Sonntag, 5. Juni 2011

Der #kontrollierte #Embryo - #Pränataldiagnostik zwischen Wahlmöglichkeit und Erwartungsdruck [Die Hebamme 2009]

   

Diskussion
Pränataldiagnostik
Hebamme 2009; 22: 76-80
DOI: 10.1055/s-0029-1233332

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
 

Der kontrollierte Embryo -

Pränataldiagnostik zwischen Wahlmöglichkeit und Erwartungsdruck   Elisabeth Beck-Gernsheim

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Literatur

 
 

Zum Thema

Was könnte natürlicher sein als der Wunsch nach einem gesunden Kind? So jedenfalls meinen viele. Und doch können wir ganz direkt miterleben - als Zeitgenossen gewissermaßen - wie die Einstellungen, Hoffnungen, ­Wünsche, die um Elternschaft kreisen, einen tiefgreifenden Wandel durchmachen.

 

Mediziner, die in der Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin tätig sind, berichten von einer zunehmenden Anspruchshaltung aufseiten der werdenden Eltern, so z. B. der Humangenetiker Jan Murken:
"Die Pränataldiagnostik kann man nicht mehr aus der Welt schaffen. Aber dieses Kontinuum von den wirklich bedrohlichen Krankheiten, wo jeder nachvollziehen wird, dass die Unzumutbarkeit, die Schwangerschaft fortzusetzen, gegeben ist, bis hin zu den wirklichen Banalitäten, bis hin zur Geschlechtsselektion - das macht es schwer, eine Grenze zu ziehen … Ich habe nie gedacht, dass sich das plötzlich so selbständig macht und solch eine Ausweitung hat" [
1].

Ähnlich äußert sich Hermann Hepp, Direktor der Frauenklinik im Klinikum Großhadern in München:
"Mit diesen Fortschritten [der Pränataldiagnostik] werden weitere Begehrlichkeiten geweckt und vertieft. Der zunehmende Anspruch auf ein gesundes Kind" mag am Ende dazu führen, dass eine Art "Pflicht zum unbehinderten Kind" sich entwickeln könnte" [
2].

Nach der gängigen Deutung sind solche Ansprüche ein Produkt des Egoismus und der Maßlosigkeit der Eltern, ein Ausdruck ihrer persönlichen Neigungen, Zwänge, Neurosen; oder anders gesagt, sie sind ein Ausdruck individueller Marotten und Macken. Die Steigerung und Ausweitung der Wünsche wird meiner Meinung nach aber durch die Pränatal-diagnostik selbst miterzeugt.

Gesundheit im Zeitalter der modernen Medizintechnologie

Mit dem Aufstieg der neuen Biotechnologien, die in den letzten Jahren eine enorme Dynamik entfaltet haben, hat das Gesundheitsprojekt der Moderne - die Gesundheitserwartung, die Gesundheitsverheißung - zusätzlich an Reichweite und Schubkraft gewonnen. In der Verbindung von Medizin, Biologie und Genetik eröffnen sich ganz neue Formen des Eingriffs in die Substanz menschlichen Lebens. Zur Verhandlung steht an, was der Mensch ist, sein soll, werden kann.

Die Gesundheitsverheißung

Wie eng die Verknüpfung zwischen Gesundheit und Gentechnologie tatsächlich ist, ist umstritten. Während manche Wissenschaftler dramatische Fortschritte von der Nutzung der Genomanalyse erwarten, halten andere solche Erwartungen für weit überzogen. Sicher ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nur, dass bisher eine enorme Kluft besteht zwischen den Möglichkeiten der Diagnose und denen der Therapie. Ob diese Kluft jemals verschwindet, ob die großen Durchbrüche bei der Therapie tatsächlich kommen - dies ist auch ­innerhalb der Naturwissenschaften durch­aus umstritten.

In der öffentlichen Diskussion freilich wird die Gesundheitsverheißung gezielt eingesetzt, um in leuchtenden Farben das Bild einer besseren, gesünderen, glücklicheren Zukunft zu malen.

Mit der Berufung auf Gesundheit werden Hindernisse beiseite geschoben, Zweifel ausgeräumt und Kritiker zum Schweigen gebracht: Eine Erosion der noch geltenden Tabuschwellen und Grenzen setzt ein. Dazu zwei Beispiele.

