Freitag, 10. August 2012

Zur »Strömungsdebatte« in der LINKEN [via schrf-links.de]


Zur »Strömungsdebatte« in der LINKEN

 

[via scharf-links.de]

 
 
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von Bundessprecherrat der Kommunistischen Plattform

Wohin man in letzten Wochen auch kam: Ob in Basisorganisationen oder auf Basistreffen, ob zu Landesparteitagen oder zu Begegnungen von Zusammenschlüssen, ob auf das Treffen der Linken in der Kulturbrauerei oder zur Antinazi-Demonstration am Strausberger Platz – wo immer man sich mit Genossinnen und Genossen unterhielt und unterhält – es geht um die Ergebnisse des Göttinger Parteitages, um die krisenhaften Tendenzen in der Partei und um die Ursachen hierfür. Und wenn es um die Ursachen geht, kann man darauf warten, dass der Begriff Strömung fällt – und dies nicht in positivem Zusammenhang.

Wir hielten es daher für notwendig, uns mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen. Dabei geht es uns nicht um eine theoretische Abhandlung über Strömungen als solche. Die sähe anders aus und müsste z. B. einen Exkurs in die Geschichte der Arbeiterbewegung implizieren. Wir betrachten in dieser Erklärung das Problem der Strömungen unter dem Aspekt ihrer Instrumentalisierung. Ihre permanente Skandalisierung dient der Verschleierung inhaltlicher Differenzen in der LINKEN. Differenzen, die einerseits offenkundig beseitigt werden sollen und die andererseits geleugnet werden. Diesen Schleier wollen wir ein wenig lüften und bitten um Verständnis dafür, dass dies einer gewissen Ausführlichkeit bedarf. Des Weiteren bitten wir unsere Leserinnen und Leser, unsere Erklärung zu vervielfältigen und in der Partei bekannt zu machen.

Auf einem Basistreffen am 21. Juni 2012 in Berlin Mitte war eines unüberhörbar: Die Genossinnen und Genossen haben genug davon, dass sich Protagonisten unserer Partei über die Medien mitteilen, was sie voneinander halten und sie haben genug von permanenten personalpolitischen Kungeleien, ganz gleich, von wem sie ausgehen. Auseinandersetzungen in inhaltlichen Fragen sind nicht zu umgehen. Wir sind eine plurale Partei, und es gibt unterschiedliche Auffassungen: So zu roten Haltelinien in puncto Regierungsbeteiligungen, zur Rolle der Opposition in der Gesellschaft, zur Einschätzung des Kapitalismus selber, zu den geltenden friedenspolitischen Prinzipien oder auch z. B. zur Geschichte.

Und die Konfliktlinien zu all diesen Fragen verlaufen nicht primär zwischen Protagonisten, Zusammenschlüssen oder den viel gescholtenen Strömungen; sie verlaufen vor allem zwischen den von antikapitalistischen Positionen getragenen Überzeugungen und somit Mehrheitsstimmungen an der Parteibasis und einem Teil der LINKEN-Führungskader in Vorständen und Parlamenten, die um der Möglichkeit einer Regie-rungsbeteiligung willen auch zu unzulässigen Kompromissen neigen. Diese Feststellung ist durch nunmehr beinahe zwanzig Jahre vorliegende einschlägige Erfahrungen belegt.

Gemeinsam auf der Grundlage des Parteiprogramms

Was alle akzeptieren müssen, wenn diese Partei nicht kaputtgehen soll, ist jedoch, dass die LINKE nicht durch Ausgrenzung eines Teils der Partei, sondern nur gemeinsam in ihrer Widersprüchlichkeit der selbst auferlegten Verantwortung gerecht werden kann. Das ist keine komfortable Situation; aber die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Linke kämpfen, sind auch alles andere als komfortabel.

Gerade in diesem Kontext hat die Programmdebatte zweierlei zugleich bewiesen: Erstens, dass es in der LINKEN prinzipielle Meinungsverschiedenheiten zu Kernfragen sozialistischer Politik gibt und zweitens, dass die Partei willens und in der Lage ist, diesen Differenzen zum Trotz Millionen Menschen in diesem Land, die über keine einflussreiche Lobby verfügen, eine Stimme zu geben. In Letzterem liegt die unverwechselbare Verantwortung der LINKEN, die Pflicht inbegriffen, mit Meinungsverschiedenheiten kulturvoll umzugehen und auch mit manchem sogenannten Formelkompromiss zu leben.

