Dienstag, 30. April 2013

FAZ-Themenwoche „Vollbeschäftigung“ – Spiegelfechten im Niedriglohnparadies (via NDS)

FAZ-Themenwoche
„Vollbeschäftigung“ – Spiegelfechten
im Niedriglohnparadies
(via Nachdenkseiten)
www.nachdenkseiten.de/?p=17070#more-17070

„Arbeit für Alle “ – unter diesem Motto
hat die FAZ die Woche rund um den Tag
der Arbeit am 1. Mai zur Themenwoche
zum Schwerpunktthema
„Vollbeschäftigung“ erklärt. Begleitend
dazu hat das FAZ-Wirtschaftsblog „Fazit“
zu einer Blogparade aufgerufen. Auch
wenn wir[ * ] mit den aufgestellten
Prämissen der FAZ ganz und gar nicht
übereinstimmen, werden wir uns freilich
dennoch an der Debatte beteiligen.
Zunächst soll es hierbei um den von der
FAZ bagatellisierten Zusammenhang
zwischen den Arbeitseinkommen und den
Beschäftigungszahlen gehen, der für die
Beschäftigung mit dem Thema elementar
ist. Von Jens Berger .
Wie die FAZ überhaupt zur steilen These
kommt, es gäbe in Deutschland
demnächst so etwas wie Vollbeschäftigung
erklärt Patrick Bernau in einer Art
Thesenpapier zum Schwerpunktthema.
Auf viele Schwächen dieses Papiers ist
bereits der Kollege André Tautenhahn
eingegangen . Bernau argumentiert in
seinem Thesenpapier streng
angebotstheoretisch. Sinken die Löhne,
sinkt auch die Arbeitslosigkeit, da es sich
für die Arbeitgeber (wieder) lohnt,
Menschen einzustellen. Und da die Löhne
in Deutschland bekanntlich in den letzten
beiden Jahrzehnten gesunken sind und
der demographische Wandel zudem dafür
sorgt, dass die Zahl der potentiellen
Arbeitnehmer zurückgeht, wird sich – so
Bernau – schon bald ein Überangebot von
Arbeitsplätzen einstellen. Vordergründig
leuchtet diese angebotstheoretische
Herleitung durchaus ein. Wie man sich
dies – ein wenig zugespitzt – vorstellen
kann, habe ich bereits unter der
ironischen Kapitelüberschrift
„Willkommen im Putzfrauenparadies“ in
meinem Buch „Stresstest Deutschland“
geschildert:
Um dies zu verdeutlichen, reicht ein
kleines Gedankenspiel. Was wäre, wenn
der Staat es zulassen würde, dass auch
Privathaushalte Raumpflegerinnen in
flexibler Teilzeit und zu einem
Stundenlohn von einem Euro einstellen
dürften – selbstverständlich ohne dafür
mit Sozialabgaben, Kündigungsschutz oder
Ähnlichem belästigt zu werden. Verrückt,
nicht wahr? Wer würde einen solchen Job
annehmen?
Was wäre nun, wenn die Privathaushalte
ihre Stellengesuche bei den
Arbeitsagenturen platzieren dürften und
jede Leistungsbezieherin, die ein solches
Angebot ablehnt, sanktioniert wird? Da
die Erwerbslosen bei der momentanen
Gesetzeslage gar keine Möglichkeit
hätten, diese Angebote auszuschlagen,
könnte die Kanzlerin schon wenige Tage
später einen wundersamen Rückgang der
Arbeitslosenzahlen vermelden – die
Nachfrage nach Eineuroputzfrauen dürfte
nicht eben gering sein. Wie würden Sie
ein solches – noch hypothetisches –
Arbeitsbeschaffungsprogramm nennen?
Staatlich geförderte Zwangsarbeit? Sie
liegen da gar nicht mal so falsch. Denn
genau dieses
Arbeitsbeschaffungsprogramm gibt es
bereits in abgeschwächter Form.
