Entwicklung dieser Branche kaum als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen.

Und dies, wie es in der Einladung hieß, »obwohl der Handel nicht nur für die unmittelbar Beschäftigten, sondern ... für die Gestaltung des Öffentlichen und des Privaten, d.h. für das gesellschaftliche Leben immense Bedeutung und Konsequenzen hat: vom 'sozialen Charakter' unserer Städte über Siedlungs-, Verkehrs-, kommunale und regionale Infrastrukturpolitik, Qualität und Umfang unserer Versorgung mit Lebensmitteln, Lage und Länge der Arbeits- und Konsumzeiten, Einkommens- und damit zusammenhängende Familienmodelle bis hin zur Einkaufsmacht von Großkonzernen auf landwirtschaftliche Erzeuger, Vorproduzenten und Lieferanten weltweit«. Grund genug, sich diese Branche genauer anzuschauen.

In drei Teilen werden wir in dieser und den nächsten Ausgaben des express einen Blick auf Unternehmensstrukturen, die Situation der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen und die Frage nach Handlungsmöglichkeiten in den »solidarischen und rebellischen Potentialen der Gesellschaft« werfen. [1]

I. Akteure im Einzelhandel

»Einzelhandel im Sinne des Gesetzes betreibt, wer gewerbsmäßig Waren anschafft und sie unverändert oder nach im Einzelhandel üblicher Be- oder Verarbeitung in einer oder mehreren offenen Verkaufsstellen zum Verkauf an jedermann feilhält ...«, oder: »Absatz von Waren an Letztverbraucher durch Einzelhandelsunternehmungen« – solche und ähnliche Erklärungen finden sich seit Jahrzehnten in den gängigen Lexika (z.B. Gabler Wirtschaftslexikon, 12. Auflage, 1988).

Händler und Kunden erscheinen demnach als die im Einzelhandel (EH) agierenden Subjekte. Ein allzu simples Bild!

Zur Realität gehören zahlreiche weitere Akteure: weit über zwei Millionen ArbeitnehmerInnen im Verkauf, in den Lägern und Zentralen der Einzelhandels-Unternehmen, gut bezahlte Vorstände und interessierte Kapitalanleger, Immobilienbesitzer und Vermieter, Betriebsräte, Vertretungen für Jugendliche und Auszubildende sowie Schwerbehinderte, Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, Träger der Sozialversicherungen wie Berufsgenossenschaft und Agentur für Arbeit, Industrie- und Handelskammern, PolitikerInnen in Stadt, Land und Bund, Finanzämter, Arbeitsgerichte und Staatsanwälte, Datenschutzbeauftragte und die diese oft mobilisierende Presse und Öffentlichkeit, Nichtregierungsorganisationen wegen Skandalen bei der Herstellung der Waren irgendwo in der Welt, Kirchen gegen Sonntagsverkäufe, Detektive, Diebe und RäuberInnen. Aufsehen erregen immer wieder und zunehmend Menschen aus den demokratischen, sozialen, solidarischen und rebellischen Potentialen der Gesellschaft. Deren – von den Unternehmen nicht geschätzte – Aktivitäten beeinflussen zunehmend und merklich die Geschäftspolitik.

In diesem Beitrag finden zahlreiche Akteure Beachtung. Sie gehören unbedingt zu einem realistischen Bild des Einzelhandels in Deutschland.

II. Hintergründe zu Einzelhandels-Unternehmen

II.1 Daten und Zahlen

Der gesamte Umsatz betrug 2009 im deutschen EH ca. 394 Mrd. Euro. Seit 1994 jammern die Unternehmen und ihre Verbände nach Jahrzehnten jährlichen Wachstums über weitgehend stagnierende reale Umsätze. »Konsumboykott« oder »Kaufunlust« sind einige ihrer neuen Modewörter. Gegen diese Propaganda ist festzuhalten: Die stagnierende bzw. abschüssige Entwicklung der Reallöhne und Renten sowie neuartige, durch die vorherrschende neoliberale Politik erzwungene, zusätzliche »Konsumausgaben« – wie Zuzahlungen bei Arzneimitteln, Praxisgebühren, Aufwendungen für private Altersvorsorge, steigende städtische bzw. öffentliche Gebühren, die Entwicklung der »Wohnnebenkosten« zu einer zweiten Miete – finden hier einen Niederschlag.

Zu den Gründen für die o.g. Entwicklung zählen auch die Streichung bzw. Verrechnung von übertariflichen Zahlungen, mehr Teilzeit- und Minijobs zu Lasten von Vollzeitstellen und das auch dadurch sinkende Gesamtlohnniveau, die hohe Arbeitslosigkeit und Hartz IV, Kurzarbeit, der Abbau von bezahlten Überstunden, die steigenden Kreditkosten bei privater Verschuldung sowie die wachsende ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Die ›alternde‹ Gesellschaft bringt sparsamere und überlegter einkaufende Kunden mit sich.

Dazu, dass der Gesamtumsatz nur geringfügig wächst, trägt ein geändertes Verbraucherverhalten – Öko-/Bioläden, Internethandel – ebenso bei wie die Bereitschaft, mehr Geld für Freizeit, Urlaub und Dienstleistungen auszugeben und sich dafür beim täglichen Einkauf zurückzuhalten.

Diese Stagnation verschärfte die Konkurrenz der Unternehmen und der Teilbranchen. So sind seit 2007 reale Umsatzzuwächse nur noch bei einigen Drogeriemärkten und Discountern zu sehen. Verlierer bei der Aufteilung des stagnierenden Umsatzes sind die Kauf- und Warenhäuser, der örtliche Fachhandel und Tante-Emma-Läden, der Versandhandel sowie inzwischen auch Selbstbedienungswarenhäuser (SBW). Die Schließung von 311 Woolworth-Filialen und 72 Hertie-Häusern, die Insolvenz von Karstadt und Quelle sind sichtbarer Ausdruck dieser Vernichtungskonkurrenz incl. Kapitalvernichtung. Selbst die SBW – jahrzehntelang »Gewinner« in der Konkurrenz mit ihren Einkaufszentren auf der ehemals »grünen Wiese« an den Stadträndern und Autobahnausfahrten – erreichen Umsatzzuwächse nur noch durch Neueröffnungen, d.h. weitere Ausweitung der Verkaufsflächen.

