Mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor
Studie von Dr. Wilhelm Adamy, DGB-Bundesvorstand - Reinhold Schramm (Bereitstellung)
DGB-Studie: Vollzeitbeschäftigte mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor
[Eine gekürzte und modifizierte Übernahme, vgl. Quelle]
In den letzten 10 20 Jahren hat sich die Ungleichheit auf dem Arbeits- und Menschenmarkt deutlich erhöht. Dies gilt sowohl für die Stabilität und Qualität der Arbeit wie die Verdienstmöglichkeiten. Immer mehr Menschen müssen für wenig Geld arbeiten. In diesem wachsenden Niedriglohnsektor sind insbesondere atypisch und prekär Beschäftigte tätig. Bereits 2006 bezog fast die Hälfte aller atypisch Beschäftigten einen Bruttoverdienst unterhalb der statistischen Niedriglohngrenze. Beschäftigte mit Berufsausbildung sind gleichfalls davon betroffen.
Umfang des Niedriglohnsektors bei Vollzeitbeschäftigten
In 2010 waren insgesamt 4,66 Mio. Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohn beschäftigt. Damit zählten insgesamt 22,8 Prozent der Vollzeitbeschäftigen die Auszubildenden nicht mitgezählt zu den Geringverdienern. Die bundesweite Niedriglohnschwelle für diese Vollzeitbeschäftigten lag Ende 2010 bei einem Bruttoentgelt von 1.802 Euro pro Monat; Sonderzahlungen wie Urlaubs-oder Weihnachtsgeld sind darin bereits berücksichtigt.
Anknüpfend an internationale Analysen wird hier die Niedriglohnschwelle von 2/3 des nationalen Medianlohns zugrunde gelegt. Diese Niedriglohngrenze wird u. a. auch von der OECD, der Internationalen Arbeitsorganisation und in der Wissenschaft häufig verwendet. Sie definiert Niedriglöhne im Verhältnis zur Verteilung der Verdienste aller Beschäftigten hier eingegrenzt auf sozialversicherte Vollzeitbeschäftigte.
Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte einer Zahlenreihe liegt. Bezüglich der Lohnverteilung grenzt er die Beschäftigten in zwei gleiche Teile, die jeweils mehr bzw. weniger als den Medianlohn verdient. 50 % aller Beschäftigten beziehen ein Entgelt unterhalb des Medians und 50 % mehr oder genau in Höhe des Medians. Der Niedriglohn ist dann der Lohn, der um ein Drittel unter der Mitte der Lohnverteilung liegt. Grundlage der Berechnung ist hier die Entgeltstatistik der BA, die auf den Meldeverfahren zur Sozialversicherung beruht. Sie stellt eine bundesweite Vollerhebung aller sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten dar und keine Stichprobe wie bei vielen anderen Untersuchungen. Bruttoentgelte konnten nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze einbezogen werden. Zu den Niedriglohnempfängern zählen alle jene mit einem Bruttoeinkommen von weniger als zwei Drittel des Medianeinkommens. Neben Urlaubs-und Weihnachtsgeld werden auch Mehrarbeitszuschläge, Zulagen, Abfindungen, Gratifikationen, Familienzuschläge, etc. anteilig berücksichtigt. In die Berechnungen wurde das gemeldete Brutto-Entgelt zur Sozialversicherung und nicht nur die tarifliche Entlohnung eingestellt. Auswertbare Daten lagen 2010 für 20,499 Millionen sozialversicherte Beschäftigte mit Vollzeitarbeit (ohne Auszubildende) vor.
Rund zwei Drittel der Vollzeitbeschäftigten sind in den alten Bundesländern erwerbstätig und ein Drittel in den neuen Ländern. Misst man ihr Gewicht am unterschiedlichen Beschäftigungsniveau in beiden Landesteilen, so ist der Niedriglohnanteil im Osten gut doppelt so hoch wie im Westen. Bei einer bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle lagen 2010 im Westen knapp 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten unter dieser Schwelle gegenüber 40 Prozent im Osten.
Im Westen 1.890 Euro und im Osten nur 1.379 Euro für die Niedriglohnberechnung.
