Mittwoch, 10. April 2013

Die neue Umverteilung - Soziale Ungleichheit in Deutschland am 21.04. um 11:04 Uhr auf #sr2 u. #DRadioWissen

 

 

21. April 2013: Prof. Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland

 

am 21.04.2013

um 11:04 Uhr auf sr2-Kulturradio und DRadioWissen

 

passend dazu

 

Realistisches Gegenbild

Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat ein Buch zur Aktualität der Klassenfrage vorgelegt

Von Werner Seppmann
 
[via Junge Welt]
 
http://www.jungewelt.de/2013/04-08/011.php?sstr=realistisches|gegenbild
 
 
 
 
Ausgangspunkt der Streitschrift »Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland« ist ein Skandal. Obwohl wachsende Zonen der Armut und Bedürftigkeit als Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Sogs nach unten seit langem nicht mehr zu übersehen waren, schwelgte ein großer Teil der akademischen Soziologie lange Zeit in weltfremden wie legitimatorischen Konstruktionen: Im Windschatten einer sogenannten kulturalistischen Wende wurde die Parole vom »Ende der Klassengesellschaft« ausgegeben und der Blick von der sozialen Realität abgelenkt. Wehlers realistisches Gegenbild ist klar: »Die nüchterne empirische Sozialstrukturforschung zeigt eindeutig, daß die bunten Tupfer unterschiedlicher Lebensstile die harten Strukturen sozialer Ungleichheit nur unwesentlich beeinflussen.«

Wenige Hinweise reichen aus, um die gegenwärtige Gesellschaftssituation zu charakterisieren: Der Anteil aller abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt ist gravierend abgesenkt worden. Ein Viertel der Lohnabhängigen in der BRD ist prekär beschäftigt; auch ganztägige Arbeit reicht für viele nicht mehr zur Bestreitung des Lebensunterhalts. In Armutslagen leben mittlerweile fast 20 Prozent der BRD-Bevölkerung, noch größer ist die Gruppe derer, die beständig vom Absturz bedroht sind. Die sozialen Partizipa­tionschancen und die Lebensqualität sind wesentlich durch die Klassenlage geprägt: Wer arm ist, stirbt zehn Jahre früher als die Bewohner in den oberen Gesellschaftsetagen.

Wo und wie jemand wohnt und welche kulturellen Zugangsweisen er besitzt, steht in einer deutlichen Abhängigkeitsbeziehung zu seiner Klassenlage. Ebenso geht eine niedrigere berufliche Stellung mit stärkeren Belastungsmomenten und arbeitsbezogenen Gesundheitsgefährdungen einher. Auch Bildungsmöglichkeiten und berufliche Entwicklungsperspektiven hängen in hohem Maße von der Klassenlage ab: Minimale Chancenverbesserungen auf einigen Gebieten, die es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat, werden von neuen Ausschlußtendenzen wieder in Frage gestellt. Der Anteil der Studierenden aus Arbeiterfamilien liegt heute kaum über dem Niveau der frühen 60er Jahre.

Nicht nur diese Tatbestände verweisen auf die hohe Prägekraft der Klassenstrukturierung: Wer unten ist, bleibt unten und wer oben ist oben. Eine vielbeschworene »Mobilität« beschränkt sich meist auf Bewegungen innerhalb benachbarter Sozialsegmente (auch bei der Partnerwahl), so daß von einem »Überschreiten der sozialen Grenzen« nicht gesprochen werden kann.

Schon im letzten Band seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (der 2008 erschienen ist) präsentierte Wehler, Begründer einer Bielefelder Schule der Sozialgeschichtszuschreibung, ein schonungsloses Bild von der Klassenstruktur der Bundesrepublik.