Wer zu Letzterem nicht bereit ist, kann nur zu dem Schluss gelangen, dass sich die vor-wiegend als antikapitalistisch verstehenden Teile der Partei von den sich als Reformer bezeichnenden Teilen trennen müssen – und umgekehrt. Das ist natürlich möglich. Nur wird es dann die LINKE nicht mehr geben und die Linken in Deutschland und Europa wüssten spätestens dann, was sie verloren haben und es nützte niemandem mehr, dann zu sagen: Das haben wir nicht gewollt.

Ist dies ein Aufruf zur Beliebigkeit? Ganz im Gegenteil. Das Optimum des Miteinanders in der LINKEN unter den gegebenen Bedingungen erfordert bei allen Widersprüchen in-haltlich eines: Die Arbeit auf der Grundlage des Parteiprogramms. Um es an einem signi-fikanten Beispiel zu verdeutlichen: Dass es in der LINKEN Befürworter und strikte Ab-lehner der Einzelfallprüfung von Militäreinsätzen gibt, kann nicht bedeuten, dass sich mal die einen und mal die anderen durchsetzen. Würde die Partei hinsichtlich der geltenden friedenspolitischen Prinzipien Kompromisse eingehen, so verzichtete sie auf ihr entschei-dendstes Alleinstellungsmerkmal. Und auch das wäre gleichbedeutend damit, DIE LINKE aufzugeben. Dass die KPF seit Beginn der Auseinandersetzungen um die friedenspolitischen Prinzipien (etwa 1996) den Standpunkt einnimmt, die Tür zu Militäreinsätzen dürfe niemals auch nur einen Spalt weit geöffnet werden, ist hinlänglich bekannt. Zugleich haben wir zu keinem Zeitpunkt verlangt, dass diejenigen die Partei verlassen, die hierzu eine andere Position einnehmen. Und wenn am nächsten Tag eine Antinaziaktion stattfand, dann haben wir Seite an Seite mit jenen gestanden, mit denen wir am Vortag über die Einzelfallprüfung gestritten hatten. Das ist die Dialektik unseres gemeinsamen Wirkens und geht so über zwei Jahrzehnte. Und die Situation, in der wir leben und kämpfen, verpflichtet uns, dass dies auch weiterhin so möglich gemacht werden muss – durch uns alle.

Inhaltliche Differenzen oder Strömungsquerelen?

Statt täglich neu darum zu kämpfen, dass die in der LINKEN unausbleiblichen Wider-sprüche immer wieder produktiv aufgelöst werden und die Anzahl der aus diesen Wider-sprüchen erwachsenden Konflikte so gering wie möglich zu halten, wird in der Partei zunehmend über Pseudolösungen diskutiert. Nicht inhaltliche Differenzen werden, wo nötig, benannt, sondern es ist vorwiegend die Rede davon, dass Strömungen die Ursachen für die Konflikte in der Partei seien, dass sich deren Sinn nicht erschließe und dass man sie – die Strömungen – am besten abschaffen sollte, damit die Flügelkämpfe und parteiinternen Querelen endlich aufhörten und die LINKE einheitlich und geschlossen in die bevorstehende Wahlkämpfe gehen könne. Die Strömungen, so sagen manche ohne jeden Beleg, machten etwa 10 % der Mitgliedschaft aus und gingen der 90 % ausmachenden Basis mit den von ihnen ständig ausgelösten Querelen auf die Nerven.

»Am feinsten«, so Emil Gött einmal, »lügt das Plausible«. Es erscheint einleuchtend, dass nicht zuletzt Protagonisten von sogenannten Strömungen die jüngste Krise in der Partei zu verantworten hatten – auch deshalb, weil Oskar Lafontaine vor Göttingen erklärte, er würde kandidieren, aber nicht im Rahmen einer Kampfkandidatur. Da klangen Dietmar Bartschs Äußerungen doch sehr plausibel, er habe keine Veranlassung, von seiner Kandidatur zurückzutreten, die er schließlich bereits im November 2011 angezeigt habe. Wen interessierten bei diesen Sachverhalten noch die Inhalte, die mit den beiden Kandidaturen verknüpft waren? Da ist auf der einen Seite der klare – und wir meinen – unbedingt notwendige Oppositionskurs Oskar Lafontaines, und da ist – unserer Auffassung nach – andererseits das von einigem Wunschdenken geprägte Verhältnis Dietmar Bartschs zu den Spitzen der Sozialdemokratie und zur von denen betriebenen Politik. Als Dietmar Bartsch seinerzeit seine Kandidatur bekannt gab, sagte er unter anderem: »Druck auf die SPD ausüben zu wollen, damit sich die wieder an ihre alten Tugenden erinnert, das ist keine Basis für dauerhaften Erfolg […] positive Veränderungen der Gesellschaft bekommen wir nicht allein hin. Zur Bundestagswahl 2013 muss DIE LINKE mit ihrer Politik präsent sein – eigenständig und bündnisfähig zugleich, mittendrin statt allein gegen alle.« Der KPF-Bundessprecherrat hat sich hierzu in einer Erklärung vom 30.11.2011 geäußert1.