Verwendet man hingegen für beide Landesteile getrennte Schwellen, ergeben sich deutlich abweichende Grenzwerte. Damit wird dem Lohngefälle von West nach Ost und dem jeweiligen Preisniveau besser Rechnung getragen. Unterhalb von zwei Dritteln des westdeutschen Medians lagen dann 2010 im Westen Bruttolöhne von 1.890 Euro monatlich. Unterhalb von zwei Dritteln des ostdeutschen Medians lagen 2010 im Osten Bruttolöhne von 1.379 Euro. Betrachtet wird folglich nur das Lohngefälle innerhalb der beiden Landesteile und nicht mehr das gesamtdeutsche Gefälle insgesamt. Der Niedriglohnanteil liegt im Osten dann (mit 21,1 %) deutlich niedriger, aber immer noch leicht über dem westdeutschen Wert mit 20,8 %.
Entwicklung des Niedriglohnsektors
Innerhalb des letzten Jahrzehnts ist der Anteil der Geringverdiener unter den Vollzeitbeschäftigten bundesweit deutlich gestiegen von 19,0 Prozent in 1999 auf 22,8 Prozent in 2010. Stetig erhöhte sich das Gewicht des Niedriglohnsektors, lediglich im Jahr 2009 stagnierte der Anteil infolge des überdurchschnittlichen Personalabbaus. In 2010 stieg die Rate nochmals an.
Im Zeitablauf zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. So hat sich der Niedriglohnsektor im Osten bis 2003 deutlich ausgeweitet, während der relative Anteil seit Mitte des letzten Jahrzehnts weitgehend stagniert. Im Westen hingegen ist ein stetiger Anstieg bis 2007 zu beobachten, der im Zeitraum von 2003 bis 2006 besonders stark war; in der Krise 2008 und 2009 waren die Veränderungen relativ gering, bei wieder deutlichen Zuwächsen in 2010. Die Niveauunterschiede zwischen den beiden Landesteilen haben sich kontinuierlich verringert; zwischenzeitlich erreicht das relative Gewicht des Niedriglohnsektors im Westen bei differenzierten Messkonzepten fast schon das Niveau der ostdeutschen Bundesländer.
Absolut stieg die Zahl der Vollzeitbeschäftigten im westdeutschen Niedriglohnsektor von rd. 2,8 Mio. in 1999 auf knapp 3,5 Mio. in 2010; im Osten stieg ihre Zahl im gleichen Zeitraum von knapp 804.000 auf rd. 826.000 Beschäftigte [beachte die Berechnungsgrundlage: West 1.890 Euro, Ost: 1.379 Euro.].
Niedriglohnrisiko und Qualifikationsniveau - auch 100.000 Akademiker im Niedriglohnsektor der Reichtumsgesellschaft
Bei bundeseinheitlicher Niedriglohnschwelle zählten in den neuen Ländern 2010 gut die Hälfte (53,4 %) aller Vollzeitbeschäftigten ohne Berufsausbildung zu den Geringverdienern und 30 % in den altern Ländern; bei jenen mit Fach-und Hochschulausbildung lag die Quote bei 7,9 % (Ost) bzw. 3,5 % (West); absolut waren dies aber gut 100.000 Akademiker, die im Niedriglohnsektor tätig waren.
Auch bei den Vollzeitbeschäftigten mit Berufsabschluss lag die Niedriglohnquote bundesweit 2010 immer noch bei etwa einem Fünftel (19,1 %). Absolut hat sogar die Hälfte der Niedrigentlohnten eine abgeschlossene Ausbildung. Rund 2,4 Mio. Vollzeitbeschäftigte mit beruflicher Ausbildung zählen zu den Geringverdienern. Bei bundeseinheitlicher Betrachtungsweise waren im Osten knapp 40 % der Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor tätig. Das Niedriglohnrisiko war deutlich höher als im Westen, wo 14 Prozent aller sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten mit beruflicher Ausbildung zu einem Niedriglohn beschäftigt wurden.
Differenziert man stärker zwischen Ost und West und legt die jeweils landesspezifischen Niedriglohnschwellen zugrunde, zeigt sich folgendes Bild: Im Westen zählen dann 16,0 % aller sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung zu den Niedriglohnbeschäftigten, die monatlich weniger als 1.890 Euro brutto verdienten. Im Osten lag die Niedriglohnschwelle demgegenüber bei 1.379 Euro im Monat; immerhin 19,2 % der ostdeutschen Beschäftigten mit Berufsausbildung fielen unter diese Niedriglohnschwelle. -
Zehn Jahre zuvor war das Niedriglohnrisiko in beiden Landesteilen noch deutlich niedriger. Im Westen lag die Quote 1999 bei 13,4 % und bei 17,3 % in den neuen Ländern; die Quote hat sich im Westen noch etwas stärker erhöht als im Osten und folglich die Unterschiede leicht verringert.