In der Konkurrenz ist die Ausweitung der Verkaufsflächen neben aggressiver Preisgestaltung und Personalabbau – letzteres auch ermöglicht durch Selbstbedienung der Kunden – ein entscheidendes Mittel der Großunternehmen und Konzerne, um ihre Umsätze zu Lasten der Konkurrenten zu steigern. In Mitleidenschaft gezogen werden die Innenstädte und Stadtteile, in denen leer stehende Läden sichtbare Zeichen sind, ebenso wie die VerbraucherInnen, deren fußläufige Einkaufsmöglichkeiten in Stadtteilen, Dörfern und Kleinstädten verschwinden. Von Letzterem betroffen sind insbesondere Ältere, (Geh-)Behinderte, Menschen mit kleineren Kindern, Menschen ohne eigenen PKW und mit dürftigem ÖPNV.

Während es 1996 in Deutschland noch 75.667 Verkaufsstellen gab, waren es 2005 noch 61.460. (Kalkowski 2008, S.11)

Verkaufsflächen des EH in Deutschland (BRD und DDR):

1970 39 Mio. qm
1990 77 Mio. qm
2010 122 Mio. qm (Prognose)

Parallel dazu erfolgte in den Betrieben/Verkaufsstellen aller Vertriebslinien/Teilbranchen während der letzten 20 Jahre ein rasanter Personalabbau bei gleichzeitig erweiterten Betriebsgrößen. Auf den ersten Blick scheint die Beschäftigung im Einzelhandel ziemlich stabil. 2009 waren ca. 2,83 Mio. Personen beschäftigt, gegenüber ca. 2,87 Mio. in 2005; ein Rückgang um nur 1,4 Prozent. Ein Blick auf die Anteile der Vollzeit- und Teilzeit-Jobs korrigiert diesen ersten Eindruck.

So ging die Zahl der Vollzeitbeschäftigten (VZ) von 1,487 Mio. in 2005 auf 1,417 Mio. in 2009 zurück; das sind 70.000, also 4,7 Prozent weniger. Die Zahl der Teilzeitkräfte (TZ) stieg von 1,4 Mio. auf 1,413 Mio., also um 0,9 Prozent. Die entscheidende Veränderung wurde bei den TZ bewirkt. In 2009 arbeiteten 705.200 TZ als MinijobberInnen und 229.600 als NebenjobberInnen. Der Anteil der sog. »geschützten TZ«, d.h. der voll sozialversicherten TZ, geht regelmäßig zurück.

Insgesamt nahm das Arbeitszeitvolumen, d.h. die Summe aller bezahlten Arbeitsstunden im EH, auch bedingt durch einen Personalabbau von 3,7 Prozent in den Betrieben, in diesen sechs Jahren um 11,8 Prozent ab, während gleichzeitig die Verkaufsfläche um 11,7 Prozent zunahm. Zur täglichen Praxis gehört: Scheidet eine VZ-Kraft aus, wird sie durch eine TZ oder eine MinijobberIn ersetzt, wenn überhaupt. Vor allem im Lebensmitteleinzelhandel wird zusätzlich die Form der individuellen Stundenreduzierung praktiziert. So finden sich im EH einige Formen von individueller und gesellschaftlicher Verkürzung der Arbeitszeit ohne jeglichen gewerkschaftlichen Einfluss, überwiegend zu Lasten der beschäftigten Frauen, die dies jetzt und im späteren Rentenalter (Altersarmut) betrifft.

Konzentrationsprozesse, Konkurrenzen, Kapitalvernichtung, Insolvenzen, Betriebs- und Unternehmensübernahmen mit all ihren Folgen für Kommunen und Stadtentwicklung, Beschäftigte, Lieferanten und Kunden lassen sich im EH fast täglich verfolgen.

Wer kennt noch die untergegangenen Kaufhaus-Giganten Horten und Hertie, die kleineren Kaufhäuser Kaufhalle und Bilka, die stationären Kaufhäuser der Versandhändler Neckermann, Quelle, Schöpflin, die gewerkschaftseigene EH-Gruppe coop/Plaza, die Tante-Emma-Läden hie und da? Wer wird in zehn Jahren noch Woolworth, die Lebensmittelfilialbetriebe HL, Plus und Tengelmann kennen? Statt dieser untergegangenen Kapitalien machen jetzt andere die Geschäfte.

Dieser Strukturwandel in der Branche wurde ergänzt durch einen Struktur- und Formatwandel auch in den verbliebenen und neu entstandenen Betrieben. (S. Kap. II.2)

Bei stagnierendem Gesamtumsatz wird der Kampf um dessen Anteile immer härter. Entscheidend für das Überleben in der Konkurrenz ist nicht so sehr die Größe, wie die Beispiele Quelle, Karstadt oder Hertie zeigen. Aggressive Preise, Schnäppchen und Werbung, Unterlaufen tariflicher und gesetzlicher Standards hier, Ausbeutung der die Schnäppchen und Waren produzierenden ArbeiterInnen überall in der Welt sind Teil dieser gnadenlosen Konkurrenz und bringen in ihr Konkurrenzvorteile. Seit 2007 wird die Situation verschärft durch die Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten bis spät in die Nacht.

Die Konkurrenz findet vorwiegend innerhalb der Öffnungszeiten statt, und da haben die Großen mit ihrer Kapitalmacht und unter diesen Großen die mit den niedrigsten Einkaufspreisen und Personalkosten relevante Vorteile.

Gewinner sind seitdem eindeutig Discounter im Lebensmittel- und Drogeriehandel sowie wenige SB-Warenhäuser. Der innerstädtische Einzelhandel wie Kauf- und Warenhäuser, große Textilkaufhäuser und Facheinzelhändler hatten erwartet, dass sie Konkurrenznachteile durch eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten wettmachen könnten. Seit Mitte der 1980er-Jahre kämpften sie daher vehement gegen ihre Belegschaften und deren Gewerkschaft für die Beseitigung des Ladenschlussgesetzes. Ein klassisches Eigentor! Das Ladenschlussgesetz hatte auch einen Schutzcharakter für die »schwächeren« kapitalistischen Konkurrenten: Es begrenzte neben den Arbeitszeiten auch die Zeiten für das Konkurrieren.

Zahlreiche Out- und Insourcingprozesse sind ebenfalls Bestandteil der Konkurrenzstrategien.

Praktisch alle Betriebsformen des stationären Einzelhandels nutzen diese Prozesse: Bisher selbst betriebene Abteilungen/Sortimentsteile werden rechtlich verselbstständigt in Form einer Konzern-/Unternehmenstochter, oder die freigewordene Verkaufsfläche wird (unter-)vermietet. So in den 1980ern geschehen mit Lebensmittelabteilungen, Restaurants, Back-, Reparatur- und Bestellshops, Reinigungsdienst, Empfang und Überwachung in den Kauf- und SB-Warenhäusern. Mit diesen Out- und Insourcingprozessen wurden Personalkosten abgewälzt, oft die Attraktivität der Sortimente erhöht und sichere Mieteinnahmen vereinbart.