Wen interessierte vor Göttingen noch, dass Thomas Falkner auf dem fds-Bundestreffen am 20. April 2012 gesagt hatte, die Gründung der LINKEN sei von Anbeginn destruktiv gewesen und dass eben auf jenem Treffen einstimmig für die Kandidatur von Dietmar Bartsch votiert wurde2. Auch hierzu hat sich der Sprecherrat der KPF polemisch geäußert3. Wen interessierte der alternative Leitantrag4 vieler Unterstützer der Bartsch-Kandidatur an den Göttinger Parteitag, in dem von neuen Dogmen die Rede war und tiefe Gräben beschworen wurden, verbunden mit dem Wunsch, beides in einer Kulturrevolution hinwegfegen zu wollen5. Wen interessierten da einen Tag nach Göttingen die Worte von Dietmar, er habe sein Hauptziel erreicht, Oskar Lafontaine an der Parteispitze zu ver-hindern6.

All das und mehr davon fand im Vorfeld bzw. unmittelbar nach Göttingen statt, maßgeblich getragen durch einen beträchtlichen Teil der Reformer. Tut nichts – im Gespräch war fast ausschließlich, dass Oskar keinen Gegenkandidaten wollte. Und da scheint es plausibel, dass all diese häufig ziemlich harschen fds-Äußerungen und entsprechende Personalabsprachen in den Hintergrund treten mussten, im Vergleich zu der von Oskar Lafontaine aufgestellten bereits erwähnten Bedingung für seine Kandidatur. Über Letzteres diskutierten allerdings auch nicht wenige Genossinnen und Genossen, die seiner politischen Linie aus guten Gründen und ehrlichen Herzens folgen und fest auf dem Boden des wesentlich von ihm mitgeprägten Parteiprogramms stehen. Summa summarum erschien es in den Augen sehr vieler Parteimitglieder einleuchtend, dass Protagonisten von Strömungen die Krise vor Göttingen zu verantworten hatten. Worum es bei dieser Krise inhaltlich tatsächlich ging und worum es auch im Vorfeld der Bundestagswahlen wieder gehen kann, verschwand hinter dem Rauchvorhang der Redereien über die verhängnisvolle Rolle der Strömungen in der LINKEN. Und dieses inhaltsleere Gerede nimmt kein Ende. In einem Interview der jungen Welt vom 3. Juli 20127 äußerte der neugewählte NRW-Landesvorsitzende Rüdiger Sagel im Zusammenhang mit Fragen nach Ursachen für die eklatante Niederlage bei den jüngsten Landtagswahlen unter anderem: »Das Gegeneinander der diversen Strömungen und personelle Streitigkeiten haben enorm dazu beigetragen, dass wir in der Öffentlichkeit nicht mehr so gut ankommen.« Worum es bei dem Gegeneinander der Strömungen konkret geht, sucht der interessierte Leser im Interview vergebens.

Weit mehr als charakterlich bedingte Streitereien

Und diese Strömungen werden weder von Sagel noch von anderen namentlich benannt – wobei das auch schwerfallen dürfte. Würde man z. B. das fds auf der einen Seite aufführen, welches ein Zusammenschluss ist (dazu an anderer Stelle mehr), und die KPF und die Sozialistische Linke auf der anderen Seite, ebenfalls Zusammenschlüsse, oder auch die Antikapitalistische Linke, so entstünde sofort die Frage nach den inhaltlichen Unterschieden. Wird aber abstrakt von diversen Strömungen geredet, so kommt die Frage nach Inhalten gar nicht erst auf, sondern es entsteht der Eindruck, irgendwelche eitlen oder sonstigen, rein charakterlich bedingten Streitereien seien allein verantwortlich für innerparteiliche Schwierigkeiten.

Durch den Streit der Strömungen sei in der Öffentlichkeit fast untergegangen, wofür die LINKE praktisch steht, berichtete die junge Welt am 8. Juni 2012 über ein Basistreffen in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg kurz nach Göttingen8. Ursache für die Streitigkeiten, so eine Protagonistin der LINKEN, seien die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Strömungen. Diese müssten überwunden werden9. Es fragt sich, was: Die Strömungen oder die Streitigkeiten?