Das Ausmaß des Niedriglohnsektors kann nicht allein auf eine unzureichende Qualifikation zurückgeführt werden
Das Ausmaß des Niedriglohnsektors kann mehrheitlich nicht allein auf eine unzureichende Qualifikation der Beschäftigten zurückgeführt werden. Richtig ist allerdings, dass beruflich Qualifizierte längst nicht immer qualifikationsgerecht beschäftigt werden oder eine Tätigkeit im erlernten Beruf finden. Qualifikationsinadäquate Beschäftigung geht schnell mit Dequalifizierung einher und entwertet erworbene berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten und kann sog. Fachkräftemangel begünstigen.
Berufliche Qualifikation ist zwar ein wichtiger Faktor, der die Verdiensthöhe positiv beeinflussen kann. Je höher die Qualifikation, desto niedriger ist grundsätzlich auch die Wahrscheinlichkeit, auf eine schlechte Bezahlung verwiesen zu sein. Niedrigentlohnung für Vollzeitbeschäftigte mit Berufsabschluss ist aber keinesfalls eine Seltenheit mehr. Auch in den alten Bundesländern ist ein Siebtel der Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor tätig; im Vergleich zu jenen ohne Berufsabschluss ist das Niedriglohnrisiko aber nur etwa halb so hoch.
Innerhalb des Beobachtungszeitraums hat sich das Niedriglohnrisiko für alle Qualifikationsstufen in beiden Landesteilen erhöht; besonders stark zugenommen hat dieses Risiko für die Geringqualifizierten in den alten Ländern, absolut hat ihre Zahl aber abgenommen; da zugleich die generellen Beschäftigungschancen für diese Personengruppen noch stärker reduziert wurden, hat für die verbleibenden Beschäftigten die Niedriglohnproblematik noch an Gewicht gewonnen; dies gilt auf leicht niedrigerem Niveau auch für jene mit Berufsabschluss in den ostdeutschen Ländern. Absolut wie anteilmäßig sind hingegen Zuwächse bei westdeutschen Beschäftigten mit beruflicher Ausbildung sowie in Ost und West bei Akademikern festzustellen. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten stieg hier stärker als die generellen Beschäftigungschancen für diese Personengruppen, was zu einem steigenden Niedriglohnanteil führte.
Bemerkenswert ist, dass sich die steigende Zahl der Niedriglohnempfänger mit Berufsabschluss auf die alten Bundesländer konzentriert, während sie sich in den neuen Ländern im Zeitablauf und zwar seit Mitte des letzten Jahrzehnts leicht vermindert; sie liegt hier aber immer noch auf einem deutlich höheren Niveau. Neben dem generell niedrigeren Lohnniveau und dem oftmals höheren Anteil der ostdeutschen Beschäftigten mit Berufsabschluss dürfte dies sicherlich durch den mit dem Einigungsprozess einhergehenden Qualifikationsverlust bei einem Teil der ostdeutschen Arbeitskräfte beeinflusst werden.
Frauen mit Berufsabschluss deutlich höheres Risiko für Niedriglohnbeschäftigung
Für die Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung zeigen sich zugleich starke geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen mit Berufsabschluss haben ein deutlich höheres Risiko, nur eine Niedriglohnbeschäftigung zu finden, als Männer. Auffallend ist aber ebenso, dass bei den Männern ein deutlich stärkerer Anstieg in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen ist. Der Anteil der im Niedriglohnsektor beschäftigten Männer mit Berufsausbildung ist innerhalb von zehn Jahren doppelt so stark gestiegen wie bei den Frauen.
Die Lohnungleichheit ist sowohl im unteren als auch im oberen Bereich der Erwerbseinkommen gestiegen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine IAB-Untersuchung zur generellen Entwicklung der qualifikationsspezifischen Lohnunterschiede. Danach konnten Hochqualifizierte teilweise deutliche Reallohnzuwächse verzeichnen, während Geringqualifizierte "seit etwa 1990 Reallohnverluste hinnehmen (mussten), die sich ab 2005 nochmals verstärkten" (vgl. Quelle). Die Kaufkraft der Löhne für Geringqualifizierte ist auf das bereits Mitte der 1980er Jahre erreichte Niveau zurückgefallen. Von der zwischenzeitlichen Wohlstandssteigerung konnten sie nicht profitieren. "Auch Personen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung verzeichneten zwischen 1990 und 2003 keine Reallohnzuwächse und mussten danach ebenfalls einen Rückgang hinnehmen" (vgl. Quelle).