Im April 2011 zählte die Arbeitsagentur
fast 1,4 Millionen erwerbstätige
Arbeitslosengeld-II-Empfänger – 326.000
davon in einem
sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob.
aus: Jens Berger, „ Stresstest
Deutschland“, 2012, Frankfurt
Kartoffelmarkt und Arbeitsmarkt
Vertreter der angebotstheoretischen
Lehre gehen stets davon aus, dass der
Arbeitsmarkt sich nicht sonderlich von
anderen Märkten, wie beispielsweise dem
Kartoffelmarkt, unterscheidet und die
beiden Seiten (Arbeitgeber und
Arbeitnehmer) frei den Preis (Lohn)
untereinander ausmachen. So einfach
stellt sich der Arbeitsmarkt aber nicht
dar. Ist die Kartoffel zu teuer, kann der
potentielle Nachfrager auf den Kauf
verzichten und stattdessen Nudeln, Brot
oder Reis kaufen. Ein Erwerbsloser kann
jedoch nicht so einfach ein „Jobangebot“
ausschlagen, egal wie schlecht es bezahlt
ist – droht ihm doch Hartz IV und dann im
schlimmsten Fall sogar die Sanktionierung
und damit ein zeitweiliges Leben
unterhalb dem Existenzminimum. Würde
der Arbeitsmarkt funktionieren, gäbe es
überhaupt keine Löhne, von denen man
nicht leben kann und damit auch keine
Hartz-IV-Aufstocker. Patrick Bernau findet
es da „bemerkenswert“, dass
„Deutschland seit einigen Jahren“
angeblich „nicht mehr über
Arbeitslosigkeit diskutiert, sondern fast
nur noch darüber, ob die Stellen
angenehm sind und genug Geld bringen“.
Da kann man nur sagen: Willkommen im
Niedriglohnparadies Deutschland.
Vollbeschäftigung ist kein Selbstzweck,
sondern kann und darf nur unter der
Vorgabe ein arbeitsmarktpolitisches Ziel
sein, dass die gezahlten Löhne
ausreichen, um davon leben zu können.
Leider geht dieser wichtige Punkt im
ganzen Rausch der vergleichsweise
niedrigen Arbeitslosenzahlen vollkommen
unter. Es ist freilich nicht so, dass Patrick
Bernau dieses Problem nicht sehen
würde. Doch auch seine diesbezügliche
Lösung ist wieder streng
angebotsorientiert und geht komplett an
der Realität vorbei. Laut Bernau stellen
hohe Löhne ein „Risiko für die
Arbeitsplätze dar“, ließen sich jedoch
ohnehin nur dann durchsetzten, wenn die
Arbeitnehmer „sowieso schon in der
besseren Verhandlungsposition, sprich
vollbeschäftigt [seien]“. Um dies zu
untermauern, verweist Bernau auf die
angebliche Verhandlungsmacht von
Arbeitnehmern in Jobs, in denen es einen
Bewerbermangel gibt. Mit einem
konkreten Beispiel belegt Bernau diese
Thesen jedoch nicht und er weiß sicher
auch warum.
Fachkräftemangel und
Vollbeschäftigung – Theorie und Praxis
Dabei lohnt ein Blick auf den
Berufssektor, auf dem es momentan wohl
den größten flächendeckenden
Bewerbermangel gibt: den Pflegesektor.
Wäre an Bernaus Thesen etwas dran,
müssten die Kranken- und Altenpfleger ja
ihre Macht im Arbeitsmarkt bereits
nutzen und dem Arbeitgeber „die
Bedingungen diktieren“, „höhere
Gehälter, Sabbaticals und längere Urlaube
aushandeln“. Das Gegenteil ist jedoch der
Fall. Aber was kann die Theorie dafür,
wenn die Praxis ihr einfach nicht folgen
will? Mir ist kein Beispiel bekannt, bei
dem die Arbeitgeber auf einen
tatsächlichen oder vermeintlichen
Fachkräftemangel gemäß der „Marktlogik“
reagiert und die Löhne erhöht hätten.