Für die dort Beschäftigten verloren die Tarifverträge des Einzelhandels ihre Gültigkeit. Stattdessen fanden niedrigere Tarifverträge anderer Branchen Anwendung. Oft entstanden mangels gültiger Tarifverträge tarifvertragsfreie Zonen. Zusätzlich verloren diese Beschäftigten auch den Schutz ihrer bisherigen Betriebsräte.

Die in einem Laden Beschäftigten erscheinen zwar als eine Belegschaft, doch tatsächlich finden sich unter einem Dach bis zu 20 (Klein-)Belegschaften. Selbst in den Supermarkt- und Discounterfilialen ist diese Entwicklung inzwischen Realität geworden: Neben der kleinen Stammbelegschaft arbeiten Beschäftigte einer Reinigungsfirma, eines Backshops und/oder einer Metzgerei, einer Inkassofirma, eines Sicherheitsdienstes, von Firmen, die die Inventuren machen, die Regale »pflegen« usw.

Als Konkurrenten zu den großen Kaufhäusern und SBW entstanden verstärkt seit den 1980ern Fachmärkte und Ketten von Kleinfilialen. Erstere vor allem für Elektro, weiße und braune Waren (Kühlschränke, Hifi-Ge-räte), Unterhaltung, Möbel und (Garten-/)Bauutensilien, die Ketten mit Kleinfilialen insbesondere für Textilien, Schmuck, Bücher, Schuhe und Kommunikationsartikel. So unterhält der Metro-Konzern bewusst die Media- und Saturn-Fachmärkte in Konkurrenz zu vergleichbaren Abteilungen und Sortimentsteilen in den ebenfalls zum Konzern gehörenden Kaufhof, real- und extra-Filialen.

Diese preis- und werbeaggressiven Fachmärkte vernichten seit Jahren qualifizierte Arbeitsplätze in den vor Ort konkurrierenden Konzerntöchtern sowie im örtlichen, meist mittelständischen Facheinzelhandel. Die Großaktionäre des Metro-Konzerns – die Familien Haniel, Schmidt-Ruthenbeck, Otto Beisheim – vergüten diese Praktiken der Konzern-Manager fürstlich. Für sie ist es Nebensache, in welchem Profitcenter bzw. welcher Vertriebslinie ihr Profit entsteht. Hauptsache, die Höhe stimmt.

Die Ergebnisse der Konkurrenzen und Konzentrationsprozesse und ihre Auswirkungen auf die Vertriebsformen bzw. deren Marktanteile spiegeln sich in der Statistik deutlich wider: Von 1996 bis 2008 gingen die Marktanteile der Kauf-/Warenhäuser von 5,2 auf 3,3 Prozent, des nicht-filialisierten Fachhandels von 29,8 auf 15,6 Prozent zurück, während die der Discounter von 8,8 auf 14,9 Prozent, der Fachmärkte von 7,4 auf 15,7 Prozent sowie die der SB-Warenhäuser/Verbrauchermärkte von 10,5 auf 13,2 Prozent stiegen. (Vgl. für die Jahre 1996 und 2008: HDE Zahlenspiegel; Glaubitz 2010)

Entsprechend entwickelten sich die Umsätze: die der Edeka-/AVA-Gruppe von 18,8 Mrd. Euro in 1994 auf 36,7 Mrd. in 2008, der Rewe AG von 21,3 Mrd. auf 29,6 Mrd., der Lidl & Schwarz-Gruppe von 7,4 Mrd. auf 26,5 Mrd., der Aldi-Gruppe (Nord und Süd) von 15,2 Mrd. auf 24,5 Mrd., der Drogeriekette Schlecker von 2,4 Mrd. auf 5,1 Mrd. Euro. (Vgl. für das Jahr 1994: Gewerkschaft HBV; für 2008: Lebensmittelzeitung 2009; Glaubitz 2010)

II.2 Zur Geschichte des Struktur-/Formatwandels im EH

Bis Mitte der 1960er war der Einzelhandel geprägt von großen Kauf-, Waren- und Textilhäusern, ergänzt durch Versandhandel und mittelständischen, lokalen bzw. regionalen Fach- und Lebensmitteleinzelhandel sowie Tante-Emma-Läden. 1962 öffneten die Albrecht-Brüder in Dortmund ihren ersten Aldi-Markt. Aldi steht für Albrecht Discount und prägte von da an eine wachsende Teilbranche des EH. Mit der Umstellung auf Selbstbedienung, ein begrenztes Sortiment (anfangs bei Aldi ca. 400, heute ca. 700 Artikel), banale Aus-stattung, Kisten und Kartons statt Dekoration, niedrige Personalkosten und Niedrigpreise wurde ein bis heute wirksamer Preis- und Konkurrenzkampf eröffnet.

Aldi (Nord und Süd) machte 2008 ca. 24,5 Mrd. Euro Umsatz. 1970 waren es gerade mal 0,77 Mrd. Euro. Der Aldi-Erfolg fand bald Nachahmer. Die Tengelmann-Gruppe kreierte 1972 Plus, Rewe konterte 1973 mit Penny; die Lidl-/Schwarzgruppe expandiert seit 1978 mit den Discountläden Lidl und den Verbrauchermärkten Handelshof sowie ab 1984 mit den SB-Warenhäu-sern Kaufland. Zusätzlich beleben heute die Discounter Netto (Edeka-Gruppe) sowie Norma die Konkurrenz.

Zeitgleich mit dem Aufkommen der Discounter entstanden auf der damals noch »grünen Wiese« die ersten SB-Warenhäuser. Viele von ihnen hatten eine Verkaufsfläche von ca. 10000 qm (Beispiel: Wertkauf/Mann-Gruppe), vergleichbar auch von den Sortimenten her mit den Kauf- und Warenhäusern der Innenstädte. Selbst die Kleineren mit 5000 qm und mehr (Beispiel: real) verschärften die Konkurrenz.

Die den SB-Wa-renhäusern vergleichbaren, nur in der Verkaufsfläche kleineren Verbrauchermärkte (VM) hatten eine Verkaufsfläche zwischen 1000 und 5000 qm. Sie alle warben mit niedrigen Preisen – ermöglicht durch die Selbstbedienung der Kunden –, kostenlosen und ausreichenden Parkplätzen, regelmäßigen Sonderangeboten. Aus den SB-Warenhäusern entwickelten sich in wenigen Jahren Einkaufszentren.

Diese bestanden neben dem Haupt-Einzelhändler aus Betrieben des Kleingewerbes (Reinigung, Schuhreparatur, Kiosk, Bank, Apotheke, Cafe/Speisen/Fastfood usw.) und gewannen dadurch zusätzliche Attraktivität.