Die Expansion des Gesundheitsbegriffs

Beispiel 1:

In der britischen Zeitschrift The Economist erschien ein Titel-Essay, gewidmet dem Thema "Changing your genes", also etwa "Wie man die Gene verändert" [5]. Als Einstiegssatz diente das berühmte Diktum von Freud, die Biologie sei unser Schicksal, und vor diesem Hintergrund wurde dann das Bild einer Zukunft entworfen, in der Freuds Satz nicht mehr gilt, weil die Menschen ihre Gene gezielt auswählen, abwählen, neu sortieren und kombinieren. Heute, so hieß es da, zielten die Therapien auf Gene, die bösartig sind. Aber morgen könne es um Gene gehen, die nicht nur aus einem schlecht funktionierenden Körper einen gut funktionierenden machen, sondern aus dem gut funktionierenden einen noch besseren, also: noch schneller, noch stärker, noch schöner.

Danach wurden knapp ein paar ethische Einwände gestreift, um dann engagiert ein Plädoyer dafür anzustimmen. Wahlfreiheit über alles, für alles, auch für die Gene! Mit der genetischen Wahl bricht ein neues Zeitalter der Freiheit an! So der Grundton durchgängig, konsequent dann zum Schlusssatz hinführend: "With apologies to Freud, biology will be best when it is a matter of choice". ("Entschuldigung, lieber Herr Freud, aber unsere Biologie wird erst optimal, wenn wir sie selbst wählen können".)

Beispiel 2:

In der amerikanischen Wochenzeitung Newsweek schrieb der Mediziner Michael Crichton einen Essay zur Zukunft der Medizin [6]. Der Tenor ist ähnlich, der Optimismus noch ausgeprägter, die Zukunft wird in leuchtenden Farben geschildert. Als Pate wird Charles Dickens bemüht, genauer sein Buch Great Expectations: Crichtons Artikel trägt den Titel "Greater Expectations", und dies ist durchaus wörtlich zu verstehen.

"Der Arzt als Lebensstil-Experte, als Wegweiser zu Wohlbefinden wird heute schon in Ansätzen sichtbar. Und in dem Maß, wie genetische Profile und andere Prognose-Instrumente genauer werden, wird sich auch die Kunst der Prävention immer weiter entfalten … Einen zentralen Stellenwert wird die Gentherapie einnehmen, bei der fehlende oder defekte Gene vom Arzt ersetzt werden … All dies bedeutet, dass sich unser Konzept von Medizin radikal ändern wird … Die Medizin wird ihren Schwerpunkt verlagern von der Behandlung zur Stärkung, von der Wiederherstellung zur Verbesserung, von der Bekämpfung der Krankheit zum Ausbau der Leistungsfähigkeit".

In solchen Bildern kündigt sich ein epochaler Einschnitt an. Mit den Gesundheitsverheißungen, die mit der Gentechnologie hier verknüpft werden, wird eine Expansion des Gesundheitsbegriffs eingeleitet: schleichend, gewissermaßen unter der Hand; aber im Ergebnis deswegen nicht weniger radikal.

Biologie, als genetische Grundausstattung verstanden, ist jetzt nicht mehr Schicksal, sondern Ausgangsmaterial.

Der alte Gesundheitsbegriff erscheint allzu eng, allzu bescheiden, die Erwartungen werden jetzt höher gesteckt: Steigerung, Verbesserung, Optimierung heißt das Gebot.

 

Freiwilliger Zwang

Ob eine solche Gen-Optimierung einmal Wirklichkeit wird, das kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner mit Sicherheit sagen. Sicher ist jedenfalls, die Möglichkeiten der Gen-Diagnose schreiten in schnellem Tempo voran. Damit entsteht die Möglichkeit, die eigenen ­Risikofaktoren zu klären (z. B. in Bezug auf Herzinfarkt oder Diabetes) und diese genetischen Informationen als Bezugspunkte und Rahmendaten in die ­per­sönliche Lebensplanung aufzunehmen. Vorbeugende Schadensabwehr ist, so schreibt Wolfgang van den Daele, "Element des self-management, das vom modernen individualisierten Menschen erwartet wird. Wenn methodische Lebensführung sich durchsetzt, … dann muss die vorbeugende Sicherung der Gesundheit hohe Relevanz bekommen" [7].

Dieses Muss meint nicht direkten Zwang, aber erst recht nicht bloße ­Freiwilligkeit.

