Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit werden in den EU-Staaten die Arbeitsbeziehungen und Sozialsysteme weiter dereguliert, vulgo: »reformiert«. Den Deckmantel bieten Konstrukte wie »Rettungsschirme«, »Schuldenbremse« und »Fiskalpakt«. Tarifverträge werden ausgehebelt, Löhne und Renten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert, befristete Verträge gefördert, der Kündigungsschutz weiter gelockert. Gleichzeitig wird der öffentliche Dienst weiter geschrumpft und privatisiert
Angeblich sollen so Staatsschulden verringert und das wirtschaftliche Wachstum wieder angekurbelt werden. Doch die Ergebnisse sind, wie schon bei den »Deregulierungen« zuvor, ganz andere. Stefan Clauwaert und Isabelle Schömann haben für das Europäische Gewerkschaftsinstitut eine europaweite Auswertung erstellt. Das Fazit: »Ungleichheit und Unsicherheit nehmen explosionsartig zu«; die jetzt noch zahlreicheren prekären Arbeitsverhältnisse bleiben prekär und führen nicht zu mehr Beschäftigung und nicht zu höherem Wachstum. Ja, es ist sogar kein kausaler Zusammenhang zwischen den Reformen und den Zielen von Rettungsschirmen, Schuldenbremse und Fiskalpakt erkennbar. Sie dienen nur als Vorwand«.1)
Antreiber Troika
Die EU und die Regierungen, allen voran die deutsche (Hartz-Gesetze), haben lange vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 mit dem Aushöhlen des Arbeitsrechts und der Arbeitsverhältnisse begonnen. Die Krise musste dann als neue Gelegenheit herhalten. So erklärte die Europäische Kommission 2010: »Mit den Flexicurity-Strategien können die Arbeitsmärkte am besten modernisiert werden, sie sind zu überarbeiten und an die Situation nach der Krise anzupassen.« Mit Schuldenbremse und Fiskalpakt geht es weiter.
Sichtbare Antreiber auf internationaler Ebene sind die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und der Internationale Währungsfonds (IWF), also die sogenannte Troika. Sie schlägt dort zu, wo finanzielle Hilfen hinfließen. Dabei wird gezielt undemokratisch vorgegangen: Die Troika drückt mit der jeweiligen Regierung ein »Memorandum of Understanding« (MoU) durch, so etwa in Griechenland, Spanien, Portugal, Rumänien, Lettland an den Parlamenten vorbei.
Angriffspunkte
Die neuen Deregulierungen finden vor allem in vier Bereichen statt: Arbeitszeit, atypische Beschäftigungsformen, Kündigungsregeln und Tarifverhandlungssysteme. Dabei scheuen Regierungen und Troika auch vor Rechtsbrüchen nicht zurück.
- Arbeitszeit: In vielen Staaten wurde die Zahl der zulässigen Überstunden erheblich erhöht, zugleich wurde der Bezugszeitraum für die Berechnung des Überstundenausgleichs verlängert. Im MoU, das die Troika mit der portugiesischen Regierung vereinbart hat, heißt es: Alle Überstundenzuschläge werden um 50 Prozent gekürzt, Überstunden dürfen nicht mehr durch Freizeit ausgeglichen werden. In Ungarn wurde die Jahreshöchstgrenze für Überstunden von 200 auf 300 angehoben. In Polen können Unternehmen die Arbeitszeit und den Lohn kürzen sowie die Beschäftigten bis zu sechs Monate in geringer bezahlten »Untätigkeitsurlaub« schicken. In mehreren Staaten wurden neue Varianten von Kurzarbeit eingeführt.
- Atypische Beschäftigung: Im Sinne von Flexicurity (Flexibilität verbunden mit angeblicher Sicherung des Arbeitsplatzes) werden befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit und Leiharbeit weiter der unternehmerischen Willkür unterworfen (»flexibler«) und neue Arten von atypischen Arbeitsverträgen entwickelt. In Tschechien, Griechenland, Portugal, Rumänien, Spanien, Polen, Slowenien und den Niederlanden können befristete Verträge häufiger als bisher hintereinander geschaltet werden. Besonders für junge Menschen wurden weitere Versionen prekärer Beschäftigung eingeführt. Dank »Jugendvertrag« in Griechenland können Menschen bis 25 Jahre mit einem um 20 Prozent niedrigeren Lohn eingestellt werden, die Probezeit beträgt zwei Jahre, die »Arbeitgeber« leisten keine Sozialabgaben, und am Ende des Vertrags besteht kein Anspruch auf Arbeitslosengeld. In Spanien wurde für Menschen ohne Qualifikation im Alter zwischen 25 und 30 Jahren (in Ausnahmen bis 34) ein Vertrag der dualen Berufsausbildung eingeführt, wobei die Firmen auch bei einer Übernahme in ein Arbeitsverhältnis weitgehend von Sozialbeiträgen befreit sind.