Für die Konkurrenzen im EH bedeutsam ist die Höhe der Personalkosten. Die Discounter, Verbraucher-märkte und SBW haben deren Anteile am Netto-Umsatz (Gesamtumsatz abzüglich Mehrwertsteuer) auch in den anderen, konkurrierenden Vertriebslinien über die Jahre hinweg beeinflusst bzw. gedrückt.

Infolge dieser Entwicklung gilt in den Rest-Belegschaften nach mehreren Wellen des Personalabbaus das Motto: Stammkunden beraten die Laufkunden, d.h. die Kunden helfen sich gegenseitig. Statt mehr qualifizierter Bedienung und Beratung sowie Service boten die Kauf- und Warenhäuser immer weniger davon. Das Personal wurde zum reinen Kostenfaktor, der minimiert werden muss. Verkaufspersonal und Kunden werden dadurch vielerorts beim Einkauf zu Gegnern. Die einen wollen Beratung, die anderen stehen unter Zeit- und Arbeitsdruck, weil sie die sogenannten Nebentätigkeiten wie Präsentation der Waren, Überprüfen der Preisauszeichnungen, Preisänderungen, Kurzinventuren usw. erledigen müssen.

II.3 Eine Goldgrube für Eigentümer, Vorstände und Vermieter

Die fetten Gewinne für Aktionäre und Eigentümer, die Millionengehälter der Vorstände und die horrenden Mieteinnahmen der Immobilienbesitzer werden verdeckt durch das (ver-)öffentlichte Bild vom EH mit den seit Jahren insgesamt stagnierenden Umsätzen, schwindender Kaufkraft/-lust und Insolvenzen. Auch hier zeigt die Konkurrenz ihre Auswirkungen: Den Verlusten der Einen stehen die Gewinne der Anderen gegenüber. Generell gilt, dass die in der Konkurrenz Obsiegenden enorme Gewinne machen. Dies wird durch die Vermögensstatistiken unterstrichen. (S. Kap. IV.1)

Nach Berechnungen von ver.di stiegen die Gewinne der EH-Unternehmen von 2000 bis 2008 kontinuierlich: von 11,8 Mrd. Euro (vor Steuern) in 2000 auf 20,6 Mrd. Euro in 2008; das sind 74,7 Prozent mehr. Die Gewinne nach Steuern stiegen in diesem Zeitraum von 9,8 Mrd. auf 17,3 Mrd. Euro (76,5 Prozent mehr).

Der monatliche Gewinn pro Beschäftigten – unabhängig davon, ob sie/er in Voll- oder Teilzeit oder im Minijob arbeitet – stieg von 385 Euro in 2000 kontinuierlich auf 601 Euro in 2008. Der pro Jahr und pro Beschäftigtem erarbeitete Gewinn stieg somit von 4620 auf 7212 Euro. Eine Berechnung der Gewinne auf Vollzeitbeschäftigte bzw. je bezahlter Arbeitsstunde ergäbe angesichts der Struktur der Beschäftigten (s.o.) mehr als eine Verdoppelung der Zahlen.

Nur so können die enormen Vergütungen für Aktionäre und Vorstände sowie die Finanzierung der nationalen und globalen Expansionen erklärt werden. Enormen Profit aus den EH-Immobilien ziehen auch deren Eigentümer und Vermieter. Dieser Teil des Profits geht allerdings in die Kostenrechnung ein und hat deshalb keine Auswirkung auf die o.g. Gewinnzahlen.

III. Zur Lage der Beschäftigten, Gewerkschaft und Betriebsräte im EH

III.1 Löhne/Gehälter, Organisationsgrad, Kampfstärke

Seit Jahrzehnten liegen die Gehälter und Löhne am Ende der in den deutschen Branchen/Industriezweigen gezahlten Verdienste. Trotz aller gewerkschaftlicher Bemühungen hat sich an der vorletzten Position in dieser Rangfolge nichts verändert.

Der EH mit seinen unterschiedlichen Betriebsstrukturen und den inzwischen deregulierten Belegschaften (Vollzeit, Teilzeit, Minijob, Aushilfe, Leiharbeit, Praktikum) macht eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig, aber nicht unmöglich. In der Tarifrunde 1978 kam es zu den ersten, ernstzunehmenden Warnstreiks im EH. Befristet auf zwei bis drei Stunden demonstrierten insbesondere Belegschaften der Kauf- und Warenhäuser (Kaufhof, Karstadt, Hertie, Horten) für bessere Tarife. Es ging um mehr Geld und um sechs Wochen Urlaub. In den Folgejahren stieg die Kampfkraft der DGB-Gewerk-schaft HBV (Handel, Banken, Versicherungen) durch warnstreikbereite Belegschaften in den SB-Warenhäu-sern und dem Versandhandel.

Ab Mitte der 1980er beteiligten sich auch Beschäftigte der Lebensmittelfilialbetriebe in den Filialen und Zentrallägern. Der Strukturwandel im EH hatte enormen Einfluss auf die entstandene Kampfkraft.

Dies traf vor allem die Kauf- und Warenhäuser (s.o.). Die Schließung zahlreicher Häuser, die Ausgliederungen und die rechtliche Verselbständigung von Abteilungen – insbesondere der Restaurants und Lebensmittelabteilungen mit ihren hochgradig organisierten und motivierten Beschäftigten – sowie der permanente Personalabbau schwächen bis heute die Kampfkraft von ver.di im EH. Neben den strukturellen Veränderungen haben die EH-Gewerkschaften HBV und DAG – heute vereint in ver.di – dazu selbst einen nicht unerheblichen Beitrag »geleistet«.

Die relative Schwäche – nur ca. zehn Prozent durchschnittlicher Organisationsgrad in der Branche, nur wenige mit über 50 Prozent organisierte Belegschaften – wurde »hausgemacht« verstärkt. Von den gewerkschaftlichen Spitzen gab es, mit wenigen Ausnahmen, keine ernsthafte Bereitschaft, die durch die verschiedenen Formen des Struktur- und betrieblichen Formatwandels entstandenen Probleme theoretisch/analytisch und vor allem praktisch anzugehen sowie Lösungsansätze gemeinsam zu suchen und aufzuarbeiten.

Zwar ließ diese Schwäche manchenorts quasi auch notgedrungen vielfältige Aktionsformen zusätzlich zu den Warnstreiks, den inzwischen hie und da möglichen Tagesstreiks und auch unbefristeten Streiks entstehen. Gemeinsame Aktionen mit KundInnen bis hin zum befristeten Boykott, Flashmobs, Druck- und Imagekampagnen, Zusammenarbeit mit Gruppen aus den sozialen Bewegungen, Teilen der Parteien und Kirchen verstärkten die ab Mitte der 1990er wieder schwächer werdende Kampfkraft.

