Sonntag, 25. September 2011

Zur Vertiefung!! -->>Über die #Zurichtung v. #Arbeitskraft im #Zeitalter #des #Neoliberalismus [Michael Wolf in Grundrisse]

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Über die Zurichtung von Arbeitskraft im Zeitalter des Neoliberalismus

Was haben ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV gemein?





Im Sommer
vergangenen Jahres erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, in dem
Gustav Seibt
sich mit der Frage befaßt, ob die ›Bologna-Prozeß‹ genannte
Hochschulreform nicht dem gleichen »Geist« (Seibt 2009) entstammt wie die
Hartz-IV-Reform.
Seibts Antwort ist ein unmißverständliches Ja. Und doch
ist sie etwas unbefriedigend, da er sein Ja mehr assoziativ denn systematisch
begründet, was aber nicht heißt, daß Seibts Überlegungen nicht
Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können. Im Gegenteil. Sobald man sich
der Mühe unterzieht, sich mit Seibts These etwas intensiver
auseinanderzusetzen, kommt man nicht umhin einzugestehen, daß zwischen der
Hochschul- und Arbeitsmarktreform ein innerer Zusammenhang existiert. Die
hierbei interessierende Frage ist allerdings, worin genau die Gemeinsamkeiten
beziehungsweise der Zusammenhang von ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV besteht und
wie sich die Existenz des inneren Bandes, das beide Reformen verbindet, erklären
oder, genauer formuliert, begründen läßt. Die nachfolgenden Ausführungen sind zu
verstehen als ein erster und vorläufiger Versuch, eine systematisch angelegte
Antwort auf die aufgeworfene Frage zu geben, der seine Unabgeschlossenheit weder
leugnen kann noch will.



Wenn die hier
angestellten Überlegungen den Titel »Über die Zurichtung von Arbeits­kraft im
Zeitalter des Neoliberalismus« tragen, so um zu signalisieren, daß die
Beantwor­tung der Frage nach den Gemeinsamkeiten von ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz
IV nicht auf direktem Wege zu haben ist durch einen Vergleich beider Reformen.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn wer die Umbruchstendenzen in der Bildungs- und
Sozialpolitik adäquat erfassen und ausreichend erklären will, wird dies nicht
können ohne Rückgriff auf die markt- und produktionsökonomischen
Restrukturierungsprozesse in den Unternehmen und auf die sie begleitenden
politisch-ideologischen Begründungen, wie sie von Seiten der Apologeten des
Neoliberalismus geliefert werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, sich etwas
eingehender mit der Frage zu befassen, inwieweit den veränderten Formen der
Arbeits- und Betriebsorganisation auch eine veränderte Subjektivierungsform
korrespondiert, worunter hier das Geformtwerden und das Sich-selbst-Formen der
Subjekte verstanden werden soll. Und last but not least ist es
selbstverständlich unabdingbar, sich der Frage zu widmen, welche Funktion der
Bildungs- und Sozialpolitik im Rahmen marktvermittelter Vergesellschaftung
zukommt. Mit dem letztgenannten Punkt soll begonnen werden, wobei es allerdings
ratsam erscheint, nur auf jene Aspekte einzugehen, die im hiesigen Kontext von
Relevanz sind.




II: Bildungs- und Sozialpolitik



In einer nach dem
Prinzip kapitalistischer Warenproduktion organisierten Ökonomie ist die
Sicherung der individuellen Existenz der Arbeitskraftbesitzer strukturell mit
Lohnarbeit als dem normalen Modus der Arbeitskraftreproduktion verknüpft. Das
heißt, in der Regel sind Arbeitskraftbesitzer gehalten, ihre Arbeitskraft auf
einem eigens dafür vorgesehen Markt, dem Arbeitsmarkt, zu verkaufen, um über den
Weg des Tausches Arbeitskraft gegen Lohn ihre Reproduktion sicherzustellen. Aus
diesem Grund erscheint ihnen die Gefährdung der Tauschvoraussetzungen etwa wegen
Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Alter oder fehlender Qualifikation
auch als Gefährdung der Arbeitskraftreproduktion selbst. Da nun, soziologisch
gesehen, wenig dafür spricht, daß subsistenzmittellose Individuen ihre
Arbeitskraft gewissermaßen spontan oder aber allein aufgrund des »stumme[n]
Zwang[s] der ökonomischen Verhältnisse« (Marx 1977: 765) auf dem
Arbeitsmarkt zum Kauf anbieten, ist die Lohnarbeiterexistenz eine sozial und
kulturell äußerst voraussetzungsvolle Form menschlicher Existenz. Deswegen muß
sie auch, wenn sie eine zentrale Rolle bei der Organisation der persönlichen
Existenz spielen soll, in aufwendigen Prozessen auf der Ebene der
Sozialintegration als »Pflicht normiert« und auf der Ebene der Systemintegration
als »Zwang installiert« (Offe 1983: 51) werden.