Die realen Verdienste von Universitätsabsolventen sind demgegenüber seit 1984 um etwa 22 Prozent gestiegen.
Die hohe Zahl und der steigende Anteil an Niedriglohnempfängern mit Berufsabschluss passen nicht zu den Klagen der BDA-Unternehmerverbände über Fachkräftemangel. Sie sind eher Indiz dafür, dass die Qualifikationspotentiale vieler Niedriglohnempfänger nicht adäquat abgerufen werden bzw. nicht qualifikationsgerecht vergütet werden.
Branchenspezifischer Niedriglohnsektor
Die Wahrscheinlichkeit, ein Entgelt unterhalb der jeweiligen Niedriglohnschwelle zu erhalten, steht in engem Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit und der Branche, wo man arbeitet. Das Niedriglohnrisiko in den Dienstleistungsberufen ist überdurchschnittlich hoch. Vergleicht man beide Landesteile, so ist das Phänomen des Niedriglohnsektors im westdeutschen Dienstleistungssektor noch von etwas größerer Bedeutung als im Osten. 23,5 % aller den Dienstleistungsberufen zugeordneten Vollzeitbeschäftigten lagen mit ihrem Bruttoverdienst unterhalb der westdeutschen Niedriglohnschwelle; absolut waren dies gut 2,3 Mio. Vollzeitbeschäftigte. Der [kapitalistische] Strukturwandel hin zu den Dienstleistungsberufen trägt folglich unmittelbar zur Ausbreitung des Niedriglohnsektors bei.
Bei einer differenzierteren Betrachtung der Wirtschaftszweige werden noch größere Unterschiede sichtbar. In der Land-und Forstwirtschaft liegt der Bruttolohn von über 50 % der westdeutschen Vollzeitkräfte unter der dortigen Niedriglohnschwelle. Im westdeutschen Handel, dem Gastgewerbe sowie dem Verkehrs-und Kommunikationssektor liegt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten insgesamt bei 27,6 % (Osten = 28,3 % - siehe auch die geringere Berechnungsgrundlage für Ostdeutschland). Im Produzierenden Gewerbe liegt die Niedriglohnquote deutlich niedriger und zwar bei 10,4 % im Westen und 12,5 % im Osten. Das Niedriglohnrisiko in diesem Wirtschaftszweig ist damit nicht einmal halb so hoch wie im dienstleistungsorientierten Handel, Gast-und Verkehrssektor. Dabei sind diese Dienstleistungsbranchen meist auf den Binnenmarkt ausgerichtet und das Produzierende Gewerbe ist stärker exportorientiert; auch wenn diese Betriebe in einem schärferen internationalen Wettbewerb stehen, wird viel seltener so schlecht entlohnt als in Dienstleistungsbranchen.
Eine ergänzende Auswertung des Statistischen Bundesamtes ermöglicht eine feingliedrigere Betrachtung der Wirtschaftszweige. Besonders hoch war danach der Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit Niedriglohn bei Friseurinnen und Friseuren (85 %), Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern (77 %), Beschäftigten in Wäschereien und chemischen Reinigungen (65 %), der Gastronomie (63 %), Hotellerie (61 %) sowie in der Gebäudereinigung (56 %). Zu berücksichtigen ist dabei, dass Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten hier nicht einbezogen sind, die tendenziell einen etwas höheren Anteil an Niedriglöhnern haben.
Kaum Aufstiegschancen für Niedriglohnverdiener
Für die [BDA-Lobby-Parteien-Regierungs- und Parlaments-] Befürworter des Niedriglohnsektors sind Niedriglöhne Einstiegslöhne, die Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte eröffnen. Tatsächlich jedoch hat die Mehrzahl der Niedriglohnempfänger eine abgeschlossene Berufsausbildung. Zudem sind die Arbeitsverhältnisse im unteren Entlohnungsbereich häufig instabil und das Risiko der Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch; dies fördert keinesfalls eine längerfristige und aufstiegsorientierte Eingliederung. Oftmals wird ausgeblendet, dass Normalverdiener nicht nur in den Niedriglohnsektor abrutschen, sondern auch arbeitslos werden könnten. "Die meisten neu hinzukommenden Geringverdiener waren im Jahr zuvor übrigens keineswegs arbeitslos", so Möller. (Vgl. Quelle.)