Ihren Niederschlag findet diese wachsende Schwäche vor allem in den Tarifabschlüssen zu Gehalt und Lohn. Seit 2003 kommt es durch die Struktur der Tarifverbesserungen – viele Monate ohne Tariferhöhungen, also sog. Nullmonate, Einmalzahlungen ohne Prozent-Erhöhungen – zu deutlichen Reallohnverlusten. Auch dadurch haben sich große Teile des EH zu einem Niedriglohnsektor entwickelt. »Der Niedriglohnanteil unter den Vollbeschäftigten liegt im EH inzwischen bei 33 Prozent. Der Anteil der Minijobber in der Branche beträgt 30 Prozent.« (Kalkowski, S.4) Niedrige Renten und Altersarmut sind nach niedrigen Einkommen im Erwerbsleben somit die Perspektive für viele Beschäftigte, insbesondere für die Alleinerziehenden und Teilzeitbeschäftigten. Die Aufforderung, sich privat fürs Alter abzusichern, ist angesichts der niedrigen Gehälter nicht mehr als Hohn. Arm trotz Arbeit gilt schon während der Erwerbsarbeit.

Der Rückgang der Reallöhne/-gehälter war im EH noch höher als in der Gesamtwirtschaft. Von 2000 bis 2010 stieg das nominale Tarifniveau im EH um 15,5 Prozent, in der deutschen Wirtschaft insgesamt um 18,8 Prozent, in der Metallindustrie um 23 Prozent. (Vgl. WSI/Hans Böckler Stiftung: www.tarifvertrag.de)

Die hohen Gewinne der EH-Unternehmen sind auch dadurch erklärbar, dass ver.di und die beiden Arbeitgeberverbände im EH – HDE (Handelsverband Deutschland, vormals Hauptverband des Deutschen Einzelhandels) und BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels) [2] – die Tarifabschlüsse am stagnierenden Umsatz und den »lahmen Enten« orientiert haben. So konnten die in der Konkurrenz profitierenden Unternehmen und Konzerne – wie z.B. H&M, IKEA, Rewe, Edeka, Lidl, Kaufland, Aldi, C&A, MediaMarkt/Saturn – quasi Extraprofite erzielen, zum Wohle der Eigentümer und Vorstände.

Selbst von den bescheidenen Tarifabschlüssen hatten viele EH-Beschäftigte nichts. Tarifvertragsfreie Zonen entstanden mit Hilfe der Tarifvertragspartei der Arbeitgeber. Bekannte Unternehmen sind entweder nach »Tarifflucht« nicht (mehr) Mitglied in einem Arbeitgeberverband oder »Mitglied ohne Tarifbindung«. Auch renommierte Unternehmen waren nie Mitglied in einem Arbeitgeberverband. Hier eine unvollständige Liste der Beispiele: C&A, P&C, dm, Drogerie Müller, Woolworth, Douglas, Globus, Hornbach, Bauhaus, Hagebau-märkte, KiK, Aldi, Netto, Norma, Rossmann, Wöhrl, Tchibo, Toom-Baumarkt. Einige der genannten Unternehmen wenden die EH-Tarifverträge an, wenn's ihnen passt. Zu ihnen gehört nach öffentlichem Druck seit dem 1. Oktober 2010 auch die Biomarkt-Kette Alnatura.

Einen Anlass zur Hoffnung bieten in dieser Negativ-Entwickung die Schlecker-Filialbelegschaften. Seit der Schlecker-Kampagne der Gewerkschaft HBV in 1994/95 organisierten sich inzwischen über 11000 Schlecker-Beschäftigte gewerkschaftlich. Mit deren Mut und Zähigkeit konnte ver.di Schlecker mit Tarifaktionen und Streiks im Jahr 2000 in die Tarifbindung zwingen.

Aber auch in tarifgebundenen Betrieben fallen durch Out- und Insourcing (s.o.), Fremdfirmen, LeiharbeiterInnen, PraktikantInnen usw. 30-40 Prozent der im Betrieb Arbeitenden nicht mehr unter die Tarifverträge des EH. Gewerkschaftliche Konzepte, Ideen oder Erprobungen gegen diese Entwicklungen sind nicht zu vernehmen. Die gewerkschaftliche Kraft im Handel bleibt auf der Rutsche, insbesondere nachdem mit dem Niedergang der Kauf- und Warenhäuser die seit den 1970ern entstandenen gewerkschaftlichen Hochburgen verschwunden sind bzw. die verbliebenen deutlich geschwächt wurden.

III.2 Arbeitszeiten

Die Belegschaften der Innenstadt-Häuser gehörten, zusammen mit denen der SB-Warenhäuser, zu jenen, die das Ladenschlussgesetz entschieden und öffentlich verteidigten. 2006 gab ver.di den über 100-jährigen Kampf um ein Ladenschlussgesetz verloren.

Dieser Kampf war immer ein Kampf um das tägliche Arbeits-zeitende, um die Lage der Arbeitszeit, für einen freien Samstagnachmittag, gegen Nacht-, Sonntags- und Feiertagsdienste sowie gegen Ausweitung der Schichtarbeit im EH. Das Ende der Arbeitszeit bedeutete für die Beschäftigten, davon über 70 Prozent Frauen, ob und wie sie am familiären und gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten, ob der öffentliche Personennahverkehr sie in akzeptabler Zeit nach Hause bringt. Ihre Befürchtung, dass eine Ausweitung der Arbeitszeiten trotz aller Prognosen und Versprechungen der Unternehmen und PolitikerInnen keine zusätzlichen Einstellungen mit sich bringe und nur eine weitere Intensivierung der Arbeit bedeute, wurde inzwischen Realität. Aber nicht nur der Schutzcharakter des Ladenschlussgesetzes für die Beschäftigten fiel weg. Auch der Schutz für die kleineren und personalintensiven Geschäfte war vorbei.

Diese Ausweitung der Konkurrenzzeiten war der befürchtete Anstoß zur Verschärfung und Beschleunigung der Konkurrenzen (s. II.1 in Teil I, express 2/2011). Auch die Vorstellungen von KommunalpolitikerInnen aller Parteien, längere Ladenöffnungszeiten würden zu einer Belebung der Innenstädte führen, blieben Illusion. Derzeit kämpfen noch einige Belegschaften und örtliche ver.di-Gliederungen mit Hilfe der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates sowie vor allem die christlichen Kirchen vor Gericht gegen verkaufsoffene Sonntage. Sie befinden sich in einer langjährigen Tradition. 1891 kam es in Deutschland zum ersten Ladenschlussgesetz. Hier ging es um eine Einschränkung der Arbeit an Sonn- und Feiertagen.