Mit Bezug auf
diesen Hintergrund können Bildungs- und Sozialpolitik begriffen werden als
politisch institutionalisierte Reaktion auf das für kapitalistisch-marktförmig
verfaßte Gesellschaften stets prekäre Problem der gesellschaftlichen
Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses. Dieses Problem hat zwei Seiten:
Zum einen geht es um die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft
und um die Sicherstellung ihrer Austauschbarkeit, was im
sozialwissenschaftlichen Jargon ›Kommodifizierung‹ genannt wird. Dies geschieht
a) dadurch, daß Kenntnisse und Fertigkeiten (Stichwort ›Qualifikation‹)
vermittelt werden, die auf den konkreten Arbeits- und Produktionsprozeß
ausgerichtete sind. Und es erfolgt b) dadurch, daß jene individuellen
Verhaltensdispositionen und Einstellungen (Stichwort ›Sozialisation‹) erzeugt
werden, die die Arbeitskraftbesitzer zu ihrer sozialen Integration in das System
der gesellschaftlichen Arbeit benötigen. Zum anderen geht es um die
Rücknahme der Warenförmigkeit, also den der Kommodifizierung entgegengesetzten
Prozeß, kurz ›De-Kommodifizierung‹ genannt. Dieser zielt erstens darauf,
die Marktgängigkeit von Arbeitskraft wegen vorübergehender Beschädigung (sprich
Krankheit) oder wegen unzureichender Qualifikation wiederherzustellen
beziehungsweise beständig aufrechtzuerhalten. Und er zielt zweitens
darauf, dem Verkaufszwang von Arbeitskraft wegen zeitweiliger oder dauerhafter
Entbehrlichkeit (sprich Arbeitslosigkeit beziehungsweise Alter) oder wegen
anderweitigem gesellschaftlichen Bedarfs (sprich Aufzucht von Kindern)
institutionelle Grenzen zu setzen.


Mit anderen
Worten: Kommodifizierung und De-Kommodifizierung sind zwei Seiten ein und
derselben Medaille und tragen gemeinsam zur Bewältigung des Problems der
Kon­stitution und kontinuierlichen Reproduktion des Lohnarbeitsverhältnisses
bei, und zwar indem sie einerseits die marktförmige Verausgabung von
Arbeitskraft ermöglichen und erzwingen und andererseits selektiv Dispens
vom Verkaufszwang erteilen. Da dies jeweils mit Mitteln und in Formen und
Ausmaßen geschieht, die dem Wandel der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen
geschuldet sind, bedeutet dies, daß sich Bildungs- und Sozialpolitik in Wellen
bewegen a) der Ermöglichung beziehungsweise Erzwingung des Tausches Arbeitskraft
gegen Lohn (sprich Kommodifizierung), b) der zeitweiligen Aussetzung des
Tausches Arbeitskraft gegen Lohn (sprich De-Kommodifizierung) und schließlich c)
der Rückkehr zur Erzwingung (sprich Re-Kommodifizierung) des Tausches
Arbeitskraft gegen Lohn.


Obwohl Bildungs-
und Sozialpolitik konstitutiv für die gesellschaftliche Verallgemeinerung des
Lohnarbeitsverhältnisses sind, sind sie, vor allem wegen ihrer
de-kommodifizierenden Funktion, den Kritikern des Wohlfahrtsstaats stets ein
Dorn im Auge gewesen. Denn sie behaupten, die zeitweilige Entbindung vom
Verkaufszwang der Ware Arbeitskraft stelle eine Schutzbastion dar gegen
Wettbewerb und Leistung, weswegen diese auch ge­schliffen werden müsse. Dies
zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn man die letzten ungefähr vier Jahrzehnte
Revue passieren läßt, die in den Sozialwissenschaften für viele der entwickelten
kapitalistischen Gesellschaften beschrieben werden als Übergang vom
›keynesianischen Welfare State‹ zum ›schumpeterianischen Workfare State‹. Es
würde im Rahmen des vorliegenden Essays zu weit führen, die Entwicklung dieses
Umbruchsprozesses detailliert zu rekonstruieren. Gleichwohl sind zum besseren
Nachvollzug der hier aufgestellten These einige wenige diesbezügliche
Bemerkungen unabdingbar.



III: Vom Welfare State zum Workfare State


Für die 1970er
Jahre wird infolge der Internationalisierung der ökonomischen
Krisenerscheinungen von den Sozialwissenschaften gemeinhin ein Strukturbruch in
dem bis dahin existierenden Vergesellschaftungsmodus diagnostiziert. Dieser
Strukturbruch brachte zum Ausdruck, daß die Wachstumsdynamik des sogenannten
fordistischen Akkumulationsregimes im Rahmen der
keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Regulationsweise an seine Grenzen gestoßen
war.


Mit dem als
›Fordismus‹ bezeichneten Vergesellschaftungsmodus ist jene
Gesellschaftsformation angesprochen, die sich in etwa datieren läßt von den 30er
Jahren bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. In ökonomischer Hinsicht
betrachtet, beruhte das sie charakterisierende Akkumulationsregime auf einer
tayloristischen, das heißt hochgradig arbeitsteilig und technologisch effizient
organisierten industriellen und standardisierten Produktion von
Massenkonsumgütern durch relativ gering qualifizierte Arbeitskräfte. Diese wurde
infolge der Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses begleitet durch eine
entsprechende Massenkonsumtion. Unter diesen Bedingungen von Massenproduktion
und ‑konsumtion entwickelte sich eine spezifische Regulationsweise
beziehungsweise Form des Staates heraus, der unter dem Etikett ›keynesianischer
Welfare State‹ von sich reden machte und dessen wesentlichen Merkmale
insbesondere die folgenden sind:

hohes
Wirtschaftswachstum,






  • nationalstaatlich relativ geschlossener und regulierter Finanzsektor,





  • stetige
    Steigerung des Reallohneinkommens,





  • Existenz
    starker Gewerkschaften,





  • Etablierung
    korporatistischer Arrangements zwischen Staat, Kapital und Arbeit,
    insbesondere zur Begrenzung von Lohnkämpfen im Hinblick auf die Sicherung
    von Vollbeschäftigung,





  • staatliche
    Sicherstellung von Vollbeschäftigung durch Umverteilung zugunsten der
    Nachfrageseite zum Zwecke der Anregung der Massenkaufkraft,






  • kontinuierliche Erweiterung von wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und
    Unterstützungssystemen,






  • fortschreitende De-Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft durch eine
    zunehmende Institutionalisierung sozialer Bürgerrechte,





  • mit Nachdruck
    betriebener Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen Dienst.