Aufgrund der Krisenexzesse hat sich die Situation noch zugespitzt. Es macht sich jedoch auch ein neuer Realitätssinn bemerkbar. Seitdem sie unübersehbar geworden sind, haben die gesellschaftlichen Verarmungs- und Entwurzelungsprozesse auch die Aufmerksamkeit von Teilen der akademischen Soziologie gefunden. Jedoch wäre sie nicht bürgerliche Wissenschaft, wenn sie in ihrem Haupttrend nicht bemüht wäre, von der klassentheoretischen Determinanten des sozialen Abwärtssogs abzulenken. Ihre Aktivität besteht in Gestalt einer Prekaritätsforschung hauptsächlich in der (oft hilfreichen) Beschreibung der sozialen Desintegrationsprozesse. Analysen der (klassengesellschaftlichen) Ursachen sind dagegen selten. In abwiegelnder Absicht wird gesagt, daß die neuen Unterklassensegmente sich »nicht so ohne weiteres durch positive Bestimmungen in die herkömmlichen Klassen- und Schichtenmodelle einfügen« ließen.

Wehlers Bestandsaufnahme dagegen ist eindeutig und wissenschaftlich fundiert. Sein Buch ist geeignet, das herrschende Verharmlosungs- und Schweigekartell in Politik und Sozialwissenschaften zu durchbrechen.

Die soziale Spaltung hat zugenommen: Auf der einen Seite wurde der prekäre Arbeitssektor ausgeweitet und die soziale Verunsicherung hat sich verallgemeinert, während gleichzeitig der Wohlstand einer kleinen Gruppe weiter gestiegen ist: Nur das oberste Zehntel der BRD-Bevölkerung hat sich im letzten Jahrzehnt über relevante Einkommenszuwächse erfreuen können. Ihm hat also auch die Krise nicht viel anhaben können. Anfängliche Verluste sind mehr als kompensiert worden. Für dieses Resultat haben diverse »Rettungsmaßnahmen« gesorgt, die unmittelbar dem Bankensystem zugute kamen, aber in letzter Konsequenz die Vermögen der Geldelite gerettet haben. Bezahlt werden müssen sie von der Arbeiter- und Lohnabhängigenklasse!

Die Zahl der BRD-Reichen, die über flüssige Geldmittel von mehr als eine Million Dollar verfügen ist 2011 auf 924000 gestiegen – gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 7,2 Prozent.

Die Verarmungsdynamik ist ebenso wie die Reichtumsexplosion Ausdruck der Klassenverhältnisse, so lautet die zentrale Aussage Wehlers. Er will zwar den Marxschen Klassenbegriff nicht uneingeschränkt gelten lassen, ihn durch Erweiterungen Max Webers »bereichern«. Doch mit seinen »Ergänzungsvorschlägen« rennt Wehler offene Türen ein. Die heutige marxistische Forschung ist nämlich weit davon entfernt, die soziale Strukturierung nur rein ökonomisch zu definieren. Aber es bleibt ein entscheidender Unterschied: Bei einem realistischen Verständnis der klassengesellschaftlichen Verhältnisse können beispielsweise kulturelle oder auch geschlechtsspezifische Benachteiligungen nicht im Sinne der Weberschen »Anregungen« als weitgehend selbständige Komplexe begriffen werden: Sie sind selbst wiederum Ausdruck eines ökonomischen Vermittlungsverhältnisses, das mit einer Reduktion von Lebenschancen verbunden ist.

Dennoch: Wehlers Buch ist nicht nur geeignet, die sozialwissenschaftliche Manipulationsstrategien zu unterlaufen, sondern auch die Fälschungsbemühungen der Bundesregierung bei der Konzipierung des letzten »Armutsberichts« zu entlarven: Die Vermögen in der BRD sind nicht nur höchst ungleich verteilt, sondern die Ungleichheit hat eklatant zugenommen. Was bei Wehler nicht mit der nötigen Klarheit herausgestellt wird, ist die Tatsache, daß damit die Macht der herrschenden Klasse weiter gestärkt wurde und ihre sozialdestruktive Handlungspotenz sich erweitert hat. Mit ihrem Reichtum, der ja im Kern nichts anderes als angehäufte Verfügungsgewalt über Menschen, Betriebe, Konzerne, Regionen und zunehmend auch über ganze Länder und Kontinente ist, kann sie noch intensiver als bisher deren Zukunftsperspektiven negativ beeinflussen. Diese Tatsache ist das Hauptargument gegen die Klassenverhältnisse.

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung - Soziale Ungleichheit in Deutschland. C H Beck Verlag, München 2013, 192 Seiten, 14,95 Euro

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