Der Ladenschluss an Werktagen wird erstmals 1900 in der Gewerbeordnung gesetzlich geregelt. In Gesetzen und Verordnungen wird nach 1948 ein früherer Ladenschluss für die Samstage verbindlich. 1956 wird per Bundesgesetz die Ladenöffnung montags bis freitags von 7 Uhr bis 18.30 Uhr, samstags bis 14 Uhr eingeschränkt. Am ersten Samstag im Monat konnte bis 18 Uhr geöffnet werden. Ausnahmen gab es vor Weihnachten. Das Gesetz galt als Kompromiss zwischen Händlern, Beschäftigten, Kunden und Kirchen.

Mitte der 1970er nahmen die Versuche der Großunternehmen im Bunde mit der FDP zu, den Ladenschluss zu lockern. Initiativen der CDU/FDP-Regierung für eine längere Öffnung an Werktagen führten 1989 zu den bis dahin größten Arbeitskampfmaßnahmen im deutschen EH. HBV und DAG versuchten, per Tarifvertrag eine gesetzliche Neuregelung zu konterkarieren. Per Gesetz wurde im Herbst 1989 der sogenannte Dienstleistungsabend mit Öffnung am Donnerstag bis 20.30 Uhr ermöglicht. In den Manteltarifverträgen wurde ein »Spätöffnungszuschlag« von 20 Prozent für Arbeiten im Verkauf nach 18.30 vereinbart.

Weitere Stationen der Änderung: 1996 wurden von Schwarz-Gelb Öffnungszeiten montags bis freitags bis 20 Uhr erlaubt. Rot-Grün unter Schröder/Fischer erweiterten gegen heftigen gewerkschaftlichen Widerstand 2003 die Öffnung an Samstagen bis 20 Uhr. Die jeweiligen gesetzlichen Neuregelungen führten zu Arbeitskämpfen und anschließend zu Vereinbarungen im Manteltarifvertrag, wodurch die spätere Arbeit durch Zeitzuschläge »sozial« abgefedert wurde. Am 28. August 2006 stimmte dann entgegen aller früheren Zu- und Aussagen die SPD mit ihrem Ja zur sogenannten Föderalismusreform für die komplette Abschaffung des Ladenschlussgesetzes.

Nun sollten die Bundesländer einzeln Regelungen treffen. Nicht nur Ironie der Geschichte ist wohl, dass mit Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zwei Rot-Rot-regierte Länder als erste den Verkauf werktags rund um die Uhr und großzügig auch Sonntagsöffnungen möglich machten. Allzu großzügig, wie inzwischen Gerichte Klagen der Kirchen gegen die Sonntagsarbeit im EH beschieden! Die Gewerkschaft ver.di nahm dabei den Part eines Zuschauers und Unterstützers der Kirchen ein.

III.3 Verstöße gegen Tarifverträge

Selbst verbindliche Tarifverträge in tarifgebundenen Unternehmen, vor allem des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), kommen den Beschäftigten in Teilen nicht zu Gute. Insbesondere in den kleineren (Discounter-) Filialen wird die geleistete Arbeitszeit oft nicht korrekt erfasst.

Während Beschäftigte und KundInnen wegen In-venturdifferenzen und Diebstahlverdacht mit neuesten Techniken (Video, EDV, Warenwirtschaftssystem) überwacht werden, verzichten selbst renommierte Großunternehmen auf die korrekte Erfassung der Arbeits-zeiten. Während der ganze Laden seit über 20 Jahren auf EDV basiert, werden die Arbeitszeiten i.d.R. manuell erfasst, oft wird nur die Anwesenheit »angekreuzt«. Durch diese Praxis wird nur die in der Filialplanung vorgesehene Arbeitszeit dokumentiert. Tatsächlich wird von vielen Filial- und Bezirksleitungen erwartet, dass die Beschäftigten (im LEH zu 90 Prozent Frauen) schon vor der vereinbarten Zeit kommen und die Filiale »verkaufsbereit« machen, d.h. Regale einräumen, Frischware präsentieren u.ä. Dadurch entstehen oft täglich pro Beschäftigten 30-90 Minuten nicht erfasste und nicht bezahlte Arbeitszeit.

Offen wird überall von diesen »grauen« bzw. »schwarzen« Überstunden gesprochen. Bei (zig-)Tausend Beschäftigten entstanden so über die Jahre jährlich Millionen Euro eingesparte Personalkosten, die die Gewinne und die Expansionen finanzierten. Rechtlich betrachtet handelt es sich um Betrug bzw. ungerechtfertigte Bereicherung. Nach 25 Jahren Erfahrung als Gewerkschaftssekretär in dieser Branche ist dem Verfasser kein Staatsanwalt bekannt geworden, der hier trotz zahlreicher Presseveröffentlichungen tätig geworden wäre. Änderungen waren nur hie und da, nicht flächendeckend durch aktive Betriebsräte zu erreichen, die manchmal über Jahre hinweg Lösungen für dieses Problem suchten. Selten, wenn überhaupt, mit Unterstützung der verantwortlichen Manager, die sich ihrer strafbaren Handlungen durchaus bewusst waren und entsprechend mit dem Argument »wenn die Konkurrenz sich auch daran halten würde...« »ihre« Betriebsräte bearbeiteten.

Seit der Aufhebung des Ladenschlussgesetzes werden im LEH im Verkauf bzw. an der Kasse nach 20 Uhr sogenannte Aushilfen (oft SchülerInnen und StudentInnen) beschäftigt. Mit Duldung von Betriebsräten erhalten diese auch in renommierten Unternehmen nicht den tariflichen Stundenlohn, sondern deutlich weniger, z.B. fünf Euro. Teil dieses Tarifvertragsbruchs ist die zusätzliche Verweigerung der Spätöffnungs- und Nachtarbeitszuschläge, der Lohnfortzahlung bei Krankheit, der tariflichen Urlaubstage u.ä.

Selten kann ein Fall von bewusstem und gewerkschaftlicherseits gebilligtem Verstoß gegen die Tarifverträge wie der Folgende belegt werden. Im Mai 1998 übernimmt Edeka Baden-Württemberg von der AVA 43 Märkte (Nanz, Preisfux, Allfrisch) mit ca. 640 Beschäftigten und gibt sie an Edeka Südwest in Heddesheim bei Mannheim weiter. Diese gliedert sie überwiegend zu ihren Neukauf-Filialen ein.