Die krisenhafte
Zuspitzung der ökonomischen und politischen Widersprüche des fordistischen
Akkumulationsregimes bündelte sich in einem Syndrom aus einer anhaltenden
ökonomischen Wachstumsschwäche mit hoher Massenarbeitslosigkeit, einem
deutlichen Legitimationsschwund des politischen Systems und einer mit sozialen
Ausgrenzungsprozessen einhergehenden Vertiefung sozialer Ungleichheiten. Dies
hatte zur Folge, daß sich der enge Zusammenhang von Akkumulation,
Wohlfahrtsstaat und Massenkonsumtion, der das ›goldene Zeitalter‹ des Fordismus
kennzeichnete, zunehmend auflöste. Dies wiederum führte in weiten Kreisen von
Politik und Sozialwissenschaft zu der Einsicht, daß eine Restrukturierung des
Verhältnisses von Akkumulationsregime und Regulationsweise erforderlich war,
wenn die Voraussetzungen geschaffen werden sollten für einen erneuten
langfristigen ökonomischen Aufschwung. Vor diesem Hintergrund erwuchs das
Projekt der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, dessen Konturen in den
1980/90er Jahren immer deutlicher wurden und das sich im öffentlichen Diskurs
erfolgreich präsentierte als ein aus der Logik der kapitalistischen
Entwicklungsdynamik resultierender unabwendbarer ›Sachzwang‹.



Der von den
neoliberalen Apologeten als ›Lösung‹ propagierte Vergesellschaftungsmodus
unterscheidet sich in zentralen Punkten von dem an seine Grenzen geratenen
fordistischen Modell der Vergesellschaftung. In ökonomischer Hinsicht besteht
die ›Lösung‹ hinsichtlich des Akkumulationsregimes in einer enorm
flexibilisierten und spezialisierten Produktion von Massenkonsumgütern durch
sowohl hochqualifizierte Arbeitskräfte in den Kernbereichen als auch
geringqualifizierte Arbeitskräfte in den Randbereichen der Produktion. Hierdurch
wird einerseits die Möglichkeit eröffnet zur schnellen Anpassung an sich
verändernde Konsumentenmärkte und andererseits die Voraussetzung
geschaffen für eine in Teilbereichen steigende konsumtive Nachfrage. Dieser
Restrukturierungsprozeß vollzieht sich im Kontext der ›Globalisierung‹ genannten
Internationalisierung von Produktion und Finanzmärkten auf der Basis sukzessiv
deregulierter und liberalisierter Waren-, Dienstleistungs-, Finanz- und
Kapitalmärkte. Ergebnis dieser weltweiten Entgrenzung der Wirtschaftsräume ist,
daß der noch immer als Nationalstaat verfaßte und damit nach innen gerichtete
Wohlfahrtsstaat gezwungen wird, sich in einen Staat umzuwandeln, dessen
vorrangige Aufgabe darin besteht, den inter- und transnational operierenden
Unternehmen durch Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen, sprich
›Standortpolitik‹, günstige Verwertungsvoraussetzungen zu schaffen. Und das
heißt, dem global immer flexibler agierenden Kapital das zu bieten, was es
sucht: niedrige Steuern, Sozialabgaben und Löhne.



Will man den
neoliberalen Marktfundamentalisten Glauben schenken, so stellt in der
globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten der Staat alter Prägung,
insbeson­dere wegen seiner wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und
Unterstützungssysteme, einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil dar. Aus diesem
Grunde werden die »Evangelisten des Marktes« (Dixon 2000) nicht müde,
unter dem Zeichen der Globalisierung einen Staat zu fordern, der sich aus der
Sphäre der Ökonomie vor allem als regulierender und intervenierender Staat
zurückzuziehen und sich auf die Gewährleistung optimaler Verwertungsbedingungen
zu beschränken habe. Konkret heißt dies, Märkte zu deregulieren, öffentliche
Leistungen und Funktionen zu privatisieren, wohlfahrtsstaatliche Ausgaben zu
senken und individuelle Rechtsansprüche zu beschneiden, um nur einige der
angepriesenen politisch-therapeutischen Antidots zu nennen. Unter diesen
Bedingungen bildete sich in den letzten Jahren eine neue Regulationsweise
beziehungsweise Form des Staates heraus, der im sozialwissenschaftlichen Diskurs
unter dem Kürzel »nationaler Wettbewerbsstaat« (Hirsch 1998)
beziehungsweise »schumpeterianischer Workfare State« (Jessop 1994)
analysiert wird. Kennzeichnend für diese neue Form des Staates sind folgende
Merkmale:





  • schwaches bis
    mittleres Wirtschaftswachstum,





  • deregulierte
    und globalisierte, das heißt nationalstaatlich entgrenzte Finanzmärkte,





  • real sinkende
    Masseneinkommen,





  • Existenz
    geschwächter Gewerkschaften,





  • teilweise
    politische Ausgrenzung der Gewerkschaften und deren Stilisierung zu
    Sündenböcken für die miserable Wirtschafts- und Beschäftigungslage,






  • Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Prekarisierung der
    Lohnarbeitsverhältnisse,






  • fortschreitender Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und
    Unterstützungssystemen,





  • verstärkte
    (Re‑)Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft durch Aushöhlung sozialer
    Bürgerrechte,





  • Verschlankung
    des Staates durch Reorganisations- und Privatisierungs- beziehungs­weise
    Vermarktlichungsmaßnahmen.