IAB-Untersuchungen auf Basis von Sozialversicherungsdaten zeigen ein relativ pessimistisches Bild. In einer Verbleibanalyse zeigte sich, dass nur gut ein Achtel der Geringverdiener/innen im untersuchten Sechs-Jahres-Zeitraum als Vollzeitbeschäftigte der Niedriglohnfalle entkommen konnte. Jüngere, besser ausgebildete Geringverdiener sowie Männern gelang der finanzielle Aufstieg dabei eher als Frauen, Älteren und Geringqualifizierten.
Die Ergebnisse auch anderer Studien geben klare Hinweise darauf, dass eine Niedriglohntätigkeit nur vergleichsweise selten als Sprungbrett zum Aufstieg in eine bessere Verdienstmöglichkeit genutzt werden kann. So verweist Kalina (IAQ) darauf, dass auch nach dem sozioökonomischen Panel der Aufstieg aus dem Niedriglohnsektor zwischen 2000 und 2005 lediglich einem Sechstel der Vollzeitbeschäftigten gelang, während 32 Prozent weiterhin im Niedriglohnsektor arbeiteten (Vgl. Quelle). Eine weitere IAB-Untersuchung aus 2005 kommt zu dem Ergebnis, dass "die Aufstiegsmobilität in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zurückgegangen (ist). Dieser Trend stellt auch im internationalen Vergleich eine Besonderheit dar." (8, vgl. Quelle)
Eine aktuelle Studie zu Berufswechslern in Deutschland und Großbritannien zeigt gleichfalls, dass berufliche Mobilität längst nicht immer mit besseren Einkommenschancen einhergeht. Vielmehr gehen "bei einem Berufswechsel in Deutschland in der Regel Einbußen in Lohnwachstum voraus, gleichgültig, ob es sich um einen freiwilligen Wechsel handelt oder nicht. Nach dem Wechsel steigen die Löhne zwar wieder, die Entwicklung bleibt aber hinter der bei den Nichtwechslern zurück." (9, vgl. Quelle). An anderer Stelle schreiben die Autoren, dass der Berufswechsel in Deutschland vorrangig den Hochqualifizierten hilft; "die Gehaltseinbußen, die man vor dem Berufswechsel in den aggregierten Daten findet, gehen (hingegen W. A.) nahezu ausschließlich auf Personen ohne Berufsausbildung zurück".(10, vgl. Quelle)
Insgesamt legen die Studien meist nahe, dass Niedriglohnbeschäftigte mehrheitlich in diesem Sektor für längere Zeit "gefangen" sind bzw. nur eine instabile Integration gelingt mit wechselnden Phasen von Niedriglohnbezug, Arbeitslosigkeit bzw. Rückzug vom Arbeitsmarkt. Nur für einen relativ kleinen Teil der Niedriglohnbeschäftigten gelingt der finanzielle Aufstieg.
Armutsgefährdung im Niedriglohnsektor
Auch innerhalb des Niedriglohnsektors streuen die Erwerbseinkommen und es zeigt sich eine deutliche Lohnspreizung. Gut eine Million sozialversicherte Vollzeitbeschäftigte erzielten sogar nur ein Bruttomonatsentgelt von bis zu 1.000 Euro. Dies entspricht einem Anteil von fünf Prozent aller Vollzeitbeschäftigten, wobei Auszubildende erneut nicht einbezogen sind. Etwa ebenso viele Beschäftigte kamen lediglich auf einen Bruttoverdienst von 1.000 1.300 monatlich. In der Einkommensklasse bis 1.300 brutto waren folglich gut zwei Mio. bzw. 10,3 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten tätig. Armutsgefährdung trotz Vollerwerbstätigkeit ist keinesfalls eine zu vernachlässigende Größe.