Zum Schutze der in der Gewerkschaft HBV Mannheim/Heidelberg hochgradig organisierten Belegschaft und von deren aktivem Betriebsrat stellt die HBV Tarifforderungen zur Sicherung der Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie für den Erhalt des Nanz-Betriebsrates. Nach anfangs aussichtsreichen, letztendlich jedoch ergebnislosen Gesprächen, beginnt die HBV vier Wochen später, am 16. Juli 1998, mit einem Arbeitskampf, zunächst mit einem Boykottaufruf an die Kunden. Danach ruft die HBV zu Warnstreiks und kurz danach zum unbefristeten Streik auf, der dann sieben Wochen erbittert geführt wird. Im Rahmen eines Verfahrens vor dem Arbeitsgericht Mannheim legt Edeka/Neukauf ein beachtenswertes Schreiben der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), vom 3. Juli 1998, vertreten durch den Bezirksleiter M.R., mit folgendem Passus vor: »...

Wir würden als im Betrieb vertretene Gewerkschaft dann auch darüber nachzudenken haben, ob unsere bisherige, kooperative Verhandlungsbereitschaft Ihrerseits noch akzeptiert wird oder ob wir nicht ebenfalls andere Strategien entwickeln müssen. Als DAG haben wir hier ja verschiedene Möglichkeiten z.B. die Bestimmungen des allgemein gültigen Tarifvertrages einzufordern. Wir bieten Ihnen nochmals lösungsorientierte Verhandlungen an. Die Situation, dass bei den Gesprächen mit HBV und DAG unterschiedliche Verhandlungspartner am Tisch sitzen, kann unsererseits allerdings nicht weiter akzeptiert werden. Mit freundlichen Grüßen, M.R. – Bezirksleiter«

Hier ist die DAG in Tateinheit mit dem bei ihr überwiegend organisierten Neukauf-BR nicht nur der HBV und den Streikenden in den Rücken gefallen, sondern sie hat für den Preis des weiteren Akzeptierens der Tarifvertragsbrüche einen Alleinvertretungsanspruch im Betrieb eingefordert. Edeka/Neukauf gab dieser Pression nach. Ob das ausschlaggebend war für den schließlich ergebnislosen Verlauf der Gespräche zwischen Edeka und HBV oder ob vielleicht die Kosten eines längeren Streiks für das Unternehmen günstiger waren als die Gewährung der tarifvertraglichen Leistungen an die Beschäftigten?

III.4 Minilöhne und Lohndumping im EH

»Textildiscounter KiK gewährt Mindestlohn«, so die FTD am 24. August 2010. Ab Oktober soll es mindestens 7,50 Euro in der Stunde geben, was für über 3000 geringfügig Beschäftigte zu deutlichen Lohnerhöhungen führt. Dieser »Großzügigkeit« liegen allerdings Gerichtsurteile zugrunde. Mit Unterstützung von ver.di Mülheim/Oberhausen hatten Verkäuferinnen gegen sittenwidrige Stundenlöhne von 5,20 Euro und darunter geklagt und dann im März 2009 endgültig vor dem LAG Hamm gewonnen. KiK hatte nicht nur mies bezahlt, sondern auch von unbezahlter Mehrarbeit profitiert und finanziell verschuldete Beschäftigte nach Auskünften von Creditreform gekündigt. Schamlos lässt KiK national und global ArbeitnehmerInnen ohne existenzsichernde Löhne für den Profit der Eigentümer schuften. NGOs und Gewerkschaften in Bangladesch berichteten über ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in den Textilfabriken. In dieses Bild passt die Kündigung von Emmely, Kassiererin bei Kaiser's Tengelmann. KiK ist nicht irgendwer. In hierzulande 2480 Filialen erarbeiteten ca. 15000 Beschäftigte 1,63 Mrd. Euro Umsatz in 2009. Zu über 50 Prozent gehört das Unternehmen zur Tengelmann-Gruppe, und deren Eigentümer-Familie Haub zählt mit ca. 5 Mrd. Euro zu den Reichsten in Deutschland.

»Alnatura zahlt ab Oktober Tariflohn« (taz, 31. Juli 2010). Ende März 2010 hatte die taz über die untertarifliche Bezahlung durch die Biomarktkette Alnatura berichtet und damit zahlreiche weitere Schlagzeilen ausgelöst. Dies führte auch unter bewussten und kritischen Kunden von Biomärkten zu heftigen Diskussionen und Reaktionen. Eine solche Negativwerbung kann zu einem lang anhaltenden Imageschaden führen, wie das Beispiel Schlecker zeigt. Seitdem 1994/95 der ungesetzliche und frauenfeindliche Umgang des Unternehmens mit dem Personal bekannt wurde, spürt Schlecker die Wirkungen auf den Umsatz – bis heute. Alnatura reagierte relativ schnell. Tarifentgelte werden nun bezahlt. Dies führte teilweise zu zweistelligen, prozentualen Erhöhungen, teilweise wurden fällige Gehaltserhöhungen jedoch durch eine Verkürzung der individuellen Arbeitszeiten umgangen. Allerdings weigert sich Alnatura noch immer, dem Arbeitgeberverband und damit dem Flächentarifvertrag beizutreten oder mit ver.di eine Tarifbindung einzugehen.

Ikea wählte einen anderen Weg zur Profitsteigerung. Durch die rechtliche Konstruktion der Ikea-Gesell-schaften, konkret durch die Niederlassung der für Deutschland zuständigen Muttergesellschaft in Holland, betreibe Ikea »organisierte Steuerflucht« aus Deutschland, berichtete die Süddeutsche Zeitung (12. August 2010) über Vorwürfe von ver.di. Zusätzlich profitiere Ikea von einem hohen Anteil von LeiharbeiterInnen an der Belegschaft; in manchen Filialen bis zu 30 Prozent, an den Kassen seien es bis zu 50 Prozent.

Ikea ließ im Geschäftsjahr 9/2008 bis 8/2009 in 260 Möbelhäusern, davon 204 in Europa, von ca. 160000 Beschäftigten einen Umsatz von 21,4 Mrd. Euro erarbeiten. 23,1 Mrd. beträgt der Umsatz 2009/2010 (ein Plus von 7,7 Prozent). Der Netto-Gewinn lag 2008/2009 bei 2,5 Mrd. Euro (ein Plus von 11,3 Prozent). Zum oft skandalösen Verhalten gegenüber Mensch und Natur bei der Produktion der von Ikea vertriebenen Waren mehr unter Kap. IV.