Mit diesen knappen
Bemerkungen sind zwar nun in Umrissen die Veränderungen beschrieben, die mit dem
Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Gesellschaftsformation
einhergehen, über die politisch-ideologischen Grundlagen des neoliberalen
Projekts wissen wir allerdings noch relativ wenig. Deswegen soll im Folgenden
versucht werden, diese Lücke mit ein paar ergänzenden Bemerkungen zu schließen.




IV: Ökonomisierung des Sozialen



Zentral mit Blick
auf das hier behandelte Thema ist festzuhalten, daß die ›Logik‹ des
Neoliberalismus darauf hinausläuft, erstens den Markt als universales
Modell der Vergesellschaftung einzurichten und zweitens den
Wettbewerbsmechanismus zu verallgemeinern. Begreift man den Neoliberalismus als
die ›reine Form‹ des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung, dann zeigen
sich deutlich Unterschiede sowohl zum Frühliberalismus des 18. und 19.
Jahrhunderts als auch zum deutschen Ordoliberalismus des 20. Jahrhunderts, die
sich insbesondere in einer Neudefinition des Verhältnisses von Staat und
Ökonomie Ausdruck verschaffen. Gemeinsam ist diesen Liberalismen allerdings ihre
negative Stoßrichtung gegen ein Zuviel-Staat und gegen ein Zuviel-Regieren.
Deswegen gelten ihnen denn auch staatliche Eingriffe in den Markt als
verantwortlich für ökonomische Fehlentwicklungen.



Was den
Neoliberalismus im Vergleich zu anderen Liberalismen auszeichnet, ist die
Ausweitung und Radikalisierung der Wettbewerbslogik zu einem allgemeinem
Beschreibungsmodell menschlichen Handelns. Hierdurch werden nunmehr auch jene
Lebensbereiche zum Gegenstand des Ökonomischen, die traditionell nicht der
Sphäre der Ökonomie zugerechnet werden. Aus diesem Grund wird der
Neoliberalismus auch zurecht bezichtigt, einen »ökonomischen Imperialismus« (Becker)
zu betreiben. Was darunter zu verstehen ist, ist im folgenden kurz zu erläutern.



In der
ökonomischen Theorie des Neoliberalismus wird der Mensch modelliert als ein
rational handelnder homo oeconomicus, dessen Sinnen und Trachten alleinig darauf
ausgerichtet ist, die eigenen Handlungen an Kosten-Nutzen-Kalkülen auszurichten.
Alles menschliche Handeln stellt demnach eine Wahl dar zwischen mehr oder minder
attraktiv empfundenen Alternativen, die alle ihren Preis haben, wenn auch nicht
unbedingt ausdrückbar in Geld. So etwa die Entscheidung für oder gegen eine Ehe,
für oder gegen Kinder, für oder gegen Weiterbildung, für oder gegen gesunde
Ernährung und so weiter und so fort. Das heißt, die eine Sache zu tun oder zu
haben, bedeutet, auf eine andere zu verzichten. Folglich bestehen die Kosten
einer jeden Handlung in der besten Alternative, auf die man verzichtet, indem
man sich für die andere Alternative entscheidet. Die morali­sche Implikation
dieser Denkweise ist, daß den handelnden Subjekten ihre Entscheidungen als
eigenverantwortliche nach dem Motto »Selbst daran schuld!« zugeschrieben werden
können: Wer Opfer eines Verbrechens wird, hätte sich um seine Sicherheit mehr
kümmern sollen; wer krank wird, hat sich nicht genug um seine Gesundheit
gesorgt; wer nach dem Studium keine Stelle findet, der hat dann wohl die falsche
Studienwahl getroffen.



Wichtig in dem
Zusammenhang mit der Entgrenzung des Ökonomischen ist noch ein weiterer Aspekt,
der die neoliberale »Kunst des Regierens« (Foucault 2000; 2006a; 2006b),
sprich »Gouvernementalität« (ebd.), anbelangt. Wenn die handelnden Subjekte, so
wie es die Grundannahme der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus formuliert,
stets ihren Nutzen zu maximieren suchen, dann kann man deren Handlungen steuern,
indem man über die Steigerung oder Senkung der Kosten der Handlungen das
Kosten-Nutzen-Kalkül verändert. Aus einer gouvernementalen Perspektive bedeutet
dies, daß der homo oeconomicus des Neoliberalismus ein Subjekt darstellt, das
sich nicht nur unentwegt entscheidet, sondern das auch in eminenter Weise
regierbar ist. Und eben dies versucht das politische Projekt des Neoliberalismus
sich zu eigen zu machen, indem es die Subjekte anhält, sich als Unternehmer
ihrer selbst zu begreifen und alle ihre Handlungen als Investi­tion in das
eigene ›Humankapital‹ zu betrachten.