Man könnte, bewusst paradox, von freiwilligem Zwang sprechen oder von "präventivem Zwang", wie van den Daele es tut. Sein Kernargument lautet: Die technischen Möglichkeiten der Prävention haben es heute leicht, den Status des Legitimen und Rationalen zu gewinnen, der Widerspruch kaum noch zulässt. Denn Optionen zur Vermeidung von Gesundheitsrisiken gelten einerseits als Ressourcen selbstbestimmter Lebensplanung. Und sie werden andererseits in Form von Leistungsansprüchen auch gegen den Staat gekehrt. Der Einzelne sucht Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens (gegen Krankheit und Unfall, Behinderung und Pflegebedürftigkeit) in Versicherungen aller Art, bezahlt von der Allgemeinheit.

Unter diesen Voraussetzungen muss die Nichtausnutzung präventiver Angebote zum Problem werden - die Tatsache also, dass viele Menschen die Möglichkeiten gesundheitsorientierter Lebensführung ausschlagen.

In diesem Sinne schreiben z. B. Hans-Harald Bräutigam und Liselotte Mettler, zwei prominente Vertreter der Reproduktionsmedizin: "Die eigene Kenntnis des Genoms sollte zur verantwortlichen Lebensgestaltung veranlassen" [8]. Ähnliche Äußerungen finden sich in der einschlägigen Diskussion häufig. Immer wieder taucht, fast wie ein Refrain, das Schlüsselwort "Verantwortung" auf. Dabei ist Verantwortung, ähnlich wie Gesundheit, ein Begriff, der zu den Leitwerten der Moderne gehört. Wie kann man dagegen sein, wer wollte für unverantwortliches Handeln plädieren?

Die Frage ist nur: Was ist gemeint? Was wird in diesen Begriff hineingesteckt? Und die Frage ist auch, ob sich mit den Fortschritten der modernen Medizintechnologie vielleicht nicht nur der Gesundheitsbegriff verändert, unter der Hand expandiert - sondern auch der Verantwortungsbegriff.

 

Schwangerschaft und Elternschaft im Zeitalter der ­Medizintechnologie

Die Pille als Einstieg

Die "Antibaby-Pille" kam 1961 in Deutsch­land auf den Markt und gewann in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre allmählich größere Verbreitung. Damit begann eine neue Epoche für Frauen. Wahlfreiheit hieß die neue Verheißung: Frauen konnten selber entscheiden, wann sie ein Kind wollten und wie viele sie wollten. Sie konnten abwarten, bis der Kinderwunsch hineinpasste in die sonstigen Vorgaben in ihrem Leben. Und sie konnten sich ggf. auch dagegen entscheiden.

Wenn wir zurückblicken, stellt sich die Frage: Wie ist die tatsächliche Entwicklung verlaufen? Ist die Verheißung der Wahlfreiheit in Erfüllung gegangen?

Die Antwort, so meine ich, ist komplizierter als ein einfaches Ja oder Nein. Wenn man mit der Situation früherer Zeiten vergleicht, brachte die Pille zweifellos einen wichtigen Durchbruch in der Geschichte der Frauen. Jetzt endlich gab es ein Verhütungsmittel, das einfach anzuwenden und hochgradig zuverlässig war, jetzt endlich war nicht mehr die Angst vor einer Schwangerschaft allgegenwärtig. Und indem Frauen mehr Verfügung über ihre Fruchtbarkeit gewannen, gewannen sie damit zugleich auch mehr Autonomie über ihr Leben insgesamt. In diesem Sinne bedeutete die Pille unbestreitbar einen enormen Fortschritt.

Allerdings hatte der Fortschritt, wie sich bald zeigen sollte, auch seinen Preis. Betrachtet man die Entscheidungssituation genauer, die mit der Pille entstand, so kann man durchaus auch fragen: Wie frei ist die Wahlfreiheit wirklich? Die Geschichte der Technik hat nämlich vielfach gezeigt, dass das Mittel auf die Zwecke zurückwirkt und ebenso leise wie nachhaltig die Entscheidungssituation selbst verändert. Anders gesagt: Eine neue Technik ist im sozialen Raum nicht neutral, sondern birgt ein ganzes Programm des sozialen Wandels in sich. Auf die Pille bezogen heißt das:

Unter dem Eindruck neuer Möglichkeiten der Geburtenkontrolle verändern sich auch die Einstellungen, Erwartungen und Normen auf diesem Gebiet.