KiK, Alnatura, Schlecker und Ikea sind keine Einzelfälle. Minilöhne, Lohndumping, untertarifliche Bezahlung gehören in vielen Betrieben dazu wie die Kassen- und Personalknappheit. Unrechtmäßig niedrige Löhne und Gehälter fehlen nicht nur im Geldbeutel der Beschäftigten, bei Arbeitslosigkeit, längerer Krankheit und späterer Rente. Die Steuereinnahmen des Staates und die Einnahmen der Sozialversicherungsträger sind ebenfalls betroffen. Wo bleiben auch angesichts leerer öffentlicher Kassen und des damit begründeten Sozialabbaus die Aktivitäten von Staatsanwälten, Finanzämtern, Trägern der Sozialversicherungen?

III.5 Verhältnis Unternehmen, BR/GBR und Gewerkschaften

Die Beziehungen zwischen den Unternehmen, den Betriebs- und Gesamtbetriebsräten sowie den Gewerkschaften sind vielfältig. Vorherrschend ist eine in zahlreichen Varianten praktizierte Sozialpartnerschaft, flankiert von eher willfährigen Betriebsräten einerseits und gewerkschaftlich bewussten und aktiven KollegInnen andererseits. Dies führt in der Gewerkschaft nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen, vor allem wenn es um die Bereitschaft zu Tarifaktionen oder gar zum Arbeitskampf oder zum (vor-)schnellen Tarifabschluss geht.

Dieses unterschiedliche Verhalten von Betriebsräten ist sicherlich auch einer der Gründe für die schwächer gewordene Kampfkraft von ver.di im EH. Nicht genutzte Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz – wie etwa der Anspruch auf vier Betriebsversammlungen im Jahr oder das akzeptierte Unterlaufen der Tarifverträge, um nur zwei Beispiele zu nennen – bringen in der Konkurrenz eindeutige Kostenvorteile. Dies wird den aktiven Betriebsräten von ihren Chefs regelmäßig vorgehalten und bleibt nicht ohne Wirkung, in einigen Fällen dauerhaft. Eine beobachtbare Spirale nach unten.

III.6 Kontrolle, Überwachung und Bespitzelung

Nicht nur bei Verdacht auf Diebstahl, Unterschlagung oder sonstige finanzielle Unregelmäßigkeiten erfolgt eine rigorose Überwachung und Kontrolle der verdächtig erscheinenden Personen. Videoaufzeichnungen, die Auswertung von elektronisch gespeicherten Daten, der Einsatz von Revision und Detektiven, verhörähnliche Gespräche – oft ohne Betriebsrat – mit einer verdächtigten Person, der zwei bis drei Arbeitgebervertreter in einem kleinen Raum in der Filiale gegenübersitzen, Drohungen mit Hausdurchsuchung, Strafanzeige, der Presse und der Nachbarschaft, Versprechungen und Lockungen wie »Wenn Sie jetzt ein Schuldanerkenntnis unterschreiben, bleibt alles unter uns«, sind keine Erfindungen, sondern Erfahrungen. Im Raum Mannheim/Heidelberg war es jahrelang Praxis, Verdächtigte, die ihre Schuld zugaben, sofort zum Notar zu bringen, um ihr Schuldanerkenntnis beurkunden zu lassen.

Dabei ging es teilweise um fünfstellige Schadenssummen, die unmöglich von einer untergeordneten Person verursacht werden konnten. GewerkschaftssekretärInnen gelang es ab und zu, in Verhandlungen mit dem beteiligten Personalchef die Höhe dieser Schuld zu verringern.

Trotz gewerkschaftlicher Aktivitäten konnte nicht verhindert werden, dass die Verdächtigten zu einem Notar im an Baden-Württemberg angrenzenden Hessen gebracht wurden. Die Erklärung könnte darin liegen, dass einige hessische Notare auf Grund anderer rechtlicher Grundlagen als preiswerter und »gefälliger« galten und die »Aufklärung der Beschuldigten« wohl eher zurückhaltend vornahmen.

Betriebsräte, die ihr Amt ernstnahmen, mussten oft jahrelang gegen diese Praxis kämpfen. Allerdings zeigte sich, dass sie durch Hartnäckigkeit ihre Teilnahme an den o.g. Gesprächen durchsetzen und diese akzeptabel gestalten konnten. Ähnlich hartnäckig mussten sie ihre gesetzlich vorgesehene Beteiligung vor der Installation von Kameras u.ä. erkämpfen. Nicht selten wurden solche aktiven Betriebsräte selbst überwacht.

Angesichts dieser unternehmerischen Energie und Phantasie sowie des Einsatzes von Mensch und Kapital bei Verdacht auf finanzielle Unregelmäßigkeiten lässt der Verzicht auf Erfassung und Abgeltung/Bezahlung aller geleisteten Arbeitsstunden hierzulande (s. III.3) sowie auf die Kontrollen gegen ausbeuterische Arbeits-bedingungen bis hin zu Kinderarbeit in den Produktionsstätten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas dort viele Interpretationen und Vermutungen zu. Skrupellose Profitgier gehört dazu.

Wie systematisch und z.T. menschenfeindlich Überwachungspraktiken waren, konnte die Gewerkschaft HBV 1994/95 in ihrer Kampagne gegen Schlecker anhand von internen Schlecker-Unterlagen aufzeigen. Sogenannte Vertrauenskunden führten Hektik an der Kasse herbei und dann Kassiererinnen mit Pfennigbeträgen in Versuchung. Beispiel: Sie verzichteten auf die Mitnahme eines einzigen Pfennigs. Nach Kassenschluss wurde dann kontrolliert, ob dieser Pfennig überschüssig und in der Kassenabrechnung erfasst war.

So wurden Abmahnungen und Kündigungen vorbereitet. Nicht nur bei Schlecker, aber da in ziemlich allen Filialen, wurde eine doppelte Wand eingezogen. In dem Zwischenraum hielten sich dann Führungskräfte, Revisoren u.ä. auf und beobachteten stundenlang Kunden und Beschäftigte. (Näheres dazu von Anton Kobel im express 4/2008, nachgedruckt in: Ränkeschmiede Nr. 19, März 2010: »Der Spion, der aus der Wand kam«)

Eine vergleichbar exzessive Überwachung der Beschäftigten und Kunden deckte der Stern im März 2008 mit Unterstützung von ver.di bei Lidl auf. Während der Jahre 2006 und 2007 ließ Lidl die Verhaltensweisen der Beschäftigten mit Miniaturkameras bei der Arbeit protokollieren. Offiziell sollte dies dem Schutz vor Ladendieben dienen. (Näheres dazu im Interview mit dem ver.di-Handelssekretär Achim Neumann »ALDIL – von vorne und hinten pfui« im express 4/2008 sowie nachgedruckt in: Ränkeschmiede Nr. 19) Lidl versuchte sich bei Kunden und Beschäftigten mit dem Hinweis zu

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