Bevor nun die
Aufmerksamkeit auf die Gemeinsamkeiten von ›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV
gerichtet werden soll, ist es für die Argumentation dienlich, an dieser Stelle
noch einen kleinen Moment zu verweilen und einen kurzen Blick auf die
Subjektivierungsform des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) zu
werfen beziehungsweise auf den »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Pongratz
1998) als dem Leitbild der neoliberalen Arbeitsgesellschaft.




V: Subjektivierungsform »Unternehmerisches Selbst«



In der
sozialwissenschaftlichen, aber auch in der politisch-programmatischen Diskussion
werden im Leitbild des »Arbeitskraftunternehmers« spezifische Anforderungen an
die Sub­jektivität des Arbeitskraftbesitzers gebündelt, die in der Figur des
»unternehmerischen Selbst« ihren Höhepunkt finden. Diese Subjektivierungsfigur
verdichtet sowohl ein höchst wirkungsmächtiges normatives Menschenbild wie auch
eine Vielzahl von Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamer Kern in der
Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship,
sprich des Unternehmertums, besteht.



Mit dem Rückgriff
auf den Unternehmergeist, der in vielfältige gouvernementale Programme
eingebettet ist, werden die Subjekte aufgefordert, ihr eigenes Handeln so
auszurichten, daß es dem Typus des Unternehmers möglichst nahekommt. Damit
werden unterschiedliche Verhaltensdispositionen angesprochen: das unablässige
Suchen und fin­dige Nutzen von Gewinnchancen, das Aufspüren und kämpferische
Durchsetzen von Neuerungen und die Bereitschaft für die Übernahme von Risiken
und das Handeln unter Ungewißheit. Konkret heißt dies: Angetrieben vom
Mechanismus der Konkurrenz, hat das »unternehmerische Selbst« sowohl ein
kalkulierender Betriebswirt des eigenen Lebens zu sein als auch ein
Motivationsexperte, der unablässig danach strebt, aus sich Höchstleistungen
herauszukitzeln und Ideenfeuerwerke zu produzieren. Und da jedes
»unternehmerische Selbst« nur für einen Augenblick seine Position im
Wettbewerbskampf und in Relation zu seinen Konkurrenten behaupten kann, darf es
sich bei Strafe seines Untergangs nie­mals auf dem einmal Erreichten ausruhen.
Ein beliebter Spruch unter sogenannten Ich-AGs beschreibt diesen Sachverhalt
sehr treffend: Selbständige heißen so, weil sie erstens selbst und zweitens
ständig arbeiten.



Mit der
Vorstellung des »unternehmerischen Selbst« als normatives Modell individueller
Lebensführung, wie es die Apologeten der neoliberalen Umgestaltung der
Gesellschaft propagieren, wird der Wahlspruch der Aufklärung geradezu von den
Füßen auf den sozialdarwinistischen Kopf gestellt, wie Masschelein/Simons
mit ihrer Neuformulierung von Kants »Sapere aude!« (Kant 1988: 53)
eindringlich zeigen: »Unternehmerisch sein ist der Aus­gang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unproduktivität. Unproduktivität ist das Unvermögen,
sich seines menschlichen Kapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unproduktivität, wenn die Ursache derselben nicht am
Mangel an Humankapital, sondern am Mangel an Entschlossenheit und Mut liegt,
sich seines Humankapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Also: »›Wage
es, das Selbst zu mobilisieren!‹ ›Habe den Mut, dich deines eigenen Kapitals zu
bedienen!‹« (Masschelein/Simons 2005: 84f.)




VI: Reformen aus einem Geist



Rekapitulieren wir
kurz den bisherigen Gang der Argumentation: Im ersten Schritt wurde
dargelegt, daß Bildungs- und Sozialpolitik konstitutiv mit dem
Lohnarbeitsverhältnis verbun­den sind, weil erst durch deren Maßnahmen die
menschliche Arbeitskraft zur Ware wird und der Besitzer von Arbeitskraft zum
Lohnarbeiter. Sodann wurde im zweiten Schritt aufgezeigt, daß mit dem
Erschöpfen des fordistischen Vergesellschaftungsmodus der Wohlfahrtsstaat
zunehmend unter Druck geriet und in Richtung Workfare State restrukturiert
wurde, weil er gedeutet wurde als Haupthindernis in der internationalen
Konkurrenz um Standortvorteile. Und schließlich wurde im dritten Schritt
auf die Bedeutsamkeit des Neoliberalismus für den beschriebenen Formwandel des
Staates eingegangen und dabei herausgestellt, daß diese Bedeutsamkeit im
staatlich vorangetriebenen Ausgreifen der Markt- und Wettbewerbsmechanismen auf
alle sozialen Beziehungen besteht, einschließlich der Beziehung des einzelnen
Subjekts zu sich selbst. Damit wurde gewissermaßen der
hintergrundinformatorische Bogen gespannt, um sich der Gemeinsamkeiten von
›Bologna-Prozeß‹ und Hartz IV zuwenden zu können. Hierbei kann zwischen drei
Ebenen unterschieden werden: zwischen der Ebene der Gesellschaft (1), der Ebene
der Organisation (2) und der Ebene der Subjekte (3).