Man kann annehmen, dass die Entwicklung etwa so verläuft: Indem die Pille enorm schnell in die Schlagzeilen der Massenmedien rückt und zu vehementen Diskussionen in der Öffentlichkeit führt, wird auch ein Bewusstseinsprozess ausgelöst. Jetzt wird bis ins letzte Dorf hinein sichtbar, dass die Biologie nicht mehr Schicksal ist, dass es vielmehr Optionen gibt: die Entscheidung für oder gegen ein Kind.

Und im Wechselspiel der Fragen, Standpunkte, Argumente, die in der öffentlichen Diskussion ausgetauscht werden, verschieben sich allmählich die Gewichte der "Beweislast".

Unter der Hand bahnt sich eine Veränderung der gesellschaftlich vorherrschenden Moral an: Aus dem Entscheidenkönnen wird die Pflicht zur bewussten Entscheidung.

Oder noch pointierter gesagt, mit der Verfügbarkeit der Pille wird die Entscheidung für oder gegen ein Kind gewissermaßen "privatisiert": aus den Zwängen der Biologie entlassen und in die Verantwortung von Frau und Mann gelegt. Wie die Soziologin Monika Häußler schreibt:

  • "Die neue Moral heißt bewusste, rationale, technisch-sichere Verhütung. Ihr Leitbild ist der aufgeklärte moderne Mensch, der verantwortungsbewusst mit dem Akt der Zeugung umgeht … Fast wird derjenige verdächtig, der im Zeitalter der unbegrenzten Verhütungsmöglichkeiten keinen Gebrauch davon macht. Verhütung wird vom notwendigen Übel zur aufgeklärten Staatsbürgerpflicht" [10].

Und diese Pflicht trifft nun vor allem die Frauen. Sie sind es, die mit dem Störfall Mutterschaft verantwortungsbewusst umgehen sollen, damit ihre Chancen im Bildungssystem und in der Berufswelt nicht eingeschränkt werden. Sie sollen Mutterschaft so unauffällig und so effizient wie möglich organisieren - dafür, so die Verheißung, dürfen sie dann auch an den Segnungen der Moderne teilhaben. Wie oft diese Verheißung in Erfüllung geht, ist eine andere Frage.

Aber offensichtlich ist, dass hier ein neues Leitbild seinen Aufstieg erlebt. In seinem Zentrum steht die junge Frau, aufgeklärt, aktiv und dynamisch, die ihren Lebensentwurf langfristig plant und rational umsetzt; die sich, das ist dabei ein wichtiger Punkt, nicht leichtfertig den Zufällen der Biologie unterwirft, sondern konsequent die Möglichkeiten der Geburtenkontrolle benutzt. Kurz, die erst einmal lange verhütet, weil sie eine qualifizierte Ausbildung absolviert; die selbstverständlich auch Zusatzqualifikationen erwirbt, also Sprachkurs, Auslandsaufenthalt, Betriebspraktika; die dann aus den verschiedenen Möglichkeiten des Berufseinstiegs die optimale auswählt; und die danach ihre Berufsposition ausbaut und konsolidiert - und frühestens dann die Pille absetzt und mit dem Mutterwerden beginnt.

In diesem Leitbild enthalten ist jedoch eine neue Gefahr, nämlich die der Planungsfalle.

Nach der neuen Devise sollen die Frauen den möglichst optimalen Zeitpunkt für die Geburt eines Kindes sorgfältig abwägen und entsprechend bestimmen. Aber dem steht als hartes Faktum entgegen, dass es diesen mythischen optimalen Zeitpunkt - fast niemals gibt.

Die moderne Arbeitswelt fordert, da in schnellem Wandel begriffen, ununterbrochenen Einsatz; wer da unterbricht, pausiert, die Arbeitszeit reduziert, muss mit erheblichen Einbußen rechnen. Statt dieses Problem als ein gesellschaftliches sichtbar zu machen und entsprechend nach gesellschaftlichen Lösungen zu suchen, wird das Problem nun leicht als privates definiert: Da wird die Verhütungstechnologie dazu benutzt, jene Frauen für irrational zu erklären, die sich "falsch" entscheiden oder sich weigern, "vernünftig" zu planen. Sie werden für "Fehlplanungen" persönlich verantwortlich gemacht: selber schuld, heißt es dann.

