Mittwoch, 15. September 2010

Die Hartz IV-Republik - Unternehmer kassieren, Arbeitnehmer verlieren [Panorama v. 06.09.2007]


PANORAMA Nr. 687 vom 06.09.2007  

 

Die Hartz IV-Republik – Unternehmer kassieren, Arbeitnehmer verlieren

 

Anmoderation Anja Reschke:

 

 "Wer heutzutage nicht arbeitet, der will auch nicht.

 

Diese Meinung ist in den letzten Jahren eigentlich die, die man so zu haben hat.

 

Wer heute noch Gewerkschaften gut findet und Arbeitnehmerrechte fordert, gilt als ewig gestriger.

 

Heute gilt es als Zeichen für Erfolg, lange zu arbeiten, nicht krank zu sein und im Fall der Fälle, auch jeden Job anzunehmen.

 

Das ist Zeitgeist.

 

Den auch die Politik längst atmet.

 

Schließlich lautet die Devise von Hartz IV: Fördern und Fordern.

 

Und: hat ja geklappt, das Fordern.

 

Die Arbeitslosenzahlen gehen stetig nach unten.

 

Wir von PANORAMA wollten heute mal gegen den Zeitgeist gehen.

 

Denn diese tolle neue Arbeitswelt ist eigentlich nur für Arbeitgeber toll.

 

Weil Rechte von Arbeitnehmern nichts mehr gelten.

 

Tamara Anthony, Ben Bolz und Maike Rudolph über Ausbeutung und unfaire Bedingungen und eine Politik, die das noch bestärkt."

 

Sie haben endlich den Mut zu reden, auch wenn sie unerkannt bleiben wollen. Vor Monaten waren diese beiden Frauen noch Aushilfskräfte in einer Bäckerei. Nicht in dieser, sondern bei einer großen Kette. Dort wurden sie ausgenutzt. Erst mal keine Lohnfortzahlung bei Krankheit und Urlaub gab es auch nicht, erzählt die eine.

 

O-Ton Arbeitnehmerin:

"Deswegen haben wir unseren Urlaub vorgearbeitet beziehungsweise hinterher nachgearbeitet, so dass wir eigentlich keinen Urlaub hatten. Und bezahlt wurde der ja sowieso nicht."

 

Hier war sie beschäftigt: in einer von über 150 Filialen der Bäckerei Sondermann. Aushilfen haben Anrecht auf bezahlten Urlaub. Doch der wird bei Sondermann nicht immer gewährt. Ein Verstoß gegen das Arbeitsrecht, den die Geschäftsführerin noch nicht einmal leugnet.

 

O-Ton Nicole Sondermann, Sondermann Brot GmbH: "Das ist möglich, dass das im Einzelfall passiert ist. Leider."

 

PANORAMA: "Das ist aber  gegen das Gesetz."

 

O-Ton Nicole Sondermann, Sondermann Brot GmbH: "Ja."

 

PANORAMA: "Also, Sie haben wissentlich gegen das Gesetz verstoßen?"

 

O-Ton Nicole Sondermann, Sondermann Brot GmbH: "Wissentlich möchte ich jetzt auch abwehren zu sagen. Sondern wir haben betriebswirtschaftlich gehandelt."

Betriebswirtschaftlich - das heißt: Profit auf Kosten der Arbeitnehmer. Und die wenigstens setzten sich zu Wehr. 

 

O-Ton Prof. Rudolf Nickel, Wirtschaftswissenschaftler: "Es gilt nämlich so das Motto: egal welcher Job, Hauptsache du hast einen Job. Und es hat wirklich zu einer Verwahrlosung der Arbeitswelt geführt, so nach dem Motto: bevor du arbeitslos wirst, musst du jeden Job annehmen. Und Hartz IV hat genau diese Ängste unglaublich ausgeweitet."

Jede Arbeit ist zumutbar, Billigjobs boomen, die Politiker feierten den Wandel.

 

O-Ton Gerhard Schröder, ehem. Bundeskanzler, 16.08.2002: "Ich verspreche mir einen neuen Geist in der gesellschaftlichen Debatte dieses Problems. Einen neuen Geist, der zusammenführt, der anstiftet zu mehr Gemeinsinn."

 

Die Druckerei Bode in Herford. Auch hier werden Aushilfs- und Teilzeitkräfte zum Teil schamlos ausgebeutet. Weder Krankheitsgeld noch Urlaubsgeld bezahlt der Chef. Gearbeitet wird auf Abruf. Wir treffen jemanden, der diese Zustände miterlebt hat. Aus Angst will die Person unerkannt bleiben.

 

O-Ton Arbeitnehmer: "Die Aushilfskräfte haben nichts besseres. Sie sind wirklich auf diese Arbeit angewiesen. Sie haben keine andere Chance überhaupt arbeiten zu können. Und dann besser einen schlechten Job als gar keinen. Sie sind noch dankbar, dass sie überhaupt Arbeit haben."

 

Dankbarkeit für einen derartigen Vertrag: schwarz auf weiß steht hier zum Thema Krankheit "Lohnfortzahlung besteht nicht." Und auch bei Urlaub: "kein Aspruch".

 

O-Ton Frank Riedel, Arbeitslosenzentrum Herford: "Ich habe gedacht, eine riesengroße Sauerei. Das ist die Situation eines Menschen derartig auszunutzen und die Verzweiflung einer Person irgendwie in Arbeit zu kommen, irgendwie in Arbeit kommen zu müssen, diese einfach hemmungslos auszunutzen, indem man solche gesetzlichen Mindestvorgaben wie das Recht auf Urlaub oder das Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ein Recht auf Beschäftigung einfach aus dem Arbeitsvertrag rausstreicht."

 

Ein Interview vor der Kamera lehnt Firmenchef Bode gegenüber PANORAMA ab. Nur so viel: Die Vorwürfe stimmen, er habe eben betriebswirtschaftlich gehandelt. Wie war das gleich noch mit den viel gepriesenen Arbeitsmarktreformen?

 

O-Ton Angela Merkel, Bundeskanzlerin, 01.06.2006: "Wir müssen sehen, dass jetzt die Anreizsysteme richtig funktionieren und dass der Slogan Fordern und Fördern wirklich wahr wird."

Sie wurde nur gefordert , vier Jahre lang.

Drei Stunden hat sie täglich geputzt für 349 Euro im Monat. Auch sie bekam weder Urlaub noch Lohnfortzahlung bei Krankheit, erzählt sie.

 

O-Ton Arbeitnehmerin: "Das ein Minijob auch Anspruch hat auf drei oder vier Wochen Urlaub wusste ich nicht. Woher, wer soll das alles wissen? Aber er hätte das alles wissen müssen als Chef. Er hat aber nie was gesagt."

Ihr ehemaliger Chef bestreitet die Vorwürfe mit einer dreisten Behauptung.

 

PANORAMA: "Warum gewähren Sie kein Urlaubsgeld?"

Posted via email from Beiträge von Andreas Rudolf

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