Ad 1) Vor dem
Hintergrund des bisher Gesagten kann mit Bezug auf die Ebene von Gesellschaft an
dieser Stelle bloß noch ergänzend auf ein paar Gemeinplätze hingewiesen werden.
So wäre zu allererst ganz allgemein zu nennen, daß der ›Bologna-Prozeß‹ und
Hartz IV eine spezifische Form der Anpassung an den Prozeß der Globalisierung
darstellen, in dem qualifizierte Arbeitskräfte und das Thema ›Bildung‹, genauer
gesagt ›Beschäftigungsfähigkeit‹, neudeutsch auch ›employability‹ genannt, für
die Nationalstaaten wesentliche Faktoren im inter- und transnationalen
Standortwettbewerb sind. Dies zeigt sich unverhohlen, wirft man einen Blick auf
die »Lissabon-Strategie« aus dem Jahr 2000. Mit dieser Strategie haben sich die
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Ziel gesetzt, diese zum
»wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen,
indem Prozesse der Entrepreneurialisierung von (Erwerbs‑)Arbeit be- und
gefördert werden. Hierzu eignet sich in besonderer Weise der Bereich der
Bildungs- und Sozialpolitik, da beide, es wurde oben bereits erwähnt, mit der
Herstellung der Warenförmigkeit von Arbeitskraft befaßt sind. Insofern bildet
das Jahr 2010 auch nicht zufällig die gemeinsame Zielmarke der europäischen und
deutschen Reformprogramme, die gemeinhin unter den Stichworten »Bologna 2010«
und »Agenda 2010« bekannt sind und mit denen auf der Grundlage der ökonomischen
Theorie des Neoliberalismus das gesamte soziale Leben so gesteuert und staatlich
organisiert werden soll, daß jeder Arbeitskraftbesitzer sich mit sei­nen
Potentialen möglichst freiwillig und reibungslos in den auf Ausbeutung
beruhenden kapitalistischen Prozeß der Mehrwert- und Reichtumsproduktion
einbringt. Und dies heißt, das Selbst als menschliche Ressource zu begreifen,
unternehmerisch zu erschließen, zu mobilisieren und zu rationalisieren.



Ad 2) Wenn die
Logik der Ökonomie zur alles bestimmenden Rationalität der Gesellschaft wird,
werden selbstverständlich auch die staatlichen Apparate entsprechenden
strukturellen Veränderungen unterworfen und den politischen Programmatiken und
Programmen angepaßt. Soll heißen, daß die veränderte gouvernementale Art des
Regierens darauf zielt, auch die mit der Bildungs- und Sozialpolitik befaßten
Organisationen so umzugestalten, daß deren Wettbewerbsfähigkeit, Effektivität
und Effizienz durch eine Vermarktlichung oder auch Verbetriebswirtschaftlichung
nach innen wie nach außen gesteigert wird. Dies ist sowohl an den Hochschulen
wie auch bei der Arbeitsverwaltung, sprich an der Bundesagentur für Arbeit und
deren nachgeordneten Organisationen, zu beobachten.



Werfen wir zuerst
einen Blick auf die Hochschule, die nach dem Willen ihrer Erneuerer in
ausdrücklicher Opposition zum traditionellen Humboldtschen Typus nach dem
Vorbild eines privatwirtschaftlich organisierten und marktförmig operierenden
Dienstleistungsunternehmens reorganisiert werden soll, das seine Produkte,
nämlich Forschungsleistungen sowie Aus- und Weiterbildung von Studierenden, auf
einem Wissenschafts›markt‹ an eine kaufkräftige Nachfrage absetzen muß. Ergebnis
dieser Vermarktlichung der Hochschule ist nicht, wie so oft von deren
Protagonisten und Profiteuren behauptet, eine Vergrößerung der Autonomie der
Hochschule durch deren Loslösung von staatlicher Gängelei, sondern vielmehr ihre
Heteronomisierung, also ihre Fremdbestimmung vermittels ihrer Unterwerfung durch
sogenannte ›Rankings‹ unter die Logik eines marktförmigen Wettbewerbs, der, wie
sollte es anders sein, sich auch nach innen auf die Hochschule überträgt, und
zwar in dreierlei Weise: erstens




inhaltlich
als
fachidiotisierende Schmalspurausbildung ohne Freiräume für Erfahrung,
Kreativität und Reflexivität, so daß vom Menschenrecht auf Bildung nicht mehr
übrig bleibt als der Studierenden Qualifizierungspflicht zur Ausrichtung ihres
Studiums an den Anforderungen des Arbeitsmarkts einerseits und deren
lebenslänglichen Weiterbildungspflicht andererseits; zweitens





studienorganisatorisch

als Aushöhlung und
Verschulung des Studiums, bei der die Studierenden unter der faktischen
Vorenthaltung der Erfahrung einer freien, akademischen, wissenschaftlich
orientierten Diskussion nicht hinausgelangen über die mechanische Aneignung und
Reproduktion von Wissen, wovon die »inszenierte Idiotisierung« (Narr
2004) in Form der Modularisierung der Studiengänge beredtes Zeugnis ablegt; und
schließlich drittens





arbeitsorganisatorisch

als verschärfte
Konkurrenz zwischen Fachbereichen, Studiengängen und auch den Lehrenden
einerseits und der Etablierung autokratischer Verwaltungs- oder, neudeutsch
formuliert, Managementstrukturen andererseits, so daß die grundgesetzlich
geschützte Wissenschaftsfreiheit immer weniger der Selbstbestimmung der
Lehrenden und Lernenden anvertraut wird, womit die akademische Selbstverwaltung
zur Leerformel degeneriert.