Die Ursache für die Streitigkeiten sind, siehe oben – von allem schmückenden Beiwerk befreit – die Auseinandersetzungen. Mit anderen Worten: Die Ursache ist mit der durch sie hervorgerufenen Wirkung identisch. Um diese äußerst merkwürdige Identität zu überwinden, sollen, so im ND vom 22. Mai nachlesbar10, politische Angebote gemacht werden, »die konträr zu den bisherigen Strömungs-Schützengräben liegen«. Das alles klingt nicht nur diffus. Es ist diffus. Ebenso das unentwegte Gerede über Flügelkämpfe und angebliche Querelen – so als bestimmte irgendeine Ansammlung von Querulanten nörgelnd das Klima innerhalb der Partei. Wäre dies so, so müsste man lediglich die Nörgler in ihre Schranken verweisen und schon wäre die LINKE in einer unwiderstehlichen Verfassung. Die Frage sei wiederholt: Worum geht es den angeblichen Querulanten, welche Flügel sind gemeint und was wollen die Strömungen? Merkwürdigerweise macht sich niemand die Mühe, diese Fragen zu beantworten bzw. die Begriffe zu definieren. Es wird kaum angedeutet, wofür welche Strömungen eigentlich stehen und welche konkreten Dif-ferenzen sich daraus zwischen ihnen ergeben. Dadurch muss der Eindruck entstehen, Auseinandersetzungen in der Partei hätten mit substantiellen inhaltlichen Fragen nichts zu tun.

Dass Strömungen – wie immer man sie definiert – in der Satzung der Partei eigentlich nicht vorgesehen sind, findet keine Erwähnung. Doch wenn es sie nicht de facto gäbe, würden sich welche zusammentun, sie zu erfinden. Mit der Bemerkung, die Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag zu den Strömungen machte11, hat er Recht. Sie entwickelten sich »Schritt für Schritt zu Personalvertretungen bzw. Kaderkommissionen […] und meinen aussuchen zu können, wer wann wo auf welche Liste kommt, kandidieren darf etc.«.

Was Gregor nicht gesagt hat: Das Strömungswesen innerhalb der LINKEN haben nicht die marxistisch orientierten Kräfte in der Partei erfunden. Erstmalig mit dieser Mischung aus Realität und Fiktion wurden wir geballt auf der 1. Tagung des 4. PDS-Parteitages im Januar 1995 konfrontiert, als Mehrheiten dafür organisiert wurden, dass Sahra nicht wieder in den Parteivorstand gewählt wurde. Das ging nicht primär gegen Sahra als Person, sondern gegen die KPF als Ausdruck der in der PDS existierenden kommunistischen Traditionslinien. Viele wissen davon gar nichts, andere erinnern sich nicht mehr. Wir halten es für angebracht, in Erinnerung zu rufen, wann die Strömungsinszenierungen ihren Anfang nahmen, damit niemand auf die Idee kommt, sie seien der LINKEN entsprungen und die Regisseure kämen alle aus dem Westen bzw. aus dem antikapitalistischen Spektrum der Partei. Strömungen waren solange keiner kritischen Bemerkung wert, wie die Refor-mer primär das Kräfteverhältnis in der PDS bestimmten.

Exemplarisch hierfür steht eine Äußerung von Christoph Spehr12 vom Juni 200613: »Politische Parteien sind nicht notwendig ›strömungsrein‹. Meist umfassen sie eine hegemoniale politische Grundströmung und Teile anderer Strömungen. Dies ist für das Wirken der Partei nützlich und sinnvoll, da sie ein Stück der notwendigen äußeren Koordination bereits intern vorwegnimmt und die gesellschaftliche Kraft der Partei so erhöht.«

Es sind also nicht die Strömungen an sich, es ist die politische Linie, die passt oder eben auch nicht. Nun ist es – ob es einem gefällt oder nicht – über die Jahre, wie auch in anderen Parteien, üblich geworden, über Absprachen z. B. vor und auf Parteitagen Kräfte zu bündeln, um bestimmte inhaltliche Vorstellungen durchzusetzen und Personen zu bestimmten Funktionen zu verhelfen; übrigens nicht nur über Strömungen, sondern mindestens ebenso mit Hilfe ganzer Landesverbände. Strömungen sind informelle Strukturen, denen es um Einfluss in den gewählten Strukturen geht. Es liegt in ihrem Wesen, zu kungeln und wir sind sehr darauf bedacht, bei verschiedenen Zusammenkünften, von manchen gerne als Strömungstreffen bezeichnet, unsere Eigenständigkeit zu wahren und nicht in Kungeleien zu geraten.

Über die Skandalisierung der Strömungen die Zusammenschlüsse abschaffen?