Ein Bruttoerwerbseinkommen von 1.000 Euro brutto im Monat unter Berücksichtigung aller anteiligen Sonderzahlungen verteilt auf 12 Monate entspricht bei einer 38,5 Std./Woche einem Stundenlohn von nur etwa 6 brutto die Stunde; bei einem Bruttoerwerbseinkommen von durchschnittlich 1.300 liegt der Stundenlohn bei 7,85 , von dem noch Sozialabgaben und evtl. noch Steuern gezahlt werden müssen. Zwar hat sich die Zahl jener Vollzeitbeschäftigten am unteren Ende der Armutslöhne mit weniger als 1.000 Euro brutto im Monat im Zeitablauf verringert und zwar um 17,4 Prozent im Beobachtungszeitraum. Dies kann allerdings keinesfalls beruhigen, wenn man gleichzeitig einen Anstieg des Verbraucherpreisindex von 18 Prozent berücksichtigt.
Nominal verdienen in einzelnen Branchen überdurchschnittlich viele Vollzeitbeschäftigte allenfalls bis zu 1.000 brutto im Monat. Im westdeutschen Einzelhandel waren dies Ende 2010 beispielsweise 8,1 Prozent aller Vollzeitkräfte, bei Post-und Kurierdiensten 6,3 Prozent, in der Gastronomie sogar 26,5 Prozent, bei Rechts-und Steuerberatern 7,0 Prozent, in der Leiharbeit 4,9 Prozent, bei Reisebüros 6,9 Prozent, bei Wach-und Sicherheitsdiensten 6,7 Prozent, im Gesundheits- und Sozialwesen 6,8 Prozent.
Ein niedriger Verdienst führt nicht zwangsläufig zu Armut bzw. Armutsgefährdung sondern erst dann, wenn das gesamte verfügbare Haushaltseinkommen die Existenzsicherung nicht sicherstellen kann. Die Erwerbssituation muss deshalb im Haushaltszusammenhang gesehen werden und neben dem Nettoverdienst auch andere Einkommensbestandteile wie Transferleistungen und die Größe des Haushalts sowie das Alter von Kindern berücksichtigen.(11, vgl. Quelle) Wird das Haushaltseinkommen von mehreren Niedriglohnempfängern erwirtschaftet, ist das finanzielle Armutsrisiko deutlich niedriger als für Alleinverdiener mit relativ niedrigem Verdienst. Etwa zwei Fünftel übt nur eine Erwerbstätigkeit aus und ein ebenso großer Anteil lebt in Haushalten mit mindestens einem/einer weiteren Vollzeitkraft.
In Gut 13 Prozent der Haushalte wird neben einem Normalarbeitsverhältnis mindestens eine atypische Beschäftigung ausgeübt, wozu auch befristete Beschäftigte zählen. Auch bei Niedriglohnempfängern dürfte das Haushaltseinkommen oftmals durch Erwerbseinkommen weiterer Haushaltsmitglieder oder einem Zweit-oder Drittjob von Geringverdienern aufgestockt werden. Das verfügbare Haushaltsnettoeinkommen sinkt daher nicht so schnell unter die Armutsschwelle wie bei Haushalten mit nur einem oder mehreren atypisch Beschäftigten. Soweit nicht mehrere Erwerbstätige zur Existenzsicherung beitragen können, ist die Armutsgefährdung für Vollzeitbeschäftigte keinesfalls gering; das zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes für 2008. Danach betrug das Armutsrisiko für Normalarbeitnehmer ohne weitere Erwerbstätige im Haushalt sechs Prozent. Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch Vollzeitbeschäftigte mit befristetem Arbeitsvertrag bzw. der Leiharbeit nicht einbezogen sind, die ein relativ hohes Verarmungsrisiko haben.
Als armutsgefährdet gilt nach der Definition der Europäischen Union und den vom Statistischen Amt der EU (Eurostat) empfohlenen Schwellenwerten jene als arm, die in einem Haushalt leben, dessen Aquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Einkommen in der gesamten Bevölkerung beträgt. Um die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar zu machen, werden alle haushaltseinkommen unter Bedarfsgesichtspunkten gewichtet und auf Pro-Kopf-Einkommen umgerechnet. (Vgl. Quelle)
Schlussbemerkung aus der DGB-Studie
»Die Einkommensunterschiede zwischen den Erwerbstätigen vergrößern sich. Insbesondere die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkommen steigen; aber auch bei den Arbeitnehmereinkommen [Merke: Die Lohnabhängigen, die ArbeiterInnen/Angestellten etc. geben, die UnternehmerInnen etc. nehmen! - R. S.] hat sich die finanzielle Schere zunächst schleichend und in den letzten Jahren sichtbar geöffnet.
Prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit und Minijobs breiten sich aus, die häufig zu niedrigen Stundenlöhnen arbeiten. Doch auch bei Vollzeitkräften sind niedrige Verdienste keine Seltenheit (mehr).
Geringe Bezahlung und unsichere längerfristige Perspektiven sind keinesfalls auf Randbereiche des Arbeitsmarktes begrenzt, sondern erfassen teils auch Kernzonen der Arbeitswelt. In einzelnen Branchen wie der Gastronomie, der Leiharbeit, der Gebäudereinigung oder auch der Zahnarztpraxen sind 60 Prozent und mehr der Vollzeitkräfte im Niedriglohnsektor tätig. Von diesen Veränderungen sind vor allem Beschäftigte ohne berufsqualifizierenden Abschluss negativ betroffen. Fast ein Drittel dieser Beschäftigtengruppe ist im Niedriglohnsektor tätig. Doch absolut haben viermal mehr Niedriglohnempfänger eine Berufsausbildung.
Beschäftigte mit Berufsausbildung stellen die Mehrzahl der Niedriglohnempfänger. Trotz beruflicher Qualifizierung hat sich der Anteil der qualifizierten Arbeitskräfte mit niedriger Bezahlung nahezu kontinuierlich erhöht. Auch eine berufliche Qualifizierung schützt längst nicht in jedem Fall vor schlechter Entlohnung. Insgesamt sind etwa 600.000 Vollzeitbeschäftigte mehr im Niedriglohnsektor tätig als noch in den Jahren von 1999 bis 2004/2005.
Der Niedriglohnsektor ist bei uns in den letzten Jahren weit stärker expandiert als in der Mehrzahl der OECD-Länder.
Die wachsende Ungleichheit bei deutschen Erwerbseinkommen geht einher mit einer steigenden Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Die Chancen, aus dem Niedriglohnsektor in besser bezahlte Jobs aufzusteigen, sind relativ gering und haben sich im Zeitablauf eher verschlechtert. Billiglöhne sind keinesfalls die Eintrittskarte in einen arbeitsmarktpolitischen Aufzug nach oben. Viel häufiger als der Einstieg in besser bezahlte Tätigkeiten ist eine Verfestigung der Niedriglohnfalle bzw. steigende Instabilität mit häufigem Wechsel zwischen schlechter Entlohnung, Arbeitslosigkeit und vorübergehendem Rückzug vom Arbeitsmarkt.
Der Niedriglohnsektor ist kein breites Sprungbrett für gute Arbeit, sondern droht vielmehr die Armutsgefährdung zu erhöhen. Zwar sind Vollzeitbeschäftigte weniger von Armut bedroht als andere Erwerbsgruppen, doch steigt die Armutsgefährdung auch bei ihnen. Die Belebung des Arbeitsmarktes hat daran bisher nichts ändern können.
Die Ungleichheit der Einkommen geht aber nicht nur mit einer Zunahme der Erwerbstätigen am unteren Ende einher, sondern zugleich mit einem wachsenden Anteil der Bevölkerung am oberen Ende der Einkommensskala. Während man unten oftmals reale Einbußen verkraften muss und finanziell den Gürtel eher enger schnallen muss, konzentriert sich Wachstum stärker auf die oberen Schichten bzw. jene, die sehr gerne Enthaltsamkeit bei anderen predigen.
Die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens verändert sich, wenn sich die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen weiter verschärft und viele im Niedriglohnsektor "gefangen" bleiben.« (Vgl. DGB-Studie von Wilhelm Adamy)
Quelle: 21.11.2012, DGB-Bundesvorstand: Risiko Altersarmut: Immer mehr qualifizierte Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Studie von Dr. Wilhelm Adamy.
DGB-Studie: Vollzeitbeschäftigte mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor (PDF)
»Wer weniger als 2.500 Euro brutto pro Monat verdient, dem droht selbst nach 35 Jahren Vollzeitbeschäftigung Altersarmt. Diese könnte zum Massenphänomen werden. Denn laut einer aktuellen DGB-Studie rutschen immer mehr sozialversicherte Beschäftigte mit Vollzeitjob [Vollzeitarbeit] und Berufsabschluss in den Niedriglohnbereich.«
www.dgb.de/themen/++co++ad7aedf2-33c1-11e2-ab3a-00188b4dc422
VON: DR. WILHELM ADAMY - REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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