Stattdessen bemüht man sich
beispielsweise im Pflegesektor redlich,
Ärzte und Pflegepersonal aus
Entwicklungs- und Schwellenländern zu
akquirieren, um hierzulande das
Lohnniveau noch weiter zu drücken.
Es ist daher müßig, sich utopische
Gedanken darüber zu machen, wie schön
sich die Welt im vollbeschäftigen
Deutschland zukünftig gestalten ließe.
Solange es sich bei dem vollbeschäftigten
Deutschland um ein Putzfrauenparadies“
mit flächendeckenden Niedriglöhnen
handelt, wird aus der Utopie eine
Dystopie.
Mit der Angebotstheorie in die
Sackgasse
Bernaus Thesen haben jedoch aus
volkswirtschaftlicher Sicht noch einen
weiteren Kardinalfehler, der sich auf die
eingeengte angebotstheoretische
Sichtweise zurückführen lässt: Die
Zukunft einer Volkswirtschaft, die
aufgrund niedriger Löhne keine
ausreichende und selbstragende
Binnenkonjunktur entwickeln kann, hängt
auf Wohl und Wehe vom Export ab. Man
kann jedoch nur dann exportieren, wenn
man Kunden für seine Exportgüter findet.
Momentan tut Deutschland jedoch alles,
um seine Kunden finanziell auszutrocknen
und es ist zudem mehr als ungewiss, ob
der „Exportweltmeister“ es schafft, seine
gigantischen Auslandsforderungen
überhaupt noch einzutreiben. Wenn die
Krise mittel- bis langfristig anhält, wovon
momentan auszugehen ist, wird jedoch
auch der Export unausweichlich
einbrechen. Die simple
angebotstheoretische These, nach der
man „nur“ wettbewerbsfähig produzieren
muss und es dann schon irgendjemanden
auf der Welt gibt, der die Produkte kauft
und zahlt, gilt nun einmal nicht, wenn
weltweit die Nachfrage einbricht.
Solange die Weltwirtschaft sich im
„Krisenmodus“ befindet ist es daher auch
vollkommen illusorisch, dass das Land,
das als Exportweltmeister weltweit am
stärksten vom Welthandel abhängig ist,
ungeschoren bleibt und zur
Vollbeschäftigung gelangt.
Agenda Setting für den Wahlkampf
Die FAZ-Themenwoche
„Vollbeschäftigung“ wirkt vor diesem
Hintergrund eher wie ein Versuch, den
Lesern Sand in die Augen zu streuen und
die neoliberale Politik der letzten
Jahrzehnte als Erfolgsmodell umzudeuten
– die in schwarz-gelb gehaltene
Illustration von emsigen Arbeitnehmern
zu Bernaus Artikel ist dabei auch farblich
Programm. Man merkt es: Der
Wahlkampf kommt langsam auf Touren
und die FAZ versucht in einer ersten
Agenda die gewünschten Themen zu
setzen. Während der Rest der Republik
darüber debattiert, wie man die immer
größer klaffende Schere bei der
Einkommens- und Vermögensverteilung
schließen könnte und die meisten
Experten darin einig sind, dass das
Debattenthema „Gerechtigkeit“ den
Wahlkampf beherrschen wird, versucht
die FAZ die Debatte unter
fadenscheinigen Prämisse in eine andere
Richtung zu lenken. Für ein solches
Manöver gab es früher mal einen
passenden Ausdruck: Spiegelfecherei.
So sagt man, wenn man Jemand mit
irgend etwas dem Scheine nach
Glaubliches täuscht, es sey eine
Spiegelfechterei.
Johann Georg Krünitz, “Oeconomischen
Encyclopädie”, 1773
[«* ] Albrecht Müller wird im Laufe der
Woche ebenfalls noch einen Artikel zum
Thema veröffentlichen

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