Dass man die Strömungen abschaffen kann, ist eine Illusion. Man kann nicht abschaffen, was statutarisch gar nicht existiert. Es geht auch um etwas ganz anderes. Neben der schon erwähnten Tatsache, dass das Gerede über die Strömungen als solche dazu beiträgt, dass über Basisstimmungen häufig gar nicht mehr gesprochen wird, gibt es noch einen anderen Sachverhalt, der für die Parteientwicklung nicht unwesentlich sein wird. Weil Strömungen nicht selten so operieren, wie von Gregor Gysi beschrieben, erfreuen sie sich bei wesentlichen Teilen der Parteibasis keinerlei Beliebtheit, und das »Argument«, die Strömungen seien die Wurzeln allen Übels in der LINKEN, wird breit akzeptiert. Da es vielen Mitgliedern nicht bewusst ist, dass Zusammenschlüsse der Partei zunächst einmal keine Strömungen sind, trifft diese negative Stimmung auch die Zusammenschlüsse. In Anbetracht dessen, dass es seit der Vorbereitung des Erfurter Programmparteitages Anträge zur Änderung der Satzung gibt, die darauf zielen, den Zusammenschlüssen wesentliche statutarische Rechte zu nehmen, so das Recht auf Delegiertenmandate, kann sich diese Negativstimmung als sehr problematisch erweisen.

Hier ist einiges zur Stellung der Zusammenschlüsse in der LINKEN zu sagen. Im Statut ist im §7 geregelt: »Innerparteiliche Zusammenschlüsse können durch die Mitglieder frei gebildet werden. Sie sind keine Gliederungen der Partei. […] Bundesweit ist ein Zusammenschluss dann, wenn er in mindestens acht Landesverbänden entweder mindestens ein Zweihundertstel der Mitglieder repräsentiert oder entsprechend der Landessatzung als landesweiter Zusammenschluss anerkannt wurde. […] Bundesweite Zusammenschlüsse können Delegierte zum Parteitag entsenden.« Es gibt also – als offizielle Strukturen der Partei – Gliederungen und Zusammenschlüsse. Diese definieren sich nach territorialen bzw. inhaltlich-spezifischen Kriterien, ohne sich formal und in der Sache im Wege zu stehen. Im Gegenteil: Die sicherlich übergroße Mehrzahl der 16 % Parteimitglieder, die sich in den 26 bundesweiten Zusammenschlüssen engagieren (siehe Anlage), sind an der Basis der Partei ebenso organisiert und gehören auch dort nicht selten zu den Aktivisten.

Die Zusammenschlüsse gibt es seit den 90er Jahren. Einer der ersten war die am 31.12.1989 gegründete Kommunistische Plattform, heute der zweitgrößte Zusammenschluss. Ebenfalls Anfang der 90er Jahre folgten die AG Betrieb & Gewerkschaft, der heute größte Zusammenschluss, die Ökologische Plattform, DAS ANTIEISZEITKOMITEE und andere. Im Laufe der Zeit gründeten sich – bis in die Gegenwart hinein – neue Zusammenschlüsse. Manche wiesen oder weisen Parallelen zu bereits existierenden auf. Doch die »Alteingesessenen« haben sich nie darauf eingelassen, Neugründungen in Frage zu stellen. Primär war auch der KPF stets das Ansinnen, die Struktur der Zusammenschlüsse als unveräußerlichen Teil der Partei zu erhalten. Jegliche Form des Entsolidarisierens hätte dieses Ansinnen gefährdet – ob es hierfür einen rationalen Kern gegeben hätte oder nicht.

In der Geschichte unserer Partei wurde das bis heute existierende System der Zusammenschlüsse bereits dreimal prinzipiell in Frage gestellt. Der erste Anlauf wurde auf dem Statutenparteitag 1997 genommen, der zweite verband sich mit dem Entwurf einer AG/IG-Ordnung aus dem Jahr 2004. In beiden Fällen hatte die Absicht bestanden, Zusammenschlüsse in sogenannte »sachorientierte« und »ideologische« zu unterteilen und den sogenannten »ideologischen« ihre satzungsmäßigen Rechte zu nehmen, vor allem die Delegiertenmandate. Beide Versuche scheiterten ebenso wie der, im Rahmen der Fusion von PDS und WASG die Zusammenschlüsse generell faktisch abzuschaffen. Die geltenden statutarischen Regelungen wurden bereits erwähnt. Gegen den jüngsten Versuch, den Zusammenschlüssen über eine Änderung der Bundessatzung das Recht auf Delegiertenmandate zu nehmen (bzw. auf Delegierte mit beratender Stimme einzuschränken), hatte sich die BAG queer am 13. Januar 2012 in einem gemeinsam erarbeiteten Schreiben an alle Zusammenschlüsse gewandt, mit der Bitte, hier Widerstand zu leisten14. Diese Aufforderung ist nach dem Bundestreffen des fds vom April 2012 noch dringlicher geworden. In einem dort gefassten Beschluss15 heißt es: »Solange die Zusammenschlüsse Delegierte mit Stimmrecht entsenden dürfen, nimmt das fds dieses Recht ebenfalls in Anspruch. Das fds lädt jedoch andere Zusammenschlüsse ein, für den noch durchzuführenden Satzungsparteitag einen Antrag zu formulieren, der vorsieht, dass Zusammenschlüsse künftig nur noch beratende Delegierte sind.« Gegen diese Position muss die Solidarität der Mehrheit der Zusammenschlüsse organisiert werden.