Vergleichbares
findet sich auch bei Arbeitsveraltung, also der Bundesagentur für Arbeit
beziehungsweise den ARGEn, die mit der Umsetzung des SGB II, umgangssprachlich
auch Hartz IV genannt, betraut sind und entsprechend den Empfehlungen der
Hartz-Kommission umgebaut wurden zu modernen, wettbewerbsorientierten
Dienstleistungsunternehmen am Arbeitsmarkt. Und zwar mit all jenen aus der
Betriebswirtschaftslehre stammenden und bekannten Instrumenten und Verfahren zur
erhofften Steigerung der Effektivität und Effizienz: durch den Abschluß von
Zielvereinbarungen, die Umstellung von Input- auf Outputorientierung, die
Einführung von Controlling- und Berichtssystemen, Fremd- und Selbstevaluationen,
Rankings beziehungsweise Benchmarkings, den Abbau staatlicher Zuständigkeiten
und deren Ersetzung durch private Anbieter oder Agenturen (bei den ARGEn zum
Beispiel Personalserviceagenturen, bei den Hochschulen
Akkreditierungsagenturen). Und selbstverständlich gehört hierzu auch, wie könnte
es anders sein, die definitorische Umwandlung der hilfebedürftigen Arbeitslosen
(beziehungsweise der Studierenden) in ›Kunden‹, womit eine weitere
marktwirtschaftliche Basisideologie in solche Bereiche personenbezogener
Dienstleistungen Einzug hält, die einer Kommerzialisierung im Grunde nicht oder
nur in einem äußerst begrenzten Maße zugänglich sind. Und zwar aus dem ganz
einfachen Grund, weil es ihnen in der Regel an der elementaren Voraussetzung des
Kundenstatus von Teilnehmern am realen Wirtschaftsgeschehen mangelt: der
Verfügung über Zahlungsfähigkeit, sprich Geld.



Ad 3) Es soll an
dieser Stelle nicht weiter auf die Dümmlichkeit der Rede von der
Kundenorientierung in der Bildungs- und Sozialpolitik eingegangen, sondern die
Kundenmetaphorik lediglich zum Anlaß genommen werden, um nun von der Ebene der
Organisation auf die der Subjekte zu wechseln. Wenn oben darauf hingewiesen
wurde, daß in der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus der Mensch modelliert
werde als ein rational handelnder homo oeconomicus, so ist es nur konsequent,
auch Studierende und hilfebedürftige Arbeitslose als Kunden (sprich Nachfrager)
oder Unternehmer (sprich Anbieter) zu beschreiben, je nachdem, auf welcher Seite
welchen Marktes sie agieren. Allerdings ist das zugrundegelegte Menschenbild ein
›halbiertes‹, weil das politische Projekt des Neoliberalismus darauf zielt, eine
soziale Realität herzustellen, die es in seiner Theorie zugleich als existierend
voraussetzt. Oder anders formuliert: Auf der Seite der Theorie, besser sollte
man sagen der Ideologie, existiert ein Menschenbild, das keine reale
Entsprechung auf der Seite der Empirie hat beziehungsweise nur in Form einer
Negation. Dies wäre nicht weiter von Übel, wenn nicht die Theorie zu einer
materiellen Gewalt sich ausgewachsen hätte, der die Subjekte, also hier die
Studierenden und Hartz-IV-Betroffenen, im Namen der Freiheit, jedoch nicht der
eigenen, sondern der des Marktes, nun bedingungslos unterworfen werden.



Um es konkret zu
machen: An dem Handeln der neoliberalen Protagonisten in der Bil­dungs- und
Sozialpolitik offenbart sich in aller Klarheit, welches Bild sie von den
Studieren­den und den Hartz-IV-Betroffenen haben. So wird den Studierenden
prinzipiell unterstellt, sie seien Bummelstudenten und insofern studierunwillig,
sie seien relativ wenig wißbegierig sowie desorientiert und überfordert. Den
Hartz-IV-Betroffenen hält man vor, sie seien arbeitsscheu und suchten sich
deswegen überhaupt keine Arbeit. Das einzige, worauf sie sich verstünden, sei,
den Wohlfahrtsstaat auszubeuten, das heißt, Leistungen in Anspruch zu nehmen,
die ihnen im Grunde nicht zustünden, da sie arbeiten könnten, wenn sie denn nur
wollten. Daraus folgt: Die maßgeblichen Akteure sowohl im ›Bologna-Prozeß‹ als
auch bei Hartz IV rechnen bei den Betroffenen mit dem Schlimmsten – und setzen
deswegen mehr auf Kontrolle und Zwang statt auf Anreize und Angebote.
Infolgedessen entlarvt sich auch der Handlungsgrundsatz des »Fördern und
Fordern«, der das Hauptkennzeichen des »aktivierenden Sozialstaats« darstellt,
als pure Ideologie.



