Donnerstag, 7. Oktober 2010

"Es ist bequem, mit den Wölfen zu heulen (...) [Gustav Heinemann (1971)] #Heinemann #Bundespraesident


Bürgermut

(...)

 

Wir haben gelernt, das der Staat kein höheres Wesen mit Anspruch auf

unterwürfigen Gehorsam ist.

 

(...)

 

Wir besitzen einen großartigen Freiheitsbrief in der Gestalt unseres

Grundgesetzes, das zum erstenmal in unserer Geschichte jedem von

uns unantastbare, jeder staatlichen Gewal vorgehende Freiheitsrechte

zuspricht.

 

Achten wir diesen Freiheitsbrief, und schöpfen wir seine Möglichkeiten aus?

 

(...)

 

Wir alle haben die Freiheit, nach unserem Gewissen zu leben.

 

Wir alle haben die Freihei, unsere Meinung zu äußern,

einschließlich der Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

 

(...)

 

Auch ich weiß, daß Recht und Wirklichkeit nicht immer übereinstimmen.

 

Wo es an Übereinstimmung, geht es darum, sie Schritt um Schritt herbeizuführen.

 

Auf der anderen Seite ist es aber auch so, daß wir uns selber in unserem

Freiheitsraum einengen, wo wir nicht mutig genug sind, wo wir nicht die

Zivilcourage haben, ihn auch gegenüber unserer Umgebung wahrzunehmen.

 

Die Grundrechte können uns wohl davor schützen, daß wir - wie unter dem

nationalsozialistischen Regime - wegen freier Meinungsäußerung mit dem

Verlust der Freiheit oder gar mit dem Leben zu bezahlen.

 

Sie können uns aber nicht gewährleisten, daß wir sie untereinander gelten lassen.

 

Im Umgang mit unseren Mitbürgern müssen wir alle selber unsere

Freiheit erkämpfen.

 

Was ich meine ist dies:

Es ist bequem, unangenehme Wahrheiten zu verscgweigen.

 

Es ist bequem, sich um eine Kindesmißhandlung in der Nachbarschaft

nicht zu kümmern.

 

Es ist bequem, mit den Wöfen zu heulen, wenn ein Wohngebiet sich gegen ein

neues Heim für körperlich oder für geistig behinderte Mitmenschen in seinem

Bereich wehrt, wie es auch unlängst in Bayern vorgekommen ist.

 

Bequem ist es ebenfalls, im Betrieb schweigend zuzusehen, wenn ein Gastarbeiter

wie ein minderwertiger Mensch behandelt wird.

 

In solchen und unzähligen anderen Fällen kommt es jeden Tag darauf an,

als einzelner nicht vor der Hürde stehenzubleiben, die da lautet:

Was tun die anderen, was tut man nicht?

 

Solidarität ist eine gute Sache, wenn sie in Hilfsbereitschaft für diejenigen

geübt wird, die selber nicht mithalten können.

 

Solidarität ist eine schlechte Sache, wo sie als ein gemeinsames Schweigen geübt

wird, anstatt beim Namen zu nennen, was man schlecht oder gefährlich hält.

 

Nur wer bekennt, findet den, der mit ihm bekennt.

 

Nur wer Bürgermut lebt, macht andere Bürger lebendig.

 

Sprechen wir also das, was wir denken oder meinen, auch dann aus,

wenn es unserer Umgebung nicht gefällt!

 

Wir wollen eine Gemeinschaft der Vielfalt sein.

 

Wo aber alle dasselbe denken, denkt wahrscheinlich niemand sehr viel.

 

Wo einer sich den Bürgermut nehemen läßt, etwas Gebotenes trotz

möglicher Schwierigkeiten zu tun, trägt er dazu bei, daß unsere

Freiheiten in Gefahr geraten.

 

(...)

[Bürgermut, Weihnachtansprache 1971 v. 24.12.1971, Gustav Heinemann,

Präsidiale Reden, edition suhrkamp, 2. Auflage, 1977, Seiten 201ff.]


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