Die Frau, die "zu früh" Mutter wird - bevor sie ihre Ausbildung absolviert hat und im Beruf fest etabliert ist - ist heute ein "Problemfall" der individualisierten Leistungsgesellschaft.

Von der Pille zur Pränataldiagnostik

Aber was ist mit dem anderen Fall, wenn die Frau sich ins Leistungsprogramm einfügt und das Kinderhaben über Jahre hinweg aufschiebt? Dann gehört sie schließlich zur schnell wachsenden Gruppe der "späten Mütter" - und diese stellen nun ebenfalls eine Problemgruppe, genauer: eine Risikogruppe dar. Denn nachdem in den letzten Jahrzehnten Pränatal- und Gendiagnostik schnelle Fortschritte gemacht haben, nachdem sie die genetischen Grundlagen von Gesundheit und Krankheit immer genauer aufschlüsseln konnten, gerieten in der Folge die Risiken später Mutterschaft zunehmend ins Blickfeld. Und das Wissen um diese Risiken wurde in kürzester Zeit über Medien und nicht zuletzt Frauenzeitschriften verbreitet; wurde inzwischen zum Allgemeinwissen, dem keiner und keine entkommt - der Hinweis darauf gehört heute zur ärztlichen Aufklärungspflicht.

Passgerecht für die entsprechenden Ängste entwickelte sich bald ein eigenes Repertoire medizin-technischer Hilfsangebote aus Pränatal- und Gendiagnostik. Also Tests verschiedener Art, im Kern ein Normalitäts-Check für das Ungeborene, um die schwangere Frau zu beruhigen und ihr die Ängste zu nehmen.

Aber auch diese Verheißung hat ihre Kehrseite, denn bekanntlich können die Tests keinen Garantie-Schein für günstige Befunde anbieten.

Wenn alles gut geht, wenn keine Defekte oder Abweichungen sich zeigen, ist die werdende Mutter danach erleichtert und glücklich. Was aber dann, wenn der Befund diffus ist, unklar, mehrdeutig? Oder was, wenn er eindeutig ist, wenn er eine Behinderung ausweist? Oder wenn die Amniozentese gar eine Fehlgeburt auslöst: Ich bin jetzt 38, auf dieses Kind habe ich solange gewartet, vielleicht ist diese Schwangerschaft meine letzte und einzige Chance? Aber andererseits, wenn das Kind behindert sein sollte, dann müsste ich alles andere aufgeben - was soll ich nur tun?

Pränataldiagnostik und Verantwortung

Und diese Entscheidungssituation wird nun noch dadurch erschwert, dass sich ganz neue Verantwortungslasten damit verbinden. Dazu zunächst ein Beispiel aus einem Interview mit einer schwangeren Frau. Sie sagt:
"Ich fühlte mich in einer schaurigen Zwickmühle, rundherum hörte ich: Hast du jetzt die Untersuchung gemacht? Du musst unbedingt, wenn es diese Möglichkeiten gibt … Und falls du dann ein behindertes Kind hast? Du hast doch schon zwei Kinder, du musst auch an sie und an deinen Mann denken" [
11].

Hier zeigt sich der schleichende Bedeutungswandel, den der Begriff der Verantwortung durchmacht. Je mehr sichere Methoden der Empfängnisverhütung verfügbar wurden, desto mehr breitete sich zunächst die Idee der verantwortlichen Planung von Elternschaft heraus. Gemeint war dies damals in quantitativem Sinn: Es ging darum, nur so viele Kinder zu bekommen, wie man angemessen ernähren und aufziehen konnte.

Inzwischen, mit den neuen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, hat sich auch der Begriff der Verantwortung weiterentwickelt, bekommt einen neuen Klang. Zunehmend wird er in Richtung einer qualitativen Auswahl gefasst, ansetzend bereits vor der Geburt, vielleicht sogar vor der Zeugung. Dabei werden freilich oft Formulierungen verwandt, die das Handlungsziel nur vage andeuten: Man spricht etwa von "Prävention" oder von "prophylaktischen Maßnahmen".

Und die Verantwortung, um die es hier geht, hat viele Adressaten und Bezugspunkte: Da ist zum einen die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, dann die Verantwortung gegenüber der Familie, wie sie in dem zitierten Interview-Ausschnitt anklingt, gegenüber dem Mann und den bereits geborenen Kindern (vielleicht auch gegenüber den Großeltern, die auf ein niedliches, vorzeigbares Enkelkind hoffen). Nicht zu vergessen auch die Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Kind - kann man ihm denn das Schicksal der Behinderung aufbürden, eine Existenz zwischen Mitleid, Ablehnung, Abhängigkeit?