Der totalitäre
Zugriff auf die menschliche Subjektivität erfolgt allerdings auf sehr subtile
Weise, indem die Betroffenen einerseits über die Zuschreibung von
Eigenverantwortung als autonome Subjekte angerufen werden, während man sie
andererseits
zugleich in spezifische Kontroll- und Sicherungsstrategien
einbindet, damit die abverlangte ›Autonomie‹ nicht aus dem Ruder läuft. So zielt
zum Beispiel, bei den Studierenden, die Verkürzung und Straffung der
Studienzeiten, die Vervielfachung und Verstetigung von Prüfungen, die Einführung
von Studiengebühren oder das Ausloben von Studienpreisen auf die Herstellung
einer spezifischen Haltung, nämlich einer kalkulierenden Denkungsart, die dem
Habitus der Selbstvermarktung entspringt. Die Studierenden sollen sich mithin
als unternehmerische Subjekte, als »Arbeitskraftunternehmer«, verstehen lernen,
die sich selbst, also ›autonom‹, verwalten und managen. Hierbei sind sie
aufgefordert, den Kauf von Bildungsgütern als Investition in sich selbst zu
begreifen und immer größere Lernanstrengungen zu erbringen, um die
Verwertungsbedingungen ihres eigenen ›Humankapitals‹ zu erhöhen. Kurz: Sie
sollen freiwillig einwilligen in die Kommodifizierung nicht nur ihrer
Arbeitskraft, sondern aller Dimensionen ihrer Biographie unter dem Gesichtspunkt
der optimalen Verwertbarkeit und sollen so ihre eigene Subjektivierung zum
»unternehmerischen Selbst« und ihre Unterwerfung unter die Bedingungen
kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Rationalität und die Erfordernisse
politischer Machterhaltung betreiben.



Da die Anhänger
des Marktradikalismus jedoch selbst Zweifel zu haben scheinen an der Wirksamkeit
ihrer moralischen Einflußnahme auf den Willen und das Verhalten der Studierenden
und Arbeitslosen, flankieren sie ihre auf ›Autonomie‹ abstellenden Programme mit
Zwangsprogrammen. Denn wer es an der geforderten Eigeninitiative,
Anpassungsfähigkeit, Mobilität und Flexibilität fehlen läßt, der zeigt, aus
Sicht der neoliberalen Eiferer, objektiv seine Unfähigkeit, ein freies und
rational-kalkulierendes unternehmerisches Subjekt zu sein, das sich gegenüber
sich selbst und der Gesellschaft ökonomisch und moralisch verantwortungsbewußt
verhält. Doch dem wird staatlicherseits abzuhelfen versucht durch eine
konsequente Beachtung der asymmetrisch ausgestalteten Maxime des »Fördern und
Fordern«. Dies zeigt sich am klarsten wohl bei Hartz IV, das gewissermaßen das
Kleingedruckte zur Bildungspolitik enthält. Auf der Grundlage dieser Maxime wird
den Betroffenen nämlich durch Zwang auferlegt, ›autonom‹ zu sein, aber
selbstredend nur in den Grenzen, die ihnen durch die staatlichen Vorgaben
gesetzt sind.




Literatur:



Bröckling (2007) -
Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer
Subjektivierungsform
, Frankfurt/M.: Suhrkamp



Dixon (2000) -
Keith Dixon: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und
der Thatcherismus
, Konstanz: UVK



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Michel Foucault: Die »Gouvernementalität«, in: Bröckling, U. et al.
(Hrsg.), Gouvernemen­talität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des
Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 41-67



Foucault (2006a) -
Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der
Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978
,
Frankfurt/M.: Suhrkamp



Foucault (2006b) -
Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der
Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979
,
Frankfurt/M.: Suhrkamp



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Joachim Hirsch: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat.
Gesellschaft, Staat und Politik im globalen Kapitalismus
, Berlin: ID-Verlag



Jessop (1994) -
Bob Jessop: Veränderte Staatlichkeit. Veränderungen von Staatlichkeit und
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, in: Grimm, K. (Hrsg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden: Nomos,
S. 43-73



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Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders.,
Schriften zur Anthropo­logie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1,
Werkausgabe Band XI, 8. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 51-61



Marx (1977) - Karl
Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 1. Band, in:
Marx-Engels-Werke, Bd. 23, 12. Aufl., Berlin (DDR): Dietz



Masschelein/Simons
(2005) - Jan Masschelein/Maarten Simons: Globale Immunität oder Eine kleine
Karto­graphie des europäischen Bildungsraums
, Zürich/Berlin: diaphanes



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Wolf-Dieter Narr: Studienordnung als Erziehungsinstrument. Zur Beseitigung
von Wissenschaft an der FU Berlin
, in: Forum Wissenschaft, H. 11, online
unter URL (19.11.2004) http://www.bdwi.de/forum/fw3-04-6.htm



Offe (1983) -
Claus Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?, in: Matthes, J.
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Seibt (2009) -
Gustav Seibt: Reformen aus einem Geist, in: Süddeutsche Zeitung vom
16.07.2009, online unter URL (21.07.2009)

http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/243/480721/text/print.html



Voß/Pongratz
(1998) - G. Günther Voß/Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine
neue Grundform der Ware Arbeitskraft?
, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie
und Sozialpsychologie, H. 1, S. 131-158












[*]
)
Bei dem Text handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung
des Manuskripts zu einem Vortrag, den ich anläßlich der vom Runden Tisch
Hochschulpolitik Koblenz veranstalteten Alternativen Ringvoresung
Sommersemester 2010 zum Thema »Privatisierung der Bildung« am 01.06.2010
gehalten habe. Der Duktus des gesprochenen Wortes wurde weitgehend
beibehalten. – Es versteht sich von selbst, daß die vorgetragenen
Überlegungen von einer Vielzahl von Arbeiten anderer Autoren inspiriert
worden sind. Um den Text aber nicht unnötig mit einem wissenschaftlichen
Apparat in Form von mehr oder minder ausführlichen Fußnoten zu
befrachten, habe ich mich dafür entschieden, nur auf die Texte jener
Autoren explizit zu verweisen, aus denen von mir wortwörtlich zitiert
wurde. Ich hoffe, auf diese Weise dem Kriterium ›wissenschaftlicher
Redlichkeit‹ einigermaßen gerecht zu werden.

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