Für die Kommunistische Plattform gilt, in Vorbereitung der Bundestagswahlen alles ihr Mögliche zu tun, damit die Auseinandersetzungen zu inhaltlichen Fragen, die es bei der Erarbeitung des Wahlprogramms naturgemäß geben wird, so kulturvoll wie möglich verlaufen. Unser entschiedenes Interesse gilt den bestmöglichen Bedingungen für einen Wiedereinzug unserer Partei in den Bundestag. An Kungeleien im Kontext mit Personalentscheidungen werden wir nicht teilnehmen. Für die Erhaltung der Rechte der Zusammenschlüsse werden wir kämpfen.

Berlin, Juli 2012

1 »Es gilt das Erfurter Programm von 2011. Fünf Überlegungen des KPF-Bundessprecherrates zur Erklärung von Dietmar Bartsch vom 30. November 2011«, Mitteilungen der KPF, Heft 1/2012
2 Siehe: www.forum-ds.de/article/2164.ergebnisse_des_bundestreffens2012.html
3 Ellen Brombacher: »Unter Führung von Sigmar Gabriel zu systemverändernden Schlachten?!«, Mitteilungen der KPF, Heft 5/2012
4 Ersetzungsantrag »Für eine neue Ära der Solidarität«, siehe: solidarischelinke.blogsport.de
5 Siehe: »Nicht hinter vorgehaltener Hand«, Erklärung des Bundessprecherrates der KPF vom 16.05.2012, Mitteilungen der KPF, Heft 6/2012
6 NDR 1 Radio MV: www.ndr.de/radiomv/programm/sendungen/nachmittag/bartsch125.html, abgerufen am 04.06.2012: »Herr Bartsch, [...] Sie haben am Wochenende eine der größten politi-schen Niederlagen Ihrer Karriere erlitten. Wie sehr schmerzt das jetzt?« Dietmar Bartsch: »Ich teile Ihre Einschätzung nicht, denn ich bin einigermaßen stolz auf dieses Ergebnis. Schauen Sie: Ohne meine Kandidatur wäre Oskar Lafontaine Parteivorsitzender. […] Natürlich hätte ich gern gewonnen. Das ist eine Niederlage, das ist zweifelsfrei so. Aber ich glaube, nur durch dieses Engagement, dass die Reformer endlich auch bei einer Wahlentscheidung bei einem Parteitag aufrecht geblieben sind – und da freue ich mich, dass es große Unterstützung aus meinem Landesverband gab – nur dadurch konnten wir dieses Ergebnis erzielen.«
7 Peter Wolter: »Wir müssen uns inhaltlich stärker profilieren. Ein Gespräch mit Rüdiger Sagel«, junge Welt, 03.07.2012
8 Elisa Brinai: »Bekümmerte Kümmerer. Nach Göttinger Parteitag soll sich der Blick nach vorn rich-ten. Besuch bei einem Linke-Basistreffen in Berlin«, junge Welt, 08.06.2012
9 Aert van Riel: »LINKE probiert einen Burgfrieden«, Neues Deutschland, 04.06.2012
10 Uwe Kalbe: »Jeder Sieg wäre ein Pyrrhussieg«, Neues Deutschland, 22.05.2012
11 Gregor Gysi: »DIE LINKE ist wichtig für die Menschen in Deutschland«, Rede auf dem Göttinger Parteitag, 2. Juni 2012
12 Dr. Christoph Spehr, Landessprecher der LINKEN Bremen, war im Jahr 2006 freier Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und seit Gründung der Emanzipatorischen Linken (Ema.Li) im Mai 2009 bis zum Oktober 2011 Bundessprecher der Ema.Li.
13 Christoph Spehr: »Bewegung, Strömung, Partei. Annäherungen an eine Theorie der Formen des Politischen – Schlussfolgerungen für linke Perspektiven heute«, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Spehr_BewegungStroemungPartei_d.pdf
14 »Argumentationspapier zur Arbeit der Zusammenschlüsse. Bundesarbeitsgemeinschaft DIE LINKE.queer«, Dokumentiert in: Mitteilungen der KPF, Heft 2/2012 – im Anschluss erneut aus-zugsweise dokumentiert
15 Siehe: www.forum-ds.de/article/2164.ergebnisse_des_bundestreffens2012.html
16 Quelle: Beschluss des Parteivorstandes vom 21.-23. Mai 2011 zum Delegiertenschlüssel des 3. Parteitages

Argumentationspapier zur Arbeit der Zusammenschlüsse
Bundesarbeitsgemeinschaft DIE LINKE.queer

Das Argumentationspapier basiert in seiner widerlegenden Argumentation auf den [ursprünglich an die 2. Tagung des 2. Parteitages in Erfurt gestellten] Anträgen der Mitgliederversammlung der Ortsverbände Treuen und Lengenfeld im Kreisverband Vogtland-Plauen, die zusammengefasst lauten:

»Wir sehen in der bisherigen Möglichkeit auch Ursachen für Tendenzen der Verselbständigung der Zusammenschlüsse und Profilierungsbestrebungen in öffentlichen Medien, die letztlich dem Gesamtbild unserer Partei schaden können ... Bei der Anerkennung der pluralistischen Herkunft, Zusammensetzung und Wirkung der Partei DIE LINKE muss ... ein einheitliches Wiedererkennungsbild für die Partei in der Öffentlichkeit geformt werden. Das kann am besten durch die Verankerung jedes Genossen in der gültigen Parteistruktur ... erreicht werden. Gerade die Mitglieder, die sich für einzelne Themenfelder interessieren und diese vertiefend bearbeiten, sollten ihre Erkenntnisse und ihr Wissen verstärkt in den BO/OV und Kreisverbänden austauschen. Die leider in den letzten Jahren festgestellten Tendenzen der Verselbständigung, die ja bis zur Teilung ›theoretischer‹ und ›praktischer‹ Vor-Ort-Parteiarbeit gehen, sollte nicht fortgesetzt werden. ... Es darf nicht sein, dass durch eigene stimmberechtigte Delegierte von Zusammenschlüssen die Zusammensetzung von Parteitagen nicht mehr dem Quer-schnitt der Gesamtpartei entspricht ...« […]

In dieser Argumentation wird vorausgesetzt, dass die in Zusammenschlüssen tätigen Genoss_innen ihre diesbezüglichen Aktivitäten isoliert vom Leben der Parteibasis gestalten.

Dieser Ansatz impliziert, nicht wahrzunehmen, dass ein großer Teil der Genoss_innen in Zusammenschlüssen und ebenso an der Parteibasis aktiv sind und daher vor allem ein doppeltes Pensum zu bewältigen haben.

Jegliches moralisierende Argumentieren ist somit zumindest infrage gestellt: Die angebliche Ungleichbehandlung, faktisch in zwei Parteigliederungen kandidieren zu können, wird zur Gleichberechtigung, wenn konstatiert werden kann, dass dieser ein doppeltes Arbeitspensum zugrunde liegt. Diese Vorgehensweise ist in unserer Partei seit 21 Jahren nicht nur akzeptiert und wurde – in diesem Zeitrahmen – durch die Satzung der fusionierten Partei bestätigt, sondern hat sich auch als hohes basisdemokratisches, schützenswertes Gut bewährt. Auch ist seither nichts Erkennbares geschehen, was eine Veranlassung böte, diesen Sachverhalt zu ändern.

Nun wird unterstellt, es gäbe Tendenzen der Verselbständigung der Zusammenschlüsse, die das Gesamtansehen der Partei beschädigen könnten. Wer ist damit gemeint? Die Ökologische Plattform, die BAG Betrieb und Gewerkschaft, die BAG Rote Reporter, die BAG LISA, die Senioren-AG, die BAG Bildungspolitik, die BAG queer, die AG Ständige Kulturpolitische Konferenz oder die BAG Hartz IV, um nur einige zu nennen? Natürlich könnte jetzt der Verdacht entstehen, dass es sich um den einen oder anderen Zusammenschluss handelt, dessen Arbeit in der persönlichen Wertschätzung nicht einen elementaren und notwendigen Stellenwert einnimmt. Sollte diese Annahme stimmen, dann wäre es transparenter, auszusprechen, wer eigentlich gemeint ist, und damit zu untermauern, dass die Aussagen der Antragsteller zutreffend sind.

Die Debatten, die der Partei vor allem in den ersten acht Monaten vor dem Erfurter Parteitag ernsthaft geschadet haben, gingen nicht zuvörderst zulasten der Zusammenschlüsse, nicht einmal zulasten der sogenannten Strömungen, die ohnehin über keine Delegiertenmandate verfügen. Man kann diese Debatten einzeln analysieren und personell festmachen, wer in der Partei hier welche Rolle gespielt hat, und man wird mit Sicherheit zu dem Schluss kommen, dass hier die oberflächliche Schuldzuweisung an Zusammenschlüsse nicht den Realitäten entspricht. […]

Der Standpunkt, dass es nicht sein dürfe, dass durch eigene stimmberechtigte Delegierte von Zusammenschlüssen die Zusammensetzung von Parteitagen nicht mehr dem Querschnitt der Gesamtpartei entspricht, ist nun wirklich nicht zielführend. Bei allem Respekt vor den älteren und alten Genossen: Wie sähe der Parteitag aus, wenn er dem Altersprofil der Partei entspräche? Hier liegt die bei weitem größte Altersgruppe zwischen 56 und 65 Jahren. Oder, wie sähe der Parteitag aus, wenn nur 37,3 % der Delegierten Frauen wären, was dem Frauenanteil in der Gesamtpartei entspräche? Ist mit dieser Feststellung etwa gemeint, dass die Zusammenschlüsse nicht wirklich zur Partei gehören und daher den Querschnitt der Gesamtpartei nicht mit repräsentieren? Wer das meint, muss ganz andere Fragen aufwerfen, als die nach den Delegiertenmandaten: Die Frage nach der Existenzberechtigung von Zusammenschlüssen in der LINKEN überhaupt, die Frage nämlich nach dem pluralen Charakter der Partei.

Wir wollen, dass die 21-jährige Praxis, dass Zusammenschlüsse ihre eigenen Delegier-tenmandate erhalten, beibehalten werden soll!

1. Zusammenschlüsse decken seit Ende 1989 gewolltermaßen spezifische Interessen der Partei ab. Dafür müssen sie eine Stimme haben. Dazu gehören neben den Möglichkeiten der Publikation in parteinahen Zeitungen oder Zeitschriften, der Organisierung von Veranstaltungen und Ähnlichem auch die Möglichkeiten, diese spezifischen Interessen auf Parteitagen mit Sitz und Stimme vertreten zu können. Nähme man den Zusammenschlüssen diese Möglichkeit, so beschränkte man deren Rolle in der Partei elementar.

2. Dass Mitglieder von Zusammenschlüssen in jedem Falle zweimal kandidieren können, ist formal richtig, in praxi jedoch anders geartet. Wer an der Parteibasis nicht in Erscheinung tritt, dafür aber aktiv in einem Zusammenschluss arbeitet, hat an der Basis keinerlei Wahlchance. Wer formal in einem Zusammenschluss ist und an der Basis ebenso wenig in Erscheinung tritt, hat – wenn er nicht gepuscht wird – so oder so keine Chance, gewählt zu werden. Wer formal in einem Zusammenschluss ist und an der Basis aktiv, hat im Zusammenschluss keine Wahlchance. Wer jedoch auf beiden Ebenen aktiv arbeitet, ist u. E. nicht privilegiert, wenn er über zwei Möglichkeiten der Kandidatur verfügt. Diese Überlegungen sind sekundär im Verhältnis zu der unter Punkt 1 formulierten Begründung, warum die Praxis beibehalten werden sollte, die in der Partei seit über zwanzig Jahren gut erprobt ist.

Berlin, den 13. Januar 2012, für den Bundesprecherinnenrat queer
Christian Stähle, Bundessprecher

Folgende bundesweite Zusammenschlüsse haben ihr Wirken dem Parteivorstand angezeigt und erfüllen die Kriterien nach §7(2) Satz 1 der Bundessatzung 

 

Zusammenschluss
Mitglieder per 31.12.201016
AG Agrarpolitik und ländlicher Raum
122
AG Betrieb und Gewerkschaft
1716
BAG Bildungspolitik
284
BAG Bürgerrechte und Demokratie
298
AG Cuba Sí
597
AG Ethnische Minderheiten
unter 250
BAG Frieden und Internationale Politik
541
Forum Demokratischer Sozialismus
464
Geraer Sozialistischer Dialog
173
BAG Gesundheit und Soziales
337
BAG Grundeinkommen
696
BAG Hartz IV
819
Kommunistische Plattform
1227
ArGe Konkrete Demokratie–Soziale Befreiung
ca. 170
BAG Linke Unternehmerinnen und Unternehmer
411
AG Lisa
508
BAG Migration, Integration und Antirassismus
(gegründet am 31.03.2012)
Ökologische Plattform
450
BAG Die Linke.queer
372
BAG Rechtsextremismus-Antifaschismus
66
BAG Rote ReporterInnen
741
BAG Selbstbestimmte Behindertenpolitik
unter 250
BAG Senioren
927
Sozialistische Linke
762
BAG Städtebau- und Wohnungspolitik
163
Ständige Kulturpolitische Konferenz

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