- Kündigungsregeln: Zahlreiche Regierungen haben die wirtschaftlichen Gründe weiter gefasst, mit denen die Unternehmen Einzel- und Massenkündigungen vornehmen können. Die Fristen wurden verkürzt, die Verpflichtungen zur Unterrichtung der Beschäftigtenvertreter wurden gelockert, die zum Erstellen von Sozialplänen eingeschränkt. Abfindungszahlungen wurden abgesenkt. Die britische Regierung ist hierbei besonders aggressiv, sie schränkte zudem den Zugang zu den Arbeitsgerichten ein, indem dort Gebühren fällig werden. Diese Gebührenpflicht besteht inzwischen auch in anderen Staaten.
- Tarifverhandlungssysteme: Insbesondere in den »Südländern« Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, aber auch in osteuropäischen Ländern, werden die bisher im klassischen Arbeitsrecht geltenden Tarifverhandlungssysteme unterlaufen: Dezentralisierung ist das Motto. Die Verhandlungen werden von der nationalen- auf Branchen- und vor allem auf die einzelbetriebliche Ebene verlagert. Schlechtere Tarifverträge auf unterer Ebene brechen Verträge höherer Ebene. Juristen bezeichnen das als reformatio in pejus (die schlechtere Lösung gilt). Neben den Gewerkschaften müssen nun auch »andere Arbeitnehmervertretungs-Organe« als Verhandlungspartner anerkannt werden, also »gelbe« (arbeitgeberloyale und/oder arbeitgebergeförderte) Gewerkschaften und Belegschaftslisten.
Die Troika schert sich nicht um Demokratie. Im MoU mit der griechischen Regierung heißt es: Die Regierung wird »die Kündigungsschutzvorschriften ändern und die Probezeit bei Neueinstellungen auf ein Jahr verlängern, das Gesamtniveau der Abfindungszahlungen bei Entlassungen verringern und den Einsatz von befristeten Arbeitsverträgen und Teilzeitarbeit erleichtern.« Damit wird nicht nur in bestehende Tarifverträge eingegriffen, sondern auch in nationale Gesetze zur Tarifautonomie. Clauwaert und Schömann weisen vorsichtig darauf hin, dass wir es hier mit Rechtsbrechern zu tun haben: Sie verstoßen gegen die EU-Grundrechte-Charta und die von den EU-Regierungen anerkannten Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der UNO. Auch einschlägige und rechtsgültige EU-Richtlinien wie die von 1999 zu befristeten Verträgen werden umgangen.
Mit noch mehr prekären Arbeitsverhältnissen lassen sich keine öffentlichen Haushalte sanieren, sie führen eher zu höheren Belastungen. Es geht also bei Rettungsschirmen, Schuldenbremse, Fiskalpakt und ähnlichen Instrumenten gar nicht wesentlich um das behauptete Ziel »Sanierung der Staatsfinanzen«, sondern um die finanzielle, rechtliche und moralische Entmachtung und Enteignung der Beschäftigten und Unbeschäftigten zugunsten der mächtigen Privateigentümer. Hinzu kommt die entsprechende Deregulierung der Sozialsysteme, der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Infrastruktur. Dementsprechend muss auch der Widerstand gegen Schuldenbremsen, Bankenrettungsschirme und Fiskalpakt gestaltet werden.
1) Europäisches Gewerkschaftsinstitut: Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten eine Bestandsaufnahme in Europa. Brüssel 2012 (working paper 2012.04 / download als pdf). Deutschland ist ohne Begründung aus der Untersuchung ausgenommen.
Quelle
http://www.jungewelt.de/2012/07-25/023.phpPosted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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