Hinzu kommt schließlich auch die Verantwortung für die eigene Person und das eigene Leben. In einer Arbeitswelt, die immer stärker Flexibilität und Mobilität fordert, sind Frauen schon behindert genug, wenn sie ein gesundes Kind haben. Denn sie sind nicht jederzeit abrufbar, sie können nicht beliebig Überstunden einschieben oder für drei Tage mal schnell auf Dienstreise gehen. Und damit sind sie, nach den heute geltenden Regeln der Arbeitswelt, nur "bedingt einsatzfähig", anders gesagt: defizitär.

Was aber dann, wenn sie nicht nur ein Kind zu versorgen haben, sondern gar: ein behindertes Kind? Dann, das wissen die Frauen sehr wohl, dann können sie gar nicht mehr mithalten. Dann sind sie "draußen": entweder ganz abgedrängt ins Private; oder - bestenfalls - abgedrängt in die Randzonen der Berufswelt, in Positionen, die wenig fordern, aber auch unsicher und schlecht bezahlt sind. Und erst recht heißt es dann: selber schuld. Du hättest ja den Test machen können. Du hättest den maximalen Störfall - das behinderte Kind - ja vermeiden können.

Bei so viel Verantwortung nach allen Seiten ist kaum überraschend, wenn immer mehr der so genannten "älteren Mütter" die entsprechenden Tests durchführen lassen. Und inzwischen sind es auch die jüngeren Frauen, die immer häufiger eine solche Rückversicherung suchen.

In der Folge setzt sich die "Schwangerschaft auf Probe" [12] immer mehr durch, wird zur Normalität. Das heißt, wenn der Testbefund günstig ist, dann wird die Schwangerschaft fortgesetzt und wir freuen uns auf den Familienzuwachs; andernfalls Abbruch und ein neuer, hoffentlich besserer Versuch.

 

Von der Pränataldiagnostik zur ­Präimplantations-Diagnostik

Und die Entwicklung geht weiter. Seit einigen Jahren gibt es die Präimplantations-Diagnostik, also die Untersuchung des Embryos auf genetische Gesundheit, jetzt schon vor der Einpflanzung in die Gebärmutter. Das ist, könnte man sagen, die "Zeugung auf Probe": eine Art ­vorverlagerter Normalitäts-Check. Davon erhoffen sich viele, gerade auch viele Mediziner, einen entscheidenden ­Vorteil. Denn die Belastungen eines Schwangerschaftsabbruchs lassen sich damit oft vermeiden, und dies auf ganz einfache Weise: indem im Fall eines genetischen Defekts die Schwangerschaft gar nicht mehr in Gang gesetzt wird. Deshalb, weil sie den Abbruch erspart, ist die Zeugung auf Probe weitaus ­weniger problematisch als die Schwangerschaft auf Probe, gerade auch aus ethisch-moralischen Gründen - so eine häufig vertretene Meinung.

In diesem Sinne hat der Mediziner Hermann Hepp die Präimplantations-­Diagnostik geradezu als "Lebensschutz" bezeichnet [13]. Hepp, und ähnlich viele andere Mediziner, auch die Bundesärztekammer, fordern deshalb die Zulassung dieses Verfahrens auch in Deutschland - selbstverständlich mit strengen Auflagen, beschränkt auf spezielle Fälle, also wohl die ganz schweren Erkrankungen ohne Therapiechance. Solche Vorschläge haben freilich einen entscheidenden Mangel: Sie berücksichtigen die bisherigen Erfahrungen aus dem Bereich der Medizintechnologie nicht.

Wenn man sich aber an diese Erfahrungen erinnert, liegt die Frage auf der Hand: Wie lange wird eine Beschränkung Bestand haben? Wann werden die Begehrlichkeiten stärker sein und sich durchsetzen?

Die Antwort können wir, zumindest in Ansätzen, schon heute erkennen: Bekanntlich ist die Präimplantations-Diagnostik in Deutschland verboten - jedenfalls noch. Aber dafür sind in anderen ­Ländern inzwischen viele einschlägig spezialisierte Kliniken entstanden, ob Spanien oder Türkei, ob Russland oder ­Kalifornien. Das sind Länder, die sich, so heißt es in den entsprechenden Werbetexten, durch eine "liberale" Gesetzgebung auszeichnen, welche "das Recht, Kinder zu haben, verteidigt" [14]. Und diese Liberalität, das kann man den einschlägigen Web-Seiten entnehmen, bleibt nicht stehen bei den immanent medizinischen Zwecken.

Vielmehr wird teilweise ganz offen auch Präimplantations-Diagnostik zum Zweck der Geschlechtswahl angeboten: Sohn oder Tochter, ganz nach Wunsch. Hier werden die medizinischen Ziele nur noch am Rande erwähnt, als Nebeneffekt: "Sie sollten die Gelegenheit nutzen, Ihr zukünftiges Kind auch auf Down-Syndrom oder andere genetisch-bedingte Krankheiten untersuchen zu lassen" [15].

Zukünftiges Kind - das klingt schön, aber täuscht über die Realität hinweg. Denn wenn eine Krankheit festgestellt werden sollte, dann wird dieses "zukünftige Kind" wohl nie ein wirkliches Kind. Dann wird es nicht implantiert und nicht geboren. Dann wird es nicht Sohn und nicht Tochter, sondern "Embryo-Abfall".

 

Literatur

1 Experten-Interview mit Jan Murken, zit. in: Jan Kuhlmann: Abtreibung und Selbstbestimmung. Die Intervention der Medizin , p. S. 126

2 Hepp H. Ethische Probleme am Anfang des Lebens. In: Honnefelder, L./Rager, G. (Hg.): Ärztliches Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik. Frankfurt: 1994, p. S. 267

Kohli M. Sonderband 8: Lebenslauf und Lebensalter als gesellschaftliche Konstruktionen. In: Matthes, J. (Hg.): Zwischen den Kulturen?. Göttingen: Soziale Welt 1992, p. S. 295

Daele W van den. Mensch nach Maß? Ethische Probleme der Genmanipulation und Gentherapie. München: 1985, p. S. 11

5 The Economist. 25. April 1992, p. S.11f. (ohne Autor)

6 Crichton M. Greater Expectations. The future of medicine lies not in treating illness but in preventing it. Newsweek 24. September 1990

7 Daele W van den. Das zähe Leben des präventiven Zwanges. In: Schuller, Alexander/ Heim, Nikolaus (Hg.): Der codierte Leib. Zur Zukunft der genetischen Vergangenheit. Zürich - München: 1989, p. S. 207f

8 Bräutigam H-H, Mettler L. Die programmierte Vererbung. Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnologie. Hamburg: 1985, p. S. 138

Beck-Gernsheim E. Die Kinderfrage heute. Über Frauenleben, Kinderwunsch und Geburtenrückgang. München: 2006

10 Häussler M. Von der Enthaltsamkeit zur verantwortungsbewußten Fortpflanzung. Über den unaufhaltsamen Aufstieg der Empfängnisverhütung und seine Folgen. In: Häussler, Monika et al. (Hg.): Bauchlandungen. Abtreibung - Sexualität - Kinderwunsch. München: 1983, p. S. 65

11 Interview-Aussage in Eva Schindele: Gläserne Gebär-Mütter. Vorgeburtliche Diagnostik - Fluch oder Segen. Frankfurt: 1990, p. S. 64

12 Katz-Rothman B. The Tentative Pregnancy. Prenatal Diagnosis and the Future of Motherhood. London: 1988

13 Hepp H. Zit. in: Widerspruch der Werte. Ärzte wollen Spätabtreibungen durch Präimplantationsdiagnostik verhindern. Süddeutsche Zeitung 28./29. April 2007 (ohne Autor)

14 Werbetext der Klinik Eugin, Barcelona/ Spanien, http://www.eugin.net/euginnet/infgeneral-detailext.aspx?id = info (26.02.2008). 

15 Werbetext der AVA-Peter Clinic, St. ­Petersburg/Russland, http://www.avapeter.com/sexselection/ (27.02.2008). 

Spiewak M. Nr. 41: Wie man in Deutschland geboren wird. DIE ZEIT 1.10.2003

Anschrift der Autorin:

Prof. Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim
Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Soziologie
Kochstr. 4
91054 Erlangen
e-Mail: Elisabeth.Beck-Gernsheim@soziol.phil.uni